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Rezension zu
Charlotte Salomon

Leben wie ein Theaterstück

Von: daslesendesatzzeichen
05.07.2017

Ein kleines Déjà-vu-Erlebnis wird sich bei allen einstellen, die bereits die Rezension „Malen gegen den Wahnsinn“ hier bei uns auf dem Blog gelesen haben, denn auch in dieser Buchbesprechung geht es um die Berliner Malerin Charlotte Salomon. Das liegt weniger daran, dass neue Ideen fehlen oder etwa der Buchstoff ausgehen würden, sondern vielmehr an der Tatsache, dass die Persönlichkeit dieser Künstlerin sehr beeindruckend ist. Der Roman „Charlotte“ von David Foenkinos hatte mich zutiefst berührt. Zwar lässt er einige biografische Details weg und bläst andere ein wenig künstlerisch (nicht künstlich!) auf, das wird jedoch durch die großartige atmosphärische Dichte des Textes wettgemacht. Es gibt nichts, was ich an diesem wunderbaren Buch verändern wollen würde! Die biografischen „Leerstellen“, die beim Roman vorhanden sein mögen, werden von dem mir nun vorliegenden Titel „Charlotte Salomon – ‚Es ist mein ganzes Leben‘“ von Margret Greiner auf bestmögliche Weise gefüllt. Ein dickes Dankeschön am Rande an marinabuettner, die mich durch einen Kommentar auf unserem Blog auf dieses Buch aufmerksam gemacht hat und die es ebenfalls rezensiert hat. Margret Greiner ist von Haus aus Germanistin und Historikerin, keine Kunsthistorikerin, und so handelt sich bei dem Text auch nicht um ein Fachbuch, sondern um eine gut geschriebene Biografie. Die Tatsache, dass sie angenehm zu lesen ist, tut dem fundierten Inhalt jedoch keinerlei Abbruch. Im Gegenteil! Bestens recherchiert und mit Fakten vollgepackt, gibt Margret Greiner Einblicke in das Leben und Lieben der jüdischen Künstlerin, die im Berlin der Zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts aufwuchs. 2017 im April jährte sich ihr Geburtstag – ein schöner Anlass, aufgrund dessen sich einige Menschen eingehender mit ihr befasst haben. Die Eckpunkte des Lebens der Charlotte Salomon sind schnell erzählt: Sie erlebte das gleiche traurige Schicksal wie viele andere jüdische Zeitgenossen, wurde in die Flucht getrieben, schaffte es nach Südfrankreich, wo sie sich einige Zeit in Sicherheit wähnte. 1943 wurde Charlotte, die sich in einem leerstehenden Schloss versteckte, verraten und in ein KZ gebracht. Im Alter von 26 Jahren wurde sie ermordet. Die Künstlerin trug ein Kind unter ihrem Herzen. Bereits als Teenager hatte Charlotte mit ersten Gängeleien durch Antisemiten zu kämpfen, wirklich einschneidend wurde es jedoch, als sie an der Berliner Hochschule für die Bildenden Künste aufgenommen wurde. Dies kam eh schon einem kleinen Wunder gleich, da man das Jahr 1936 schrieb und nur wenige Juden überhaupt noch an deutschen Hochschulen zugelassen wurden. Seit 1933 gab es ein Gesetz, das regelte, dass nur ein verschwindend geringer Anteil der Studierenden jüdischen Ursprungs sein durften – man wollte die Plätze den arischen Studenten frei halten. Durch eine Kommilitonin bekam Charlotte Salomon Zugang zu der ihr noch völlig fremden Welt von Cézanne, Matisse, Monet, Manet und Chagall. Gemeinsam durchforsteten sie die in der Institutsbibliothek vorrätigen Bände über die modernen Maler. So viel Energie, die von diesen Bildern ausging, so viele neue Reize, Impulse, Anregungen, die sie bargen. Charlotte war wie verzaubert. Doch dann, eines Tages, waren all diese Bücher fort – eine riesige Lücke klaffte im Regal des Lesesaals. Die Krallen der Nazis wurden immer weiter ausgefahren, das Netz der Gefahr, das sich auch über Charlotte Salomon legte, zog sich immer enger um sie. Schließlich wurde sie sogar von einem Professor gewarnt: "Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber als Jüdin können Sie nach der Auffassung unserer neuen Chefideologen nur noch entartete Kunst produzieren, selbst wenn Sie einen Löwenzahn im Stil Dürers malen." Der Gipfel aller Absurdität wurde jedoch erreicht, als am Ende des Sommersemesters 1937 die Preisverleihung eines hochschulinternen Wettbewerbs anstand. Charlottes Stilleben war der Favorit der Kollegen gewesen – dazu kam es, weil die Bilder anonym eingereicht worden waren. Als der ihr wohlgesonnene Professor bemerkte, dass das Werk seiner einzigen jüdischen Studentin gewinnen würde, musste er in den sauren Apfel beißen und die Jury über die Sachlage aufklären. Man einigte sich darauf, den Preis lieber einer arischen Studentin mit mittelmäßigem Talent zu geben, um kein Ärgernis heraufzubeschwören. Als Charlotte das erfuhr, war ihr Entschluss schnell gefasst: Sie würde niemals mehr einen Fuß in diese Hochschule setzen. Parallel zu ihrer künstlerischen Krise durchlebte sie auch seelisch turbulente Zeiten. Freilich, als eine Krise hätte sie das zu dem Zeitpunkt niemals bezeichnet, denn: Charlotte Salomon war verliebt. Amadeus Daberlohn, ein selbsternannter Gesangslehrer, der ihre Stiefmutter Paula Lindberg auf äußerst unkonventionelle Weise unterrichtete, hatte ihr Herz erobert. Verdient hatte er es nicht, denn er hatte eine Verlobte – die er nicht versteckte -, er betete Paula Lindberg an – womit er nicht hinterm Berg hielt – und er verführte generell sämtliche seiner Schülerinnen. Doch Charlotte war blind vor Liebe und sog alle Eindrücke dieser amour fou in sich auf. Wo Foenkinos auf Emotionen setzt, bedient Greiner sich nüchterner, sachlicher Beschreibungen. Der Leser wird bei ihr nicht in einen Plot hineingezogen, er bleibt der distanzierte Beobachter, dem die Informationen formschön präsentiert werden. Wo beim Roman verweilt wird, nämlich bei der Liebesgeschichte, schreitet die Biografie rasch weiter. Im echten Leben gibt es auch keine Zeitlupeneinstellung, die die besonderen Momente extra lang oder extra deutlich hervorheben könnte. Im echten Leben spürt man manchmal nicht einmal, dass das, was man gerade erlebt, bahnbrechend ist. Das echte Leben hat auch nie nur Schönes oder nur Schreckliches auf Lager, alles läuft parallel. Während irgendwo Menschen sterben, wird irgendwo anders ein neuer Mensch geboren. Während Charlotte vor Freude über einen schönen Moment mit Daberlohn fast übersprudelt, gärt im Hintergrund der Wahnsinn der Nazis weiter. Die Biografie spiegelt das echte Leben wieder. Sie zieht weiter, unbarmherzig, von der Liebesbeziehung zum Exil, das Charlotte nach Südfrankreich bringt. Denn dort bei den Großeltern soll sie in Sicherheit sein vor den Nazis. Doch die Künstlerin hatte kein leichtes Schicksal. Ihre Großmutter neigte zur Schwermut, es wurde immer schlimmer, und irgendwann stürzte sie sich vor den Augen ihrer entsetzten Enkelin aus dem Fenster. Charlottes Großvater, der im Alter nicht nur verbittert wurde, sondern auch immer häufiger das Bedürfnis hatte, seine Enkelin anzugrapschen, zeugt von erstaunlicher Gefühlskälte, als er ihr in einem Wutanfall vor den Latz knallte, was bis dato alle vor ihr verheimlicht hatten: Nicht nur Charlottes Tante, auch ihre Mutter hatten sich umgebracht. Nicht an Grippe war sie gestorben, wie man der kleinen Charlotte hatte glauben machen wollen, nein, selbstbestimmt in den Tod war sie gegangen. Wie auch der Bruder der Großmutter im Übrigen und die Mutter. Und ja, auch noch die Schwester und deren Mann … und … und … und … "Aller Wahrscheinlichkeit wirst dann du die Achte in Folge sein, die sich umbringt. Das sieht man dir schon an." Für die Künstlerin gibt es nur einen Ausweg, in dieser Herzenskälte zu überleben: Sie flüchtet sich in ihre Malerei. Ihr französischer Hausarzt Georges Moridis rät ihr dazu, sagt, dies sei für sie die einzig sinnvolle Therapieform. Sie malt sich frei, durchlebt alle Stationen ihres bisherigen Lebens noch einmal. Das ist schmerzhaft. Doch diese Katharsis braucht sie, um weiterleben zu können. Sie ahnt zu diesem Zeitpunkt nicht, wie kurz ihr Leben nur noch sein würde … Margret Greiner fügt ihrer liebevoll geschriebenen Biografie einen mehrseitigen Anhang an, mit biografischen Anmerkungen zu den Personen, einer Zeittafel und einem Literaturverzeichnis. Damit rundet sie das Gesamtbild ab und lässt keine Fragen offen. Roman und Biografie lassen sich wunderbar kombinieren. Als Einstieg empfiehlt sich der Roman – wer dann noch fundiertes Wissen zu den Emotionen packen möchte, dem sei „Charlotte Salomon – ‚Es ist mein ganzes Leben‘“ dringend ans Herz gelegt.

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