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Rezension zu
Gehen, ging, gegangen

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Kopflastig aber einfühlsam...

Von: Bücherphilosophin
22.02.2016

In ihrem neuen Roman “Gehen, ging, gegangen” arbeitet Jenny Erpenbeck die Besetzung des Berliner Oranienplatzes durch eine Gruppe afrikanischer Flüchtlinge literarisch auf. Sie tut dies indem sie der Leserin einen Vermittler zur Seite stellt, der als Brücke zwischen der durchschnittsdeutschen Alltagswirklichkeit und der Lebenswelt eines Flüchtlings fungiert. So fängt die Geschichte damit an, dass der leidenschaftliche Ostberliner Richard, seines Zeichens Universitätsprofessor in beiden Systemen, in Rente geht und beschließt in all der freien Zeit, die er nun hat, Haus und Garten in Ordnung zu bringen. Seit dem Tod seiner Frau ist einiges liegen geblieben, doch so einfach kann sich der immer noch rüstige Neu-Rentner nicht aufrappeln. Immer wieder schweift sein Blick zum See an dem sein Haus liegt, denn dort ist vor kurzem ein Mann ertrunken. Eigentlich spielt diese Tragödie keine wirkliche Rolle im weiteren Verlauf des Romans. Doch sie stellt den Stein des Anstoßes dar, den Tritt der Richard aus seinem Haus am Rande Berlins in die Innenstadt befördert, wo er auch am Oranienplatz vorbei kommt. Zunächst übersieht er sie, wie sie dort sitzen, eine Fülle fremder Sprachen sprechen und doch keinem der anwesenden Polizisten sagen können oder wollen, wer sie sind und woher sie kommen. Bald jedoch wird Richard ihrer Gewahr und es zieht ihn erst zum Oranienplatz, wo die Flüchtlinge mit der Zeit eine Zeltstadt aufgebaut haben, und dann in ein ehemaliges Altersheim, in dem die Stadt Berlin die Männer kurzfristig untergebracht hat, bis geklärt ist, wer überhaupt für sie zuständig ist. Richard besucht sie, einen nach dem anderen – auch wenn ihn die Wachleute und Betreuer bald schon für ein bisschen verrückt halten. Denn sein Engagement scheint ein Einzelfall innerhalb der deutschen Bevölkerung zu sein. Jenny Erpenbeck ist in ihrer Schilderung der Beweggründe des afrikanischen Durchschnittsflüchtlings sehr großzügig und wohlmeinend. Die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge, die sich aus im Grunde friedlichen aber bettelarmen Staaten nach Europa durchkämpfen, in der Hoffnung dort Arbeit zu finden und die Familie daheim unterstützen zu können, gibt es in “Gehen, ging, gegangen” nicht, was meiner Meinung nach eine grobe Vereinfachung des Themas darstellt. Die von der Autorin entworfenen Portraits der jungen Männer sind vielfältig und feinfühlig. Fast alle kamen sie über Italien, fast alle müssen sie dorthin zurück, so zumindest fordert es das Gesetz. Selbst als eher kritische Leserin entwickelte ich im Laufe der Lektüre Empathie für die Situation der Orianienplatzflüchtlinge, wenn nicht sogar Verständnis für ihr Verhalten. Das persönliche Engagement von Hauptfigur Richard, das in manch einem Fall bald schon das Fundament einer tiefen Freundschaft legt, dient der Leserin dabei als roter Faden, der sich durch das Buch spinnt, die Lebensgeschichten der Flüchtlinge miteinander verbindet, die verschiedenen Figuren und Aspekte der Erzählung zusammen hält und sie zu einem in sich stimmigen Ganzen macht. Der Erzählstil von Autorin Jenny Erpenbeck ist dabei schnörkellos und derart eingängig, trotz des oft schwer verdaulichen und innerlich aufwühlenden Themas, man könnte ihn fast schon unauffällig nennen. Jedenfalls tritt Jenny Erpenbeck sprachlich innerhalb der Erzählung einen Schritt zurück und überlässt die eigentliche Bühne den Flüchtlingsschicksalen und Hauptfigur Richards Gedanken dazu, bzw. seinen Integrationsversuchen, ob es sich dabei nun um Klavierunterricht, etwas Gartenarbeit oder einen Platz zum Schlafen handelt. Insgesamt ist “Gehen, ging, gegangen” ein gut durchdachter, dabei aber auch sehr kopflastiger Roman zu einem Thema, das uns alle etwas angeht. Jenny Erpenbeck macht ihrer Leserin den Kopf auf für die oft verzweifelte und dabei aber leider auch hoffnungslos komplizierte Situation afrikanischer Flüchtlinge, für deren Geschichten und Zukunftsträume, wenn sie sich diese nach der gefährlichen Reise, italienischer Obdachlosigkeit und dem Tauziehen um europäische Zuständigkeiten denn noch bewahrt haben. Gleichzeitig zeichnet Jenny Erpenbeck ein realistisches, wenn auch oft frustrierendes, Bild europäischer Asylrechtsbürokratie. “Gehen, ging, gegangen” ist somit ein ernstes Buch, das seine Leserin zu Empathie anregt, dabei aber auch immer wieder anheimelnde Momente hervorbringt und demnach nie zu trist oder gar zu trocken wird.

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