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Rezension zu
Kafka und der Tote am Seil

"Kafka und der Tote am Seil" von Jon Steinhagen

Von: Fraggle
30.01.2023

Fazit: In „Prozesse. Über Franz Kafka“ hat der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti mal geschrieben: „Unter allen Dichtern ist Kafka der größte Experte der Macht. Er hat sie in jedem ihrer Aspekte erlebt und gestaltet.“ In Jon Steinhagens Debütroman „Kafka und der Tote am Seil“ ist das ganz anders, zumindest, wenn es darum geht, Macht selbst zu gestalten. Eher muss sich der Protagonist Franz Kafka darin ganz entschieden fühlen, wie eine Romanfigur aus einem seiner Werke. Denn es ist schon ziemlich ungewöhnlich, dass Kafka eines Morgens im Sanatorium, in das er sich zur Behandlung seiner Erkrankung und in vollem Bewusstsein, selbiges nicht mehr lebend zu verlassen, zurückgezogen hat, pumperlgesund und mit gesegnetem Appetit ausgestattet, aufwacht. Nicht minder seltsam ist, dass die Pflegefachkraft an seinem Bett augenscheinlich ein außerordentlich großes Insekt, mutmaßlich eine Kakerlake, ist, welches sich kurz darauf – wenig überraschend – als Gregor Samsa, hemimetaboler Protagonist aus der Familie der Blattodea aus Kafkas „Die Verwandlung“, vorstellt. Der offensichtlich mit einem analytischen Verstand ausgestattete Kafka beurteilt seine Lage recht nüchtern und realistisch und kommt zu dem nur zu verständlichen Schluss, ganz offensichtlich den Verstand verloren zu haben. Diese Einschätzung wird zusätzlich dadurch unterstützt, dass kurz darauf ein vollkommen Fremder das Krankenzimmer betritt, sich als „Inspektor Beide“ vorstellt, der einer Kafka völlig unbekannten Ermittlungsbehörde zugehörig ist, und der Kafka bittet, ihn bei den Ermittlungen zu einer Mordserie zu unterstützen. Dass Inspektor Beide zudem seinem Namen alle Ehre macht, indem er bzw. sie in der Lage ist, mal in männlicher, mal in weiblicher Gestalt aufzutreten, verwundert den nun offensichtlich wunderlich im Oberstübchen gewordenen Kafka kaum noch. In Ermangelung einer besseren Idee hinsichtlich der Frage, was Kafka mit der ihm überraschend zugebilligten Zeit anfangen soll, sagt er Inspektor Beide die Hilfe zu, und macht sich an der Seite Gregors auf, Licht ins Dunkel einer Mordserie rund um den sogenannten „Hängekünstler“ zu bringen. Dieser macht seinem Namen ebenfalls alle Ehre, denn sein Beitrag zur Kunst- und Kulturszene Österreichs besteht darin, sich auf den Bühne verschiedener Theater und Varietés aufzuhängen. Also, viel mehr: Zu erhängen. Also, so richtig eben. Überraschenderweise steht der Hängekünstler trotz des vermeintlichen realen Bühnentodes am nächsten Abend wieder auf selbiger Bühne, um sein Kunststück zu wiederholen. Nun könnte man derlei Tun wahlweise mit Faszination oder Achselzucken begegnen und früher oder später zur Tagesordnung übergehen. Wären da nicht die zahlreichen Todesopfer in Wien und Umgebung, die man seit Beginn der Auftritte tot aufgefunden hat und die ebenfalls erhängt wurden. Mutmaßlich aber von fremder Hand, denn das, sagen wir: Tatwerkzeug, ein Strick oder ähnliches, wurde bei keinem Opfer vor Ort gefunden. Nur zu logisch, dass der naheliegendste Verdacht auf den Hängekünstler fällt. Ob Kafkas Ermittlungen letztlich zum Erfolg führen, soll an dieser Stelle natürlich nicht erwähnt werden. Erwähnt werden soll vielmehr, dass in Jon Steinhagens Debütroman das Absurde, eben das „Kafkaeske“, aber eben auch das Humorige dominiert. Kafka und sein Mitstreiter Gregor liefern sich äußerst unterhaltsame Wortgefechte, die einem etwas fehlen, als Gregor zwischenzeitlich ein wenig in den Hintergrund tritt und Inspektor Beide dafür mehr Aufmerksamkeit bekommt, der bzw. die die schlagfertige, sprechende Blatta orientalis an Kafkas Seite leider nicht gleichwertig ersetzen kann. Auf der anderen Seite gewinnt der charmante Humor des Buches auch nicht zu sehr die Oberhand. Steinhagen präsentiert der Leserschaft daher glücklicherweise nicht auf jeder Seite kalauernde Schenkelklopfer, sondern gibt auch der Krimihandlung des Buches genügend Zeit, sich entsprechend zu entfalten. Das Gute an der dieser Krimihandlung – jedenfalls ist das meine ganz subjektive Leseerfahrung – ist: Durch den ziemlich absurden Einstieg bekommt man als Leser den Eindruck, dass sich die Skurrilität sicherlich auch im Bereich der eigentlichen Krimihandlung fortsetzt, es mithin überhaupt keinen Sinn ergibt, sich diesbezüglich eigene Gedanken zu machen, weil man sowieso nicht auf die Lösung kommt. Daher habe ich das auch gar nicht versucht und konnte mich stattdessen vollkommen unvoreingenommen auf das einlassen, was mir Steinhagen da erzählen wollte. Wer also sowohl Bücher mit einem angenehm humorigen Unterton, als auch in sich stimmige Krimihandlungen mag, kommt mit „Kafka und der Tote am Seil“ sicherlich auf seine Kosten. Und für Kafka-Fans, der ich vielleicht mal einer zu werden gedenke, worauf jedenfalls die Anwesenheit seines Gesamtwerks auf meinen Stapeln ungelesener Bücher hindeutet, welches – das Gesamtwerk also – ich vor einiger Zeit in einem Anfall geistiger Umnachtung und daraus resultierend zerebral nur auf drei Pötten laufend als das Gesamtwerk Rilkes in der Erinnerung hatte, was an dieser Stelle jetzt aber nicht weiter diskutiert werden soll … „ich bitte, wieder ansetzen zu dürfen“, um mal Thomas Mann zu zitieren: Kafka-Fans also kommen mit dem Buch vermutlich – sofern sie ein wenig Spaß verstehen – erst recht auf ihre Kosten. Der Konflikt mit dem Vater wird thematisiert, der Vater selbst taucht in seiner herrischen Art auf, man trifft Wegbegleiter Kafkas wie Jizchak Löwy, Kafka sinniert über sein intensives Vertrauen in seinen Freund Max Brod. Diesen hatte Kafka vor seinem Tod gebeten: „Liebster Max, meine letzte Bitte: alles was sich in meinem Nachlass (also im Bücherkasten, Wäscheschrank, Schreibtisch zuhause und im Bureau, oder wohin sonst irgendetwas vertragen worden sein sollte und Dir auffällt) an Tagebüchern, Manuscripten, Briefen, fremden und eigenen, Gezeichnetem u.s.w. findet restlos und ungelesen zu verbrennen, ebenso alles Geschriebene oder Gezeichnete, das Du oder andere, die Du in meinem Namen darum bitten sollst, haben. Briefe, die man Dir nicht übergeben will, soll man wenigstens selbst zu verbrennen sich verpflichten. Von diesem Wunsch nahm er nur fünf Bücher aus, allerdings meinte er „(…) damit nicht, dass ich den Wunsch habe, sie mögen neu gedruckt und künftigen Zeiten überliefert werden, im Gegenteil, sollten sie ganz verloren gehn, entspricht dieses meinem eigentlichen Wunsch.(…) (Quelle: franzkafka.de) Wie wir nun alle wissen, kam Brod dieser Aufforderung nicht nach. Hätte er es getan, hätten wir diesen Roman hier vielleicht nie lesen können. Und das wäre sehr schade.

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