Sie haben sich erfolgreich zum "Mein Buchentdecker"-Bereich angemeldet, aber Ihre Anmeldung noch nicht bestätigt. Bitte beachten Sie, dass der E-Mail-Versand bis zu 10 Minuten in Anspruch nehmen kann. Trotzdem keine E-Mail von uns erhalten? Klicken Sie hier, um sich erneut eine E-Mail zusenden zu lassen.

Rezension zu
Die Abtrünnigen

Liebes- und Migrationsgeschichte

Von: Literaturreich
30.06.2023

Es geht weiter mit der Neuveröffentlichung von älteren Werken des Literaturnobelpreisträgers von 2021 bei Penguin. Nachdem im letzten Jahr das aktuellste Buch von Abdulrazak Gurnah, Nachleben, im Original 2020 erschienen, veröffentlicht wurde, folgt nun ein Roman von 2006, Die Abtrünnigen. Wieder taucht der Autor tief in die Kolonialgeschichte Tansanias, Kenias und Sansibars ein und verwebt sie mit einer Liebesgeschichte und autobiografischen Elementen zu einem Roman über Familientradition, Kolonisation und Migration. Aufgeteilt ist der Text in drei große Teile auf drei verschiedenen Zeitebenen. Es beginnt 1899, zur Zeit des Sultanats Sansibar unter britischem Protektorat, als ein Mzungu, ein Weißer, völlig dehydriert und dem Tode nahe in einer kleinen ostafrikanischen Küstenstadt auftaucht. Der dortige Gebetsrufer, ein indischer Händler namens Hassanali, nimmt den Fremden bei sich auf, lässt ihn von Frau und Schwester pflegen, bis der weiße Plantagenbesitzer Frederick Turner ihn bei sich aufnimmt. Der britische Forschungsreisende Martin Pearce wurde von seinen einheimischen Trägern verprügelt und ausgeraubt und hat sich mit letzter Kraft ins Dorf geschleppt. Der dünkelhafte Rassismus von Turner und seinem Verwalter Burton sind ihm fremd. Für diese ist die Minderwertigkeit der Schwarzen Bevölkerung offensichtlich und deren Verschwinden und ihr „Ersatz“ durch weiße Siedler nur eine Frage der Zeit. Pearce hingegen ist seinen Rettern dankbar und kehrt in Hassanalis Haus zurück. Dort entspinnt sich eine Liebesgeschichte zwischen dem Briten und Hassanalis Schwester Rehana. Eine Liebe, die nicht sein darf und auch nicht geduldet wird. Die Beiden fliehen in die nahegelegene Stadt Mombasa und leben dort eine Zeitlang zusammen. Rehana wird schwanger, aber Pearce verlässt sie letztendlich, um in seine Heimat England und zu Frau und Familie zurückzukehren. Rehana ist fortan eine „gefallene Frau“. Es folgt ein „Gedankliches Zwischenspiel“, in dem der auktoriale Erzähler zugunsten des „Ichs“ eines Erzählers weicht, der über die Wahrscheinlichkeit und Ungewöhnlichkeit des Erzählten, das er aus Erinnerungen und Dokumenten zusammensetzt, nachdenkt. Angesichts der historischen Distanz zum Geschehen ein einleuchtendes Verfahren. Der zweite Teil des Romans ist vor allem der Liebesgeschichte zwischen Amin, Sohn eines fortschrittlichen Lehrerehepaars auf Sansibar, und Jamila, der Enkelin von Rehana, gewidmet. Erzähler der in den 1960er Jahren spielenden Episode ist Rashid, der jüngere Bruder von Amin. Da Jamila von der „gefallenen“ Rehana abstammt und ein recht unabhängiges Leben führt, ist sie für Amins Familie nicht tragbar. Sie verbietet, trotz aller vorgeblichen Fortschrittlichkeit, dass Amin seine Liebe wiedersieht. Dieser fügt sich widerwillig. Diesen Teil des Romans hätte Gurnah gern ein wenig kürzen können. Die Liebeswirren und Tändeleien Amins werden für meinen Geschmack doch sehr ausgewalzt. Teil drei ist Rashid gewidmet und man darf vermuten, dass sehr viel von Autor Abdulrazak Gurnah in dem jungen Bildungsaufsteiger steckt, der zur Zeit der scheiternden Liebe zwischen Amin und Jamila in Die Abtrünnigen und kurz vor der 1963 ausgerufenen Unabhängigkeit Sansibars zum Studium nach England geht. Auf jeden Fall entpuppt er sich als Autor von Teil eins und zwei. Während sein Heimatland revolutionäre Unruhen und Gewalt erfährt, bevor es 1964 im Staat Tansania aufgeht, erfährt Rashid an den englischen Universitäten Missachtung und Rassismus. Ihm gelingt allerdings der Bildungsaufstieg und er wird Hochschulprofessor. Abdulrazak Gurnah hat mit Die Abtrünnigen einen dichten Roman voller „abtrünniger“ Figuren geschaffen. Martin Pearce, Rehana, ihre Tochter und Enkelin Jamila haben für ihre Liebe und ihre Art zu leben mit den Traditionen und Konventionen der Gesellschaft gebrochen, mit unterschiedlich starken Konsequenzen. Und auch Rashid ist ein „Abtrünniger“. Er bewegt sich fern der Heimat und Familie in völlig anderen Bildungs- und Gesellschaftskreisen. Der Preis für alle ist die Trennung, von geliebten Menschen oder der Heimat. Ein Schicksal, das wohl auch der Autor erfahren hat. Die Abtrünnigen ist auch ein Roman über hybride Identitäten. Schwarze, Weiße, die Indische und Arabische Elite – in Ostafrika haben sie alle unterschiedlich erfolgreich zusammengelebt. Meist war und ist das Trennende aber so viel mächtiger als das Verbindende. „Indem wir uns damit einverstanden erklären, die Menschen in Weiße und Schwarze zu unterscheiden, erklären wir uns auch damit einverstanden, die Vielfalt der Möglichkeiten einzuschränken und die Verlogenheit zu akzeptieren, die Jahrhunderte hindurch den primitiven Hunger nach Macht und die pathologische Sucht nach Selbstbestätigung genährt haben – und es weiter tun werden.“

Wir stellen nicht sicher, dass Rezensent*innen, welche unsere Produkte auf dieser Website bewerten, unsere Produkte auch tatsächlich gekauft/gelesen haben.