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Rezension zu
Bis ans Ende der Geschichte

Ein Buch, das mich zutiefst aufgewühlt und bewegt hat

Von: Julia Schwaminger
20.06.2017

Ich muss sagen, dass mich das Buch von Jodi Picoult zutiefst berührt und aufgewühlt hat. Ich fand das Buch eingehend und wichtig und finde, dass es vielleicht sogar als Schullektüre gelesen werden sollte. Aufgrund der Thematik muss ich in diesem Fall auch spoilern. Also, wer das nicht möchte, sollte vielleicht nicht weiterlesen. Der Roman, den ich nicht einmal richtig in ein Genre einordnen kann, beginnt mit der Protagonistin, Sage Singer. Sage könnte aus der Feder einer Alexandra Potter stammen. Man hat das Gefühl, dass sie in die Ecke Romantic Comedy gehört, was den Kontrast zu dem, was folgt, noch brutaler und einschlägiger macht. Aber alles der Reihe nach. Sage hatte vor drei Jahren einen Autounfall, bei dem ihr Gesicht (wie sie findet) durch eine Narbe entstellt und ihre an Krebs leidende Mutter schwer verletzt wurde und bald darauf verstarb. Sie gibt sich die Schuld für den Unfall, zieht sich infolgedessen völlig von der Welt zurück und arbeitet nun als Bäckerin, da sie dies nachts und allein tun kann. Im Laufe des Buches trifft sie einen 95 Jahre alten Deutschen, Josef Weber, der seit fünfzig Jahren unter falschem Namen in der amerikanischen Gemeinde lebt, in der auch Sage aufgewachsen ist. Dieser gewinnt ihr Vertrauen und ihre Freundschaft und bittet sie eines Tages um ihre Hilfe. Er vertraut ihr an, dass er als ehemaliger Nazi während des Zweiten Weltkriegs furchtbare Gräueltaten verübt hat. Er hat Sage ausfindig gemacht, da ihre Familie jüdisch ist, auch wenn sie selbst sich nicht zur Religion bekennt, und er sich von ihr, quasi stellvertretend, Vergebung und den Tod als Gnadenakt erhofft. Sage kann nicht mit dieser Information umgehen, fühlt sich persönlich angegriffen und wird von dieser Offenbarung und der Bitte um Sterbehilfe, bzw. Mord, erst einmal völlig aus der Bahn geworfen. Letztendlich entscheidet sie sich dafür, die Behörden einzuschalten, damit Josef Weber, wie sich der ehemalige KZ-Funktionär seither nennt, strafrechtlich verfolgt werden kann. Dies ruft Leo Stein auf den Plan, der in der US-amerikanischen Bundesbehörde für Kriegsverbrechen im Zusammenhang mit dem Holocaust während des Zweiten Weltkriegs arbeitet. Gemeinsam versuchen Sage und Leo, Josef Weber alias Reiner Hartmann zu überführen. Dabei erzählt Josef aus seiner Vergangenheit, wobei der Leser seine Erzählungen in der Ich-Perspektive erlebt. Dies ist sowohl für Sage, als auch für den Leser schwer zu ertragen, denn Josefs Sichtweise auf seine Taten damals ist durch den Versuch, sein Ziel zu erreichen und Sage zu einem Mord zu überreden, getrübt. So weiß er, dass er ein Monster ist, aber das hindert ihn nicht daran, sich in gewisser Weise rechtfertigen zu wollen. Seine Erzählungen zeigen schonungslos, dass er ein Monster ist, aber immer soll man das Gefühl haben, dass er seine Taten bereut und er durch das Regime und die Strukturen in Nazideutschland in diese Rolle gedrängt wurde. Zu entscheiden, ob und inwiefern der Täter auch Opfer ist, bleibt dem Leser selbst überlassen. Allerdings scheint es Josef völlig egal zu sein, dass er Sage mit seiner Bitte in einen moralischen Konflikt bringt und Wunden aufreißt, von denen sie nicht einmal wusste, dass sie existieren. Er sieht Sage nur als Mittel zum Zweck, sie ist für ihn völlig austauschbar. Die Person hinter der Religion interessiert ihn nicht. Das ist in Sages Augen ein Beweis dafür, dass er auch seit dem Ende des Weltkrieges nicht dazugelernt hat, denn er definiert sie rein über ihre jüdischen Wurzeln. Allerdings hat Sage auch noch eine weitere, sehr persönliche Verbindung zu den Abscheulichkeiten des Holocausts, sowie zu Josef selbst, denn ihre eigene Großmutter, Minka, ist eine Überlebende. Da sie möglicherweise dazu in der Lage ist, Josef als Reiner Hartmann zu identifizieren, bringen Sage und Leo sie dazu, ihre Erlebnisse zu schildern, obwohl sie sich bisher immer geweigert hat, über ihr Martyrium zu sprechen. Und hier beginnt für den Leser wirklich eine tour de force, die keine Graustufen oder moralische Fragen zurücklässt, wie es bei Josefs Erzählungen der Fall war. Minkas Erzählungen zeigen den Holocaust in all seiner Abscheulichkeit und Grausamkeit. Wenn Minka über ihr Leben im Getto von Lodz, Polen, das Schicksal ihrer Familie, ihre Zeit in verschiedenen Konzentrationslagern und den anschließenden Todesmarsch spricht, erschüttert dies den Leser in seinen Grundfesten und am Ende bleiben nur Tränen. Dieses Buch ist in den Erzählungen Minkas so lebendig und anschaulich, dass man sich zu keiner Zeit emotional vorbereiten oder zurückziehen kann. Es wird mit jeder Seite schlimmer und Minka muss mit jedem Tag mehr Leid ertragen. Und als Leser weiß man genau, was kommen wird. Wir wissen, was es bedeutet, wenn Minka aus dem Getto zum Bahnhof gehen muss, um dort in den Zug zu steigen. Wir wissen, welch grausamen Scherz sich die Nazis erlauben, wenn sie Minka anweisen, einen Koffer mitzunehmen, als ginge es für sie in den Urlaub. Wir wissen, was es bedeutet, wenn sie nach Ankunft am „Endbahnhof“ (und ja, mir ist die schreckliche Ironie dieser Formulierung absolut bewusst) in Auschwitz ankommt und sie entweder nach links oder rechts gehen muss. Wir wissen zwar, dass sie überlebt, denn sonst könnte sie uns ihre Geschichte ja nicht erzählen, aber während ihrer Geschichte sitzt uns trotzdem ständig die Angst im Genick, dass sie eines Tages einfach kein Glück mehr haben wird. Wir sind uns trotz aller Logik, die uns sagt, dass Minka diese unfassbare Grausamkeit und Willkür überleben und ein glückliches Leben führen wird, nicht sicher, rechnen jeden Moment damit, dass es Minkas letzter sein könnte. Dass sie die Schreckensherrschaft der Nazis überlebt, ist reines Glück. Ich denke, diese ständige Angst und Ungewissheit, was auf der nächsten Seite passiert, was am nächsten Tag auf Minka zukommen wird, sind beabsichtigt, denn so muss sie sich gefühlt haben. Nie sicher, dass sie die nächsten Tage, die nächsten Stunden oder gar Minuten überleben wird. Diese Atmosphäre allein sorgt für mehr als Unbehagen beim Leser. Dazu kommt noch die brachiale, schonungslose Darstellung der Schicksale von Minkas Familie und Freunden, von denen keiner die Naziherrschaft überlebt. Hier blieb mir vor allem das Schicksal von Minkas Schwester und deren Sohn in Erinnerung und damit einhergehend das Schicksal der Kinder, die ihren Müttern, Vätern, Großmüttern, Großvätern, Tanten, Onkeln, Brüdern und Schwestern entrissen wurden, um im Getto Platz zu schaffen. Minkas Erzählung enthält so viele grausame, unvorstellbare Passagen, dass es mir sehr schwer fällt, dem Ganzen hier gerecht zu werden. Die Tatsache, dass Minkas Geschichte erfunden ist, ändert nichts daran, dass 6 Millionen Menschen ähnliche Schicksale wirklich widerfahren sind, und das macht es umso schrecklicher, diesen Teil des Buches zu lesen. Hinzu kommt, wie ich oben schon angedeutet habe, dass die Passagen von Sage, der Enkelin, von einer ganz andere Atmosphäre gezeichnet sind. Sie könnte aus dem Genre Chick Lit stammen, vor allem, wenn man ihre aufkeimende Liebesbeziehung zu Leo Stein und ihre Affäre mit einem verheirateten Mann betrachtet. Der Kontrast zwischen ihrem Leben und dem ihrer Großmutter ist brutal und schwer zu verdauen. Ich gehe davon aus, dass die Autorin dies absichtlich so gewählt hat, denn es zeigt, wie sich die Welt innerhalb einiger Jahrzehnte verändert hat. Und doch nicht verändert hat, wie Minka einmal selbst anmerkt. So sagt sie, dass die Verbrechen, die damals begangen wurden, in anderen Ländern auch heute noch geschehen. Und wieder kümmert es niemanden. Das ist meines Erachtens auch eine der Fragen, die das Buch aufwirft, ohne sie beantworten zu können. Was hilft es, sich zu erinnern, wenn die Geschichte sich doch wiederholen darf? Was bringt es, den Verbrechern von damals auf der Spur zu bleiben, wenn sie doch ohnehin schon so alt sind, dass sie der Gerichtsbarkeit womöglich nicht mehr zugeführt werden können? Fragen, auf die keiner im Buch eine Antwort hat. Eine andere Frage, mit der sich Sage konfrontiert sieht, ist die Frage, ob Josef es verdient hat, Vergebung zu erfahren. Sie fragt sich aber auch, was es für sie bedeuten würde, wenn sie seiner Bitte nachkommen würde und ihn umbringt. Wird sie damit zu dem gleichen Monster, das er gewesen ist? Ist er noch das gleiche Monster oder hat er sich geändert? Bleibt ein Mensch immer schlecht, weil er etwas Schlechtes getan hat oder können sich die Menschen ändern? Was sagt es über sie aus, wenn sie nicht glauben kann, dass ein Mensch sich ändert? Was sagt es andererseits über sie aus, wenn sie ihm die Bitte verweigert? Ist es falsch von ihr, einem alten Mann seinen Wunsch nach Vergebung zu verweigern? Können Täter auch gleichzeitig Opfer sein? Oder kann man alle Deutschen über einen Kamm scheren, und als Kriegsverbrecher sehen? Macht sie das nicht genauso bigott wie es die Nazis waren? Fragen, auf die Sage keine Antwort hat. Wie sie letztendlich mit diesem Dilemma umgeht, möchte ich nicht verraten. Ich weiß nur, dass ich nichts weiß und nur hoffen kann, dass ich niemals in irgendeine der im Buch geschilderten Situationen komme. Stattdessen tue ich das Einzige, das mir sinnvoll erscheint: Dankbar dafür sein, dass ich in einer sicheren Welt ohne Angst aufwachsen durfte und niemals mit Leid solcher Art in Berührung kam. Und darum beten, dass ich dieses Privileg und Glück niemals verlieren werde. Klare Kaufempfehlung!

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