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Rezension zu
Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau

Spät veröffentlichtes beeindruckendes Zeugnis existentialistischer Literatur

Von: Dagmar
01.01.2021

Eine bedeutende Autorin des 20. Jahrhunderts bekommt über vierzig Jahre nach ihrem Tod zwei neue Bände mit Erzählungen im Penguin Verlag. Clarice Lispector, 1920 in der damaligen Ukrainischen Sowjetrepublik geboren, aufgrund wiederkehrender Juden-Pogrome mit ihren Eltern emigriert nach Brasilien, war bereits mit 23 Jahren eine erfolgreiche Romanautorin. Nun, zu ihrem 100sten Geburtstag erschienen zwei Bände mit Erzählungen. Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau. Sämtliche Erzählungen I Wer Jean Paul Sartre und Albert Camus kennt, findet deren Gedanken in literarische Formen gegossen bei Clarice Lispector wieder. Die Faszination ihrer Erzählungen speist sich aus der Infragestellung des Selbstverständlichen und aus einem ganz besonderen Blick auf das Existentielle. Die Figuren stellen nicht nur die sie umgebende Welt infrage, sondern auch ihre eigene Existenz. Oder sie hängen ihre Existenz an etwas scheinbar völlig Bedeutungsloses und werden zu einem Spielball des Lebens, oft durch Kleinigkeiten in einen Abgrund gerissen. Die Frage der Existenz und die der Absurdität treffen aufeinander. Das Absurde ist in der Lücke zwischen Mensch und Welt zu verorten. Der Mensch prallt auf die Welt, ohne je mit ihr in Übereinstimmung zu kommen. Genau so lässt sich ein Miniaturporträt der meisten Figuren von Clarice Lispector zeichnen. Und darin liegt auch die Faszination: die Art und Weise des Aufeinanderprallens von Mensch und Welt ist so vielfältig, verwirrend und verstörend und gibt doch immer wieder den Blick frei auf das Besondere, das jede/n zu einem Schöpfer Ihres/seines Universums macht, gewählt oder ungewählt. Häufig stehen Frauenfiguren im Zentrum von Clarice Lispectors Erzählungen. Wie schon der Titel >>Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau<< verrät, sind es meist Frauen, die mehr oder weniger aus ihrer Realität rutschen. Ein exemplarisches Beispiel: >>Liebe<<. Die Protagonistin Ana erlebt während des Heimwegs von einem Einkauf eine tiefe seelische Erschütterung. Sie sieht von ihrem Strassenbahnplatz aus einen Blinden am Strassenrand. Und sie sieht, wie er Kaugummi kaut. „Vorgebeugt starrte sie den Blinden an, wie man anstarrt, was uns nicht sieht. Er kaute Gummi in der Dunkelheit. Ohne zu leiden, mit offenen Augen. Die Kaubewegung ließ ihn aussehen, als lächelte er und hörte plötzlich wieder auf, lächelte und hörte wieder auf - als wäre sie von ihm beleidigt worden, so starrte Ana ihn an.“ (S.138) Es ist passiert. Etwas ist verrutscht, Ana ist aus ihrer gewöhnlichen Wirklichkeit herausgerissen. Sie sieht Pflanzen auf ihrem Nachhauseweg, duftende Blumen, geht durch den botanischen Garten. „Sie liebte die Welt, liebte, was geschaffen worden war - liebte voller Ekel.“ (S.142) Das erinnert an Jean Paul Sartres Protagonisten Roquentin in >>Der Ekel<<, dem Roman des Existentialismus von 1938. Der Historiker Roquentin wird überfallen von einem überwältigenden Gefühl von Ekel, das ihn selbst auf einen neuen Platz in seinem Lebensweltzusammenhang stellt. Die Sinnlosigkeit von Existenz, die Zufälligkeit der Existenz, all dies wird ihm bewusst während eines Spazierganges im Park und der Betrachtung einer Wurzel. So auch hier bei Clarice Lispector. Für die Protagonistin Ana verändert der Moment der Beobachtung des Blinden ihre eigene Lebens- und Erlebenswelt. Es gibt nun zwei Seiten, die Seite des Blinden und die Seite der dicht wachsenden Pflanzen. Und sie weiß nicht mehr, auf wessen Seite sie ist. Sie bringt die Bilder nicht mehr zusammen.
Faszinierend sind auch die Schilderungen, wie sich die äußeren Erscheinungen der Personen verändern durch ihre inneren Erregungen. Eine unüberbrückbare Dissonanz und das Bemühen um Wiederherstellen eines Gleichgewichts von innen und außen durchzieht die Geschichten. „Und wenn sie die Liebe durchquert hatte und ihre Hölle, so kämmte sie sich jetzt vor dem Spiegel, für einen Augenblick ohne Welt im Herzen.“ (S.146) Beeindruckende Lektüreerlebnisse, die allerdings einer gewissen anhaltenden Düsterkeit nicht entbehren. Es gibt keine Auflösungen dieser Zustände. Der Leser, die Leserin bleibt in einem in einem Unsicherheitsraum zurück in >>Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau<<. Clarice Lispector: Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau. Sämtliche Erzählungen I
in der Übersetzung von Luis Ruby 
Penguin Verlag, München 2019
ISBN 9783328600947
Gebunden, 416 Seiten, 24,00 EUR

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