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Rezension zu
Die Unglückseligen

Wer dem Teufel seine Seele verkauft, kommt selbst drin um

Von: flattersatz
02.05.2016

Thea Dorn, 1970 in Frankfurt/M. geborene Schriftstellerin und TV-Moderatorin (von zumeist bücheraffinen Formaten), hat sich eines (nicht nur) deutschen Themas angenommen und es in die Jetzt-Zeit transferiert: das Faust-Thema, das Suchen nach der letzten Wahrheit, die Sehnsucht nach der Unsterblichkeit und die Bereitschaft, dafür seine Seele zu verkaufen. Unsterblichkeit – sie ist der Natur nicht unbekannt (auch wenn man strenggenommen nur von Langlebigkeit reden dürfte, denn niemand kann mit absoluter Sicherheit wissen, ob nicht morgen… oder spätestens, wenn sich die Sonne zum roten Riesen aufgebläht hat….), sie ist der Natur also nicht unbekannt, es gibt im Tierreich Spezies mit erstaunlichem Regenerationsvermögen für verlorene Gließmaßen, mit der Fähigkeit, alternde und sterbende Zellen durch neue zu ersetzen. Und auch – damit sind wie in media res – dieser seltsame Mensch, Mann, dem Johanna Mawet im Supermarkt begegnet und der in heller Panik vor ihr davon läuft, erzählt ihr, die ihn auf der Rückfahrt auf dem Highway herumirrend fast umfährt, eine seltsame, unglaubliche Geschichte. Dr. Johanna Mawet, Molekularbiologin, Genetikerin, ist auf der Suche nach Unsterblichkeit, bei dem Begriff bleiben wir jetzt einfach, dramatischer doch als Langlebigkeit klingt er… im Bedenkenland wollte man ihr ihre Forschung an Mäusen und Fischen und Menschenzellen nicht genehmigen, also ist sie nach God´s own country ausgewichen, an eins der renommiertesten Institute für derartige Vorhaben. Sie hat das fünfte Lebensjahrzehnt vor kurzem erst angefangen, ist hochintelligent, anstrengend, nervend, ehrgeizig, kompromisslos, zielorientiert mit Schwächen in der Sozialkompetenz. Und dieser heruntergekommene Mann, den sie in eine verdreckte, versiffte, vom Strom abgeklemmte Hütte irgendwo in den umliegenden Wäldern fährt? Nun, seiner Selbstauskunft nach ist Johann Wilhelm Ritter, geb. 1776 in Schlesien, (offiziell) gestorben 1810 in München. In der Periode zwischen diesen Daten einer der profilierten Physiker seiner Zeit, insbesondere die Elektrizität hatte es ihm angetan, das Galvanisieren. Bekannt mit Oerstedt, Goethe, von Humbold, Brentano, Herder, Schelling, Novalis…. kein Niemand also, jedoch: wir schreiben jetzt das Jahr 2010. Es besteht daher Klärungsbedarf…. Mithin also eher ein Irrer, ein Verwirrter, ein Freak? … andererseits ist da das unheimliche schnelle und vor allem gründliche Verheilen der selbst zugefügten Schussverletzung, der Widerspruch zwischen dem offensichtlichen Alter des Mannes und dem Ergebnis der molekularbiologischen Altersbestimmung… eine völlig unglaubwürdige Geschichte also, die ihr dieser der Körperhygiene deutlich abholde Mann auftischt, mit offen Fragen allerdings, die Mawet extrem reizen, insbesondere als sie sieht, wie sich an der Stelle des zu Demonstrationszwecken von Johann selbst abgetrennten Fingers alsbald ein Knubbel bildet, aus dem sich doch nicht etwa tatsächlich ein neuer, voll funktionsfähiger Finger entwickeln wird? Immer mehr gerät Johanna in den Bann der Geheimnisse dieses seltsamen Mannes und je mehr sie sich verfängt, desto stärker driftet sie aus ihren „eigentlich“ vorgezeichneten Bahnen als Wissenschaftlerin ab. Sie nimmt Johann bei sich auf, aber dieser ist oft störrisch, sperrt sich, kommt mit der neuen Situation nicht klar. Sie fallen auf, verlassen Amerika fluchtartig und Johanna kehrt mit ihm im Schlepptau an ihr Heimatinstitut zurück…. Die DNA-Sequenzierung der Ritterschen Gene ergibt Erstaunliches, hier offenbar liegt des Geheimnisses Lösung. Nur – wo liegt die Ursache dafür, welche Kräfte oder Einwirkungen haben das bedingt? Johanna ist schier besessen von dem Verlangen, das alles zu ergründen…. _________________ In den weit über 5oo Seiten des Romans schildert uns Dorn die Entwicklung, die Johanna Mawet von der menschlich vielleicht schwierigen, fachlich aber hochkompetenten Wissenschaftler in eine, ja: Besessene nimmt, die letztlich einem Wahn verfällt. Eine Frau, die die sterilen Räume der Wissenschaft verlassen hat, die Kollegen mit sexuellen Dienstleistungen für Gefälligkeiten „entlohnt“ und die zum Schluss bereit ist, mit dem Teufel zu paktieren: das Geheimnis der Unsterblichkeit zu ergründen erscheint ihr alles wert, ihr ist der Tod Todfeind, das Sterben eine unfassbare Dummheit der Natur. Ganz im Gegensatz dazu ist ihr Schützling, der nur langsam Vertrauen zu ihr gewinnt, anderer Meinung. Ihm, dem davon Ausgeschlossenen, deucht der Tod etwas Sinnvolles, hätte er die Möglichkeit, er würde ihn wählen…, vorbei die Zeiten, da er mit seinen Freunden einen Schwur getan, für immer jung zu bleiben und dem Alter zu trotzen. In zwei Zeit- und drei Handlungsebenen hat die Autorin ihre Geschichte gegliedert. Da sind zum einen die Epoche, in der der „historische“ Ritter lebte und die Jetztzeit mit Johann und Johanna. Auf der Ebene der Handlungen läßt sie ihre Figur „Ritter“ einmal in seiner historischen Zeit, aber natürlich auch in der Jetzt-Zeit erzählen, die Protagonisten selbstredend agiert nur in der Jetzt-Zeit. Diese Ebenen (sowohl was die Zeiten als auch die Handlungen angeht) wechseln sich häufig ab, Ritter versenkt sich oft in die Erinnerung an das in den letzten Jahrhunderten Erlebte, bevor er wieder auftaucht oder durch Johanna in die Gegenwart zurückgeholt wird. Mit der Figur des „historischen“ Ritter gibt Dorn im Lauf der Seiten eine Art Einführung in die deutsche Romantik, Schwerpunkt: naturwissenschaftliche Forschung am Beispiel der Galvanistik. Einer Forschung, die wie auch die heutige Physik die Suche nach der Einheit (der „Formel für alles“), sprich: dem Zurückführen auf oder Ableiten von einem Urgrund, etwas, das der historische Ritter in seiner weit ausholenden Sprache „All-Thier“ nannte [vgl. dazu bei Interesse den Aufsatz von Daiber in 2b]. Die Figuren ‚historischer Ritter‘ und ‚Mawet‘ (der Name ist von Dorn mit Bedacht gewählt] sind sich in vielem ähnlich. Auf der Suche nach Erkenntnis achten sie ihre eigene Gesundheit wenig, sind sie kompromisslos. Beide verachten den Tod, wo Ritter und seine Romantik-Freunde den Schwur ablegen, sich angesichts des ersten grauen Haares die Kugel zu geben [4], wettert Mawet ihrerseits gegen die Zumutung des Todes und nimmt (trotz ihres offensichtlich rationalen Ansatzes) an einem „Kongress der Immortalisten“ teil, auf dem die Vertreter esoterischer und pseudowissenschaftlicher Ansätze zur Lebensverlängerung in die Unendlichkeit ihre Parolen in die Masse der frenetischen Anhänger hinausposaunen. Beide Figuren, Ritter und Mawet, geraten durch ihre Forschung ins soziale Abseits, für Mawet geht die Analogie letztlich soweit, daß sie in personam versucht, unter Ritters Anleitung die Originalexperimente Ritters (äußerst quälende und schmerzhafte sind dies) an sich selbst vorzunehmen. Ist Ritter in seiner Zeit, der Romantik, schon neueren Entwicklungen verbunden, dem Drang, bis (quasi wörtlich) zur Besinnungslosigkeit zu experimentieren (womit er beispielsweise seinen Freund Goethe, der diese ‚Velofizierung‘ des Lebens bekanntermaßen ablehnend gegenüber stand, überforderte und förmlich ‚erschlug‘) ist Mawet Repräsentantin einer Naturwissenschaft, wie sie sich mittlerweile durchgesetzt hat, die sich nämlich voll und ganz auf die Ergebnisse von Experimenten stützt bzw. Theorien daran misst. Dies jedoch geht Ritter zu weit, hier ist er noch der Romantik verhaftet, das experimentelle Auseinandernehmen der Natur in immer kleinere Einheiten verhindert seiner Meinung nach den Blick für´s Ganze. Ihm eröffnet sich noch die Schönheit der Natur in der Betrachtung, während Johanna vor ihrem Laptop zu ergründen sucht, was die Welt im Innersten zusammenhält. Aber selbst Johanna muss anerkennen, daß gerade in der Molekularbiologie und Genetik die (mittlerweile vorhandenen) Kenntnisse des genetischen Codes vom Menschen, das Detailwissen also, allein noch nicht viel mehr aussagen, wie das Wissen, wie häufig jeder Buchstabe in einem Text vorkommt…. Die Molekulargenetik, die Gensequenzierung als Büchse der Pandora. Sie öffnet sich und Erkenntnisse (die ihrerseits jedoch wieder eine Unzahl neuer, ungelöster Fragen hervorrufen) fliegen heraus und am Boden sozusagen, als letztes, die Information, die alles ins Gegenteilige verkehrt, die die Frage stellt (oder hier, eben unerwartet die Antwort gibt): Will ich eigentlich wirklich alles wissen, will ich wissen, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit ich an Krebs, Alzheimer, Morbus dies oder das erkranke? Es ist die Janusköpfigkeit dieser Wissenschaft: ihr sind Ergebnisse a priori ohne Wertigkeit, die Wertigkeit, ob gut oder schlecht, ergibt sich erst in der Beurteilung durch den Forscher bzw. Betroffenen. Ohne die Gefahr einzugehen, auch das eigene vorbestimmte Verderben in den Genen zu finden, sind solche Sequenzierungen schlechterdings unmöglich. Das Fachgebiet der Genetik, der Molekularbiologie kommt nicht gut weg bei Dorn. Die Forscher, Kollegen von Mawet, sind mehr oder weniger freakig und sonderbar, haben sich der Entschlüsselung des letzten Geheimnisses des Lebens verschrieben in der Hybris, es damit beeinflussen und lenken zu können. Exponiertes Beispiel ist natürlich die Protagonistin selbst, die völlig rücksichtslos gegen sich und andere agiert – vorgeblich immer im Dienst ihrer Wissenschaft. _______________________ Ich habe bis jetzt eine dritte Person, die noch eine wichtige Rolle im Roman spielt, unterschlagen. Sie tritt nur als Stimme aus dem Off in Erscheinung, die die Ereignisse und Handlungen der beiden Hauptpersonen kommentiert. Sie scheint ihren eigenen Plan zu haben, scheint für beide, Johann und Johanna, bestimmte Rollen vorgesehen zu haben, speziell auf Johanna setzt diese Figur anscheinend große Hoffnungen. Hat sie die beiden zusammengeführt, Johann mit seiner Unsterblichkeit und Johanna, die auf der Suche nach diesem/dessen Geheimnis ist, auf daß sie es mit Hilfe Johanns lösen kann? Und was bezweckt dieser Geheimnisvolle, der sich hinter dieser Stimme verbirgt, damit? Ich will verraten es hier nicht, nur soviel: es ist letztlich ein VAter/Sohn – Konflikt, der sich hier zeigt…. ______________________ Der Mensch will sich den Göttern ebenbürtig machen, will ihnen Konkurrenz machen und verschreibt dafür dem Teufel seine Seele. Er löst sich mit diesem Vorhaben aus der Demut des Mittelalters und kommt um in der Hochmut und der Hybris, der er verfällt. Ein Stoff, dieser Faustmythos, der nicht erst mit, aber in Deutschland natürlich in hervorstechender Weise durch Goethe allgemein bekannt worden ist. Dorn hat ihn hier in die Gegenwart transferiert, die mit ihrer genetischen Forschung in der Tat in die Wirkungssphäre der „Götter“ hineinragt, das Leben an sich zu beeinflussen, ja, gar zu schaffen. Es wäre sicherlich sehr interessant, Dorns Roman daraufhin näher anzusehen, was sich vom Goeth´schen Faust in ihm wiederfindet – allein, dazu bräuchte ich detaillierte Kenntnisse der Tragödie. Die Szene, die beim Olympier in Auerbachs Keller spielt, verlegt Dorn beispielsweise in eine amerikanische Bar, Philemon und Baucis haben ihren Auftritt auch bei Dorn und anstatt Hexensabbat gibt es eine veritable Teufelsanrufung. Der Otter fehlt, die Fledermaus ist da – mit ansehnlichen Sprachkenntnissen und einem gerüttelt Maß an Neugier und daß sowohl Faust als auch Mawet endlich scheitern und sie ein ähnlich Schicksal sie ereilt, verwundert nicht… Man sieht, es wird etwas geboten, bei Goethe schon und auch bei Dorn. Mit der Figur des Ritter begegnet Dorn ein Problem, das im Lauf der Handlung für die Glaubwürdigkeit der Gestalt etwas abträglich ist. Ritter ist als Unsterblicher nicht vom Himmel gefallen, er hat über zweihundert Jahre auf der Erde verbracht, hat im 2. Weltkrieg auf Seiten der Amerikaner gekämpft, ist 1940 nach Amerika gekommen und hat dort gute sechzig Jahre gelebt oder – wie es an einer Stelle gesagt wird, in den Wäldern (und den Armen diverser einsamer Frauen, bei denen er unterschlopf) vor sich hingedämmert. Wenig glaubhaft wirkt es trotzdem, daß ein großer Teil der technologischen Entwicklung an ihm vorbei gegangen sein soll, ihm Gerätschaften wie Laptops anscheinend unbekannt sind und er sie als Teufelszeug ansieht und – etwas albern scheint mir – in den Nutzern von Geräten mit den Logo des angebissenen Apfels einen Geheimbund vermutet, den Apfelbund. Thea Dorn, wie gesagt, bietet etwas für´s Geld, gute Unterhaltung nämlich. An einigen wenigen Stellen „wagt“ sie tastend Ungewohntes, schiebt beispielsweise eine Seite mit Sprechblasen ein oder die Kopie eines alten Medizinbuches (und unterstellt, man könne heutzutage keine Fraktur mehr lesen….). Die Sprache, in der sie ihren Ritter sprechen läßt, ist altherthümlich, nachempfunden der, die man zu „seiner“ Zeit sprach, auch wenn dies hin und wieder wie Yoda-Sprech klingt, ist es eine Hilfe, die diversen Zeit- und Handlungsebenen auseinander zu halten. Immer wieder sind Dialoge oder Exkurse in die Handlung eingestreut, die sich mit Philosophischem, Zeitgeschichtlichem, Historischem oder auch Wissenschaftlichem befassen und selbstverständlich – eine love story ist inclusive. Daß diese nicht glücklich ausgehen kann, wir kennen es schon seit altersher von Eos und Tithonos, selbst (um in neuere Zeiten über zu wechseln) der Highlander hatte darunter zu leiden…. Sicher taucht die Frage auf, inwieweit ein Charakter wie Johanna Mawet realistisch ist. Ihre Persönlichkeit unterliegt im Verlauf nur weniger Monate einem radikalen Wandel von der rationalen, ziel- und ergebnisorientierten Naturwissenschaftlerin hin zu einer einem Wahn verfallenen Frau, die unter völliger Verwandlung ihrer Persönlichkeit Erlösung letztlich nur noch im Radikalsten finden kann. Mawet scheint mir die ultimative Kritik der Autorin an dieser Wissenschaft, Dorn läßt sie – ganz physisch gemeint – in gewisser Weise an ihrem Forschungsobjekt, etwas Unsterblichem, nicht nur scheitern, sondern sterben. Daß man beim Lesen selbst sich Gedanken macht über die Frage, ob man – hätte man die Wahl – Unsterblichkeit (oder auch nur eine verlängerte Lebenszeit) wünschen würde, liegt auf der Hand….. Der Plan des Dritten im Bunde, der die Stimme aus dem Off gibt, und der alle Hoffnung auf Johanna Mawet setzte, geht daher nicht auf. Aber Dorn gibt im letzten großen Auftritt dieser Figur eine hübsche Umdeutung der allbekannten Geschichte von der Erschaffung der Welt, der der Menschen und dem Abfall des Cherubs, der von da an der Luzifer genannt wurde von Gott, mit der sie den „Plan“, in dem Ritter und Mawet nur die Kandidaten waren, in etwas Größeres, Großes, einbettet. Die Unglückseligen ist also, fasst man alles zusammen, ein kurzweiliger, intelligenter Roman, der eine Menge an Informationen über die verschiedensten Dinge transportiert. Sicher gehen diese nicht in die Tiefe, es ist ja auch kein Sachbuch, aber sie reissen Probleme und Fragestellung so deutlich an, daß man sie gut als Ausgangspunkt für eigenen Gedanken nehmen kann. Daß man außerdem noch eine Ahnung bekommt über das Leben von vor über zweihundert Jahren und die Tragik eines Wissenschaftlerlebens seinerzeit, sei nicht unerwähnt. Facit: der Roman bietet beste Unterhaltung auf hohem Niveau. (Zusatzinfos zur Besprechung sind unter dem obigen Link einsehbar)

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