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Rezension zu
Das Kaffeehaus - Bewegte Jahre

Ein grandioses Porträt der Wiener Gesellschaft

Von: Norbert Tischler aus Wien
26.10.2020

In Wien kann man am Kitsch nicht vorbei. Betritt man eine Trafik oder Buchhandlung, stechen neben den unvermeidlichen Andenken schnell die Portraits der Mitglieder des Kaiserhauses - Franz Josef, Sisi, Kronprinz Rudolf - ins Auge. Die Wiener übersehen die süßlichen Mitbringsel, machen mehr oder weniger grantig ihre Erledigungen und sind am zufriedensten, wenn sie „in Ruhe gelassen“ werden. Ein beliebter Rückzugsort ist das Kaffeehaus. Ob hochelegant oder proletarisch-vulgär - ohne diese Institution ist Wien schlicht undenkbar. Das Kaffeehaus ist lt. Alfred Polgar ein Ort für Leute, „die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen. “ Der „gute alte Kaiser“ verblasst langsam im Bewusstsein. Aber ganz hinten in der Wiener Seele hat er seinen Platz: Als kollektive Erinnerung an die Zeit, als „wir“ noch ein großer Vielvölkerstaat waren. Das Kaffeehaus aber ist lebendiger denn je: Als „Tschocherl“, wo getrunken wird; als „Espresso“ der Vorstadt; als traditionelles Cafè, als erweitertes Wohnzimmer, Zeitungslesesaal, Karten-Treff, Literaten-Stammtisch und eben Rückzugsort. Und als Vorzeige-Hochamt österreichischen Kulturstolzes, wie die Kaffeehaus-Flaggschiffe Demel, Sacher, Zentral, Imperial – für den „normalen“ Wiener meist zu „g'spitzt“, zu teuer und ungemütlich - und daher eher von betuchten Touristen frequentiert. Generell vermute ich in Wien als vorherrschende Meinung: Niemand, außer Wienerinnen und Wiener, kennen sich mit Kaffeehaus und Kaiserhaus wirklich aus. Und dann kommt eine deutsche Schriftstellerin und schreibt über das Wiener Kaffeehaus, das Wiener Fin de siècle, den Kronprinzen Rudolf, Mayerling und die Sitten der Hocharistokratie zur Endzeit der Monarchie! Ja, darf die denn das!? Um es vorwegzunehmen: Ja, sie darf! Denn Marie Lacrosse hat sich die Mühe gemacht, genau hinzuschauen. Sie hat umfangreich recherchiert, akribisch geforscht und kann deswegen vor dem Leser ein Geflecht aus Machtstreben, Konkurrenz, Eitelkeit, Existenzängsten, Verschwendungssucht, Rücksichtslosigkeit, Ausbeutung und Vertuschung ausbreiten, das auf historisch abgesicherten Fakten basiert. Zur Bündelung der Handlungsstränge führt sie eine fiktive, an historischen Figuren orientierte Adelsfamilie ein, deren jüngste Tochter sie vom Kindes- bis zum jungen Erwachsenenalter durch das dramatische Geschehen begleitet. Am Beginn erscheint manches sehr „lieb“ - das „Süße Wiener Mädel“ im Kaffeehaus, eine raffinierte Tortenspezialität – doch bald tun sich erste Brüche auf, erste Blicke hinter scheinbar perfekte Fassaden. Ohne zu viel zu verraten: Diese Brüche etablieren sich bald als die bedeutsamere Wirklichkeit hinter der Oberfläche der „ersten Gesellschaft“: dem hoffähigen Adel, dem aufstrebenden Beamten- und Diplomatenadel und dem reichen Bürgertum. In einem spannenden, historisch korrekten Handlungsbogen wird der Weg zur Katastrophe von Mayerling und deren Vertuschung, einem Sittenbild der damals herrschenden Klasse, gezeichnet. Der damals herrschenden Klasse? Ich habe den Verdacht, Marie Lacrosse verführt nicht ohne Absicht den Leser zum Reflektieren. Siehe da, diese Zustände kennen wir doch! Gerade als „gelernten Österreichern“ kommen uns viele Verhaltensmuster und Skandale - Adel hin, Demokratie her - sehr bekannt vor. Die Affäre Waldheim, als der damalige Präsidentschafts-Anwärter sich partout nicht an seine SS-Mitgliedschaft erinnern konnte. Das Wiederaufleben uralter politische Vorurteile beim Zerfall des „Ostblocks“ und der Bürgerkriege in Ex-Jugoslawien. Der Aufstieg rechter Parteien seit Haider und das „Salonfähig-Werden“ ihrer Gesinnung, mit der heute „ex-christlich-soziale Parteien“ auf Wählerfang gehen. Die überall bestimmende „Freunderlwirtschaft“. Und heute wie damals lassen die Menschen sich gern mit Berichten über die High Society ablenken: ganz wie zu Zeiten des „Wiener Salonblatts“.

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