Radtjafjället bei Arjeplog im August 2019
Er stand in einer grauen Stoffjacke und einem Paar dunkler Lederhosen draußen mitten im Kalfjället, der Berglandschaft oberhalb der Baumgrenze. Bedächtig strich er sich mit der Hand über die Stirn. Hier war es mehr als dreißig Grad heiß, jetzt, um ein Uhr mittags, brannte die Sonne schonungslos, und es gab nirgends Schatten. Er schaute über die karge, windstille Landschaft. Kein Mensch weit und breit. Dort hinten glitt ein Bussard über eine Felskante und verschwand, in der Ferne konnte er das Sarek-Massiv erahnen, glitzernde, schneebedeckte Gipfel.
So weit würde er nicht gehen.
Er packte seinen Holzwanderstab und setzte sich wieder in Bewegung. Kleine Mücken stürzten sich aus allen Richtungen auf sein Gesicht, doch das machte ihm nichts aus. Seine Haut war ledern, erinnerte an die grauen Flechten auf den Steinen.
Das hier waren die Rentiergründe des Dorfes. Den Pfad, auf dem er ging, war schon sein Großvater gewandert, und danach sein Vater. Jetzt war er hier unterwegs, der Letzte in dieser Linie.
Er selbst hatte keine Kinder. Einige Meter weiter blieb er stehen und beugte sich hinab. Die Finger waren mit den Jahren krumm und steif geworden, doch ein paar gelbe, reife Multbeeren konnten sie immer noch gut abpflücken. Ihr süßer Saft löschte für die nächsten Minuten den Durst und spendete ein wenig neue Energie. Bald würde er oben sein, das Rauschen war schon angeschwollen.
Das letzte Stück kam er langsamer voran, sein Gang wurde schleppender, er wusste, was er gleich sehen würde, und es widerstrebte ihm schon jetzt, zumal er nichts dagegen ausrichten konnte. Er tat die letzten Schritte und betrachtete den breiten, wilden Strom vor sich. Das kristallklare Wasser warf sich zwischen die Steine und spritzte in die Luft hinauf, als würde es ausgelassen den Abhang hinunterspringen. So schön und so traurig. Früher floss hier im Sommer lediglich ein schmales Rinnsal, ein stiller, schmaler Bach, der sanft zwischen Zwergbirken und niederem Heidekraut zum großen Låddaure-See hinunterperlte.
Bevor sich alles veränderte.
Er sah zur Schattenseite des Berges hinauf, zu der Felsformation, die man im Samendorf Blauer Wolf nannte, dann wanderte sein Blick weiter nach oben zu der glitzernden Schneewechte in einer der Spalten, die einen Zufluss zu dem breiten Strom bildete. Als er klein war, lag die Wechte wie ein harter Gletscher vom Klima unbeeinflusst zwischen den Bergwänden.
War der Sommer warm, dann lief etwas mehr Wasser herab, das war alles. Jetzt war das kein Gletscher mehr, sondern ein immer kleiner werdendes Schneefeld, das mit jedem Jahr, schneller schmolz und einen richtigen Fluss speiste. Keinen stillen Bach, sondern einen rauschenden Strom. Als würde das Leben aus dem Berg herausfließen.
Er senkte seinen grünen Trinkbecher ins Wasser und schlürfte einen eiskalten Schluck daraus. Als er wieder zur Spalte hinaufschaute, sah er einige kleine dunkle Punkte, die sich auf dem Schnee abzeichneten. Er brauchte kein Fernglas, um zu erkennen, dass es sich um eine Gruppe seiner Rentiere handelte, die dort oben gern Abkühlung suchten. Vor allem in einem Sommer wie diesem, mit einigen der heißesten Tage, die er je erlebt hatte. Er ging auf seine Tiere zu.
Sie sahen ihn kommen und bewegten sich ein Stück weiter, als er sich näherte. Den Hund hatte er heute nicht dabei, der war krank. Doch er war auch nicht nötig. Bei solch einer Hitze trieb man die Tiere nicht. Als er an den Rand des Schneefeldes kam, sah er etwas weiter hinten ein Büschel herausragen. War der Schnee jetzt schon bis auf den Boden heruntergeschmolzen?
Er ging näher heran, um zu erkennen, welche Pflanze es war. Vielleicht eine Netz-Weide oder ein kleiner Strauch? Es war keins von beidem. Es war eine Menschenhand, die aus dem Schnee ragte.
Ein Stück vom Ringfinger fehlte.
…
Der Mann war Stammgast auf der Trabrennbahn Solvalla in Stockholm und hatte sich im Laufe der Zeit einen Fenstertisch erobert, der immer für ihn reserviert war. So auch heute Abend.
Er saß mit dem Rücken zum Restaurant und schaute auf die Bahn hinaus. Es fiel ein leichter Regen, und die Pferde befanden sich auf der gegenüberliegenden Geraden. Er beobachtete sie durch sein Fernglas. Es fand ein Qualifikationsrennen für den K.-G.-Bertmark-Gedächtnislauf statt, und er hatte ein paar Tausender auf Minnestads Ecuador gesetzt. Das war kein großartiger Einsatz, aber gerade heute Abend hatte er keine Lustauf zu viel Risiko. Als die Pferde auf die Bahn einliefen, stieg der Puls des Mannes. Er senkte den Feldstecher und verfolgte den Lauf direkt durchs Fenster. Bis zum Endspurt war es ein ausgeglichenes Rennen, die Jockeys schwangen ihre Peitschen voller Elan. Doch im Finish gelang es Minnestads Ecuador, mit anderthalb Längen Vorsprung die Ziellinie zu überqueren.
Der Mann ballte die rechte Faust im Schoß. Seine Kasse würde sich füllen. Er drehte sich herum und fuhr zusammen. Ihm gegenüber saß unvermittelt eine Frau mit dunkler Sonnenbrille.
Ray-Ban. Er nickte ihr zu. Vor ihr auf dem Tisch lag eine ausgebreitete Landkarte. Der Mann erkannte darauf einen Kreis und ein Kreuz. Die Frau drehte die Karte herum, damit er das Gebiet von seiner Seite aus sehen konnte.
Der angekreuzte Ort lag nördlich von Arjeplog.
…
Ich bin nicht tot. Das war Olivia Rönnings erster Gedanke. Dann wirbelten ein paar Erinnerungsbilder vorbei: eine mächtige Flamme und das Krachen von zerberstendem Metall. Wir sind abgestürzt. Sie schlug die Augen auf. Direkt über ihr schütteten dunkle Wolken einen warmen Regen auf ihr Gesicht.
Ihr Kopf schmerzte. Sie streckte eine Hand aus und strich sich eine zähe Feuchtigkeit von der Stirn. Das war kein Wasser. Pekka? Sie rollte sich auf die Seite. Ein Stück entfernt lag das zusammengeknüllte Wrack des Polizeihubschraubers.
Die Regentropfen zischten, wenn sie auf die Wrackteile trafen. Sie versuchte, sich aufzusetzen. Alles tat weh. Wir sind abgestürzt, und ich habe überlebt, dachte sie. Wo ist Pekka? Sie stemmte sich hoch und schaute hinüber zum Wrack. Wo war er? Sie kletterte über ein paar zerborstene Plexiglasteile und näherte sich den Resten des Helikopters. Die Kabine war zusammengedrückt. Da war er nicht. Plötzlich kam wieder ein Blitz. Er riss die Dunkelheit auf, gefolgt von einem heftigen Donner, der zwischen den Bergen davonrollte. Aber dadurch konnte sie ihn erkennen, etwas weiter weg. Ein dunkler Körper auf dem Boden. Plötzlich machte sich ein Schmerz in ihrem Knöchel bemerkbar, der bisher von allem anderen überdeckt worden war. Sie näherte sich Pekka, der immer noch die Kopfhörer aufhatte und auf der Seite lag. Wagte kaum, ihn zu bewegen, ihn ein wenig zu drehen. Ging in die Hocke, streckte eine Hand aus und fühlte an seinem Hals. Er hatte Puls. Da bemerkte sie ein dunkles Rinnsal unter ihm. Sie klappte seine Jacke auf und sah einen schmalen Metallgegenstandaus seinem Bauch ragen.
Olivia brach in Tränen aus.
Weinend zerriss sie sein Hemd und legte die Metallschiene frei, die in den Bauch gedrungen war. Sie war keine Ärztin, sie war verzweifelt. Mit zitternden Händen begann sie, die Schiene rauszuziehen, während Pekkas Körper sich ein klein wenig wand. Aus der Stelle, wo die Schiene gesteckt hatte, pulsierte das Blut. Druckverband. Wie zum Teufel befestigte man hier einen Druckverband? Olivia riss ihr Shirt auseinander und drückte das Stoffstück über das Loch. Mit der anderen Hand löste sie Pekkas Gürtel, schob ihn unter seinem Körper hindurch und zog ihn über dem Stoffstück so fest zusammen, wie sie nur konnte. Bis zum letzten Loch im Gürtel. Dann ließ sie sich nach hinten fallen. Die Erde war nass vom Regen und weich. Sie wischte sich die blutigen Hände am Heidekraut neben sich ab.
Und jetzt?
Sie fuhr sich übers Gesicht. Was zum Teufel mache ich jetzt? Kein Netz. Das Funkgerät des Helikopters zertrümmert. Ein blutender Pilot, und ich habe keine verdammte Ahnung, wo wir sind.
Da spaltete ein weiterer blendend heller Blitz die Dunkelheit. Der Donner folgte den Bruchteil einer Sekunde später. Olivia presste die Hände auf die Ohren. Ich muss Hilfe holen. Sonst stirbt er hier im Moos. Wie schnell werden die wohl begreifen, dass wir abgestürzt sind? Vielleicht denken sie, dass wir irgendwo notgelandet sind, um das Wetter abzuwarten. Können sie uns überhaupt finden? Immerhin haben wir eine andere Route genommen, als das Unwetter kam. Tausend Gedanken schossen ihr durch den schmerzenden Kopf, und alle führten sie zur selben Antwort.
Sie musste Hilfe holen. Allein. Notraketen? Gab es im Helikopter Notraketen? Aber wer sollte die sehen? Dieses Paar draußen im Fjäll, das von oben wie Gestrüpp gewirkt hatte?
Olivia stand auf und fing an, nach ihrem Rucksack zu suchen. Er lag in der Nähe der Stelle, wo sie selbst zu sich gekommen war. Mit nassen Fingern zog sie die Öffnung auf und wühlte eine Karte und die Taschenlampe, die sie von Marja bekommen hatte, heraus. Sie faltete die Karte auf und versuchte, sich zu orientieren. Sie wusste, wohin sie unterwegs gewesen waren, wo sie abgebogen waren und wo in etwa sie am letzten Bergkamm abgestürzt waren.
Die Karte zeigte ausschließlich unbewohntes Gebiet. Abgesehen von ein paar Fischerhütten am Miekak-See. Das musste das Fischercamp sein, von dem Cathy in Umeå erzählt hatte. Laut Karte lagen die Hütten in südlicher Richtung, direkt unterhalb ihres Absturzortes. Das sah gar nicht so weit aus. Vielleicht waren da Menschen, vielleicht gab es sogar ein Telefon mit Netz. Olivia checkte, ob der Kompass in ihrem Handy funktionierte. Das tat er. Gut. Sie fasste einen Entschluss.
Viele Alternativen boten sich ihr ohnehin nicht. Pekka war schwer verletzt. Außerdem wollte sie selbst gern gefunden werden. Sie dachte an Lukas. Doch im nächsten Moment fielen ihr die Vielfraße ein, Aasfresser, die vermutlich bald die Witterung von Pekkas Blut aufnehmen würden. Das war alles andere als ein angenehmer Gedanke, doch sie schob ihn weg und ging zu dem Wrack. Zwischen den verbogenen Teilen entdeckte sie den Zipfel einer Decke. Sie zog sie heraus und riss noch ein Stück aus der Rückenlehne des Sitzes.
Pekka hatte sich ein bisschen weiter auf den Rücken gedreht. Sie beugte sich hinab, nahm ihm vorsichtig die Kopfhörer ab und schob das Stück von der Rückenlehne unter seinen Kopf.
Die Decke breitete sie über ihn. Er lag mit geschlossenen Augen da.
»Ich versuche, Hilfe zu holen, Pekka.«
Er reagierte nicht. Sie strich ihm über die Wange und erhob sich. Mehr konnte sie im Moment nicht tun. Sie setzte ihren Rucksack auf und ging los.
Hinaus in die Wildnis.
Du willst wissen wie es weitergeht?