Sarah Nisi: Ich will dir nah sein

Sie denken, Sie kennen Ihre Nachbarn? Sie wissen nichts.

London, Fundbüro des öffentlichen Nahverkehrs. Lester Sharp kümmert sich um herrenlose Fundsachen: Handys, Schlüssel, Portemonnaies – besonders gern um Kleidungsstücke und medizinische Gerätschaften. Er ist auch privat ein Sammler und Sonderling, der sich schwertut mit Frauen und zwischenmenschlichen Beziehungen. Als er der jungen Erin begegnet, weiß er zunächst nicht, wie er sich verhalten soll – findet aber schon bald eine Möglichkeit, ihr nah zu sein. Näher, als es ihr lieb sein kann...

Ein Psychothriller so intim und voyeuristisch, dass es einem kalt den Rücken hinunterläuft.

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Leserstimmen

Ein hervorragend ausgedachter Thriller

Von: MarcoL
15.07.2023

In London ist es nicht einfach, eine halbwegs gute und finanzierbare Wohnung zu bekommen. Umso glücklicher ist Erin, eine Balletttänzerin, dass es mit den eigenen vier Wänden geklappt hat. Und so ganz nebenbei läuft ihr Engagement bestens, die Premiere steht unmittelbar bevor.
Ihr Wohnungsnachbar ist ein Sonderling, und auch sichtlich froh, eine neue Nachbarin zu haben, zudem noch eine sehr hübsche. Lester hat allerdings ein psychisches Handicap – eine Wahrnehmungsauffälligkeit anderen Personen gegenüber , das führt dazu, dass er stalkt. Bereits vor 17 Jahren wurde er aktenkundig – und in kleinen eingeschobenen Kapiteln erfahren wir immer mehr von seinem damaligen Fall.
Er belauscht Erins Wohnung, was dank der sehr dünnen Wände kein Problem darstellt. In seinen Gedanken spinnen sich eine Zukunft mit seiner neuen Nachbarin, die in seiner Vorstellung sicher ganz und gar nicht anders kann als ihm zu verfallen … oder doch nicht?
Der #psychothriller ist sehr klug aufgebaut, erzählt abwechselnd von Erin und Lester, ihrer beider Wahrnehmungen. Der Leser wird hier sehr geschickt in die Gedankenwelt beider hineingezogen. Der Plot und die Charaktere sind sehr raffiniert ausgedacht, es schaukelt sich ganz langsam auf ohne das wirklich etwas passiert – aber dann, die finalen Szenen bieten … eine fulminantes, überraschendes Ende. Ich kann nur sagen – äußerst genial! Und somit eine ganz klare Leseempfehlung

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3,5 Sterne - Es fehlen einige Feinheiten

Von: Newspaper
18.03.2022

Inhalt:

„Er will ihr nah sein, noch näher, immer noch näher. Bis es irgendwann nicht näher geht.

London, Fundbüro des öffentlichen Nahverkehrs. Lester Sharp kümmert sich um herrenlose Fundsachen: Handys, Schlüssel, Portemonnaies – besonders gern um Kleidungsstücke und medizinische Gerätschaften. Er ist auch privat ein Sammler und Sonderling, der sich schwertut mit Frauen und zwischenmenschlichen Beziehungen. Als er der jungen Erin begegnet, weiß er zunächst nicht, wie er sich verhalten soll – findet aber schon bald eine Möglichkeit, ihr nah zu sein. Näher, als es ihr lieb sein kann …"





Schreibstil/Art:

Einen umfassenden Einblick erhält der Leser durch zwei ausschlaggebende Blickwinkel. Zu einem aus Sicht von Erin, zum anderen aus der, des unangenehmen Stalkers Lester. Rückblicke in Lesters Vergangenheit machen deutlich, dass er eine krankhafte Vorstellungskraft hat. Die beklemmende Nähe, die unbehagliche Aufdringlichkeit und das Eindringen in die Privatsphäre anderer, hat mir sehr gut gefallen.

Die Erzählart ist extrem ruhig, es sind auch recht wenige Schauplätze einbezogen und die Herangehensweise eher langsam. Gefährliche und interessante Momente waren mir persönlich zu schnell abgefrühstückt.





Fazit:

Was mir gefehlt hat, sind einige raffinierte Spannungsmomente sowie ausgeklügelte Schachzüge und Psychospielchen. Bis zum letzten Drittel passierte einfach zu wenig. Retten konnte die Geschichte das unerwartete Ende.

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LESTER
05. September – 19:43 Uhr
Noch ein letzter Klimmzug – dann war er fertig. Sein Bizeps arbeitete, die Bauchmuskeln waren angespannt. Er schnapptenach Luft. Geschafft. Er ließ die Trainingsstange los, die im Holzrahmen seiner Schlafzimmertür festgeschraubt war. Die Klimmzüge gehörten zu seinem Feierabendritual. Drei Durchgänge mit jeweils zehn Klimmzügen waren sein Tagespensum.
Es war, als würde sein Gehirn am Abend keine Ruhe finden, sein Körper nicht entspannen können, bevor er das Training nicht erledigt hatte.
Für einen Moment lehnte er sich gegen die Wand. In den letzten Monaten hatte er etwas Fett angesetzt. Der Bund seiner Hose schnitt in seinen Bauch. Das Gewicht wirkte sich negativ auf die Klimmzüge aus. Er rieb die Handflächen gegeneinander. Schwielen zeichneten die Haut seiner Hände. Er trug keine Handschuhe, das Leder schränkte die Greifbewegung zu sehr ein.
»Du kannst mich mal.«
Er horchte auf. Seine Nachbarn aus der Wohnung über ihm hatten eine Auseinandersetzung. »Würde ich ja gerne!«
Eine Tür knallte.
Er liebte seine Wohnung. Jedes Geräusch aus den angrenzenden Appartements war zu hören, fast jedes Wort zu verstehen.
Oft stand einer so ausgeprägten Hellhörigkeit ein solides Mauerwerk im Wege. Doch die heutige Bauweise, bei der es nur auf die Schnelligkeit der Errichtung ankam, nahm darauf keine Rücksicht. Architekten scherten sich nicht um die Privatsphäre künftiger Mieter. Er wusste, dass das Ehepaar seit Monaten keinen Sex mehr hatte. Immer wieder kam es zu Diskussionen zwischen den Ehepartnern. Die gegenseitigen Vorwürfe prallten von Wand zu Wand, hinunter bis in seine Wohnung, verloren sich in Sprachlosigkeit und Stille.
Er wusste nicht, wie das Paar hieß. Die Anonymität des Mehrfamilienhauses verhinderte den Austausch so profaner Informationen. Doch durch die Wände erfuhr man mehr, als ein Name je preisgeben könnte.
Gleich würde die Frau die Wohnung verlassen. Sie arbeitete als Nachtschwester im nahegelegenen Krankenhaus. Erst um sieben Uhr in der Früh würde sie zurückkommen. Ihr Mann würde jeden Moment den Fernseher anstellen. Gameshows oder Fußball. Das Paar war gefangen in einem Hamsterrad aus Beziehungsproblemen und Alltag.

Lester vermisste Bernard. Seit Bernard Irvine aus der Wohnung nebenan gestorben war, folgte das Leben in der Narrow Street 63a dem immer gleichen Ablauf. Bernard hatte Diabetes gehabt, sämtliche Gin-Sorten am Geruch erkennen können und in seinen letzten Lebensjahren ein Faible für kubanische Zigarren und Frauen aus dem Internet entwickelt. Er war 59 Jahre alt geworden und hatte mindestens zehn Jahre älter ausgesehen.
Als Bernards Herz kapitulierte und er laut angefangen hatte zu keuchen, hatte Lester sich gerade Rasierschaum auf die Wangen aufgetragen und die Klinge ansetzen wollen. Das Stöhnen aus der Nachbarwohnung war an sich nichts Ungewöhnliches gewesen. 350 Pfund Körpermasse konnten ohne entsprechende Laute nicht bewegt werden.
Noch am Abend zuvor hatte Bernard Besuch gehabt. Lester hatte die Frau durch den Spion seiner Tür beobachtet. Üppige Brüste, vermutlich operiert, wasserstoffblonde Haare, wahrscheinlich eine Perücke. Dazu Stiefel bis über die Knie. Bernards Geschmack war einfach gewesen.
Ein gewaltiger Rumms, gefolgt von dem Stöhnen, hatte Lester also an jenem Morgen aus seiner Routine gerissen. Er hatte eine Weile abgewartet, unschlüssig, was zu tun war. Als er schließlich gar keine Geräusche mehr hörte, verständigte er den Notarzt. Es ermöglichte ihm, nah am Geschehen zu bleiben und mit den Sanitätern in Bernards Wohnung zu schlüpfen. Es war weniger die Sorge um Bernards Zustand als die Neugier, die ihn getrieben hatte. Er musste wissen, was nebenan vor sich ging.
Der Arzt hatte Bernards Tod festgestellt und Lester für seine Aufmerksamkeit gedankt. »Es ist wichtig, ein Auge auf die Nachbarn zu haben.«
»Ein Ohr«, hatte er gesagt und gelacht – und es augenblicklich bereut, da Scherze in dieser Situation wohl nicht angemessen waren.
In dem allgemeinen Durcheinander hatte er die Gelegenheit genutzt und nach Bernards Wohnungsschlüssel gegriffen.
Er hatte einen letzten Blick auf seinen toten Nachbarn geworfen. Mit offenem Mund lag der wie ein Käfer auf dem Rücken. Arme und Beine von sich gestreckt.

Nur einen Tag nachdem Bernard abtransportiert worden war, begannen die Renovierungsarbeiten in der Wohnung. Seit Wochen, gar Monaten, arbeitete eine Truppe von Bauarbeitern daran, Bernards zwanzigjährige Herrschaft über die Räumlichkeiten ungeschehen zu machen.
Lester lockerte seine Armmuskeln, ließ seine Fingerknochen knacken. Wie weit waren die Handwerker?
Der Geruch frischer Farbe schlug ihm entgegen, als er die Nachbarwohnung betrat. Der Schlüssel in seiner Hand fühlte sich an wie ein Schatz.
Er nahm einen tiefen Atemzug, zog den durchdringenden Geruch des Lösungsmittels ein. Erst als die Schleimhäute in seiner Nase anfingen, sich taub anzufühlen und seine Augen zu brennen begannen, hörte er auf. Wie lange würde es dauern, bis der Farbgeruch von dem Eigengeruch eines neuen Mieters abgelöst wurde?

Überrascht schaute er sich um. Die Wohnung war bezugsfertig. Nichts erinnerte an Bernard und das Chaos aus Nippesfiguren, leeren Flaschen und von Rauch vergilbten Tapeten und Gardinen. Die Wände waren weiß. Das Parkett abgeschliffen. Das Holz ohne Makel. Sogar die Fenster waren neu. Er klopfte dagegen. Doppelglas.
Zu seiner Verwunderung hatten die Eigentümer entschieden, das Appartement zu möblieren. Damit würden sie eine höhere Miete herausschlagen können. Moderne Möbel und perfekt ausgerichtete Kissen auf dem Sofa verströmten eine Katalogatmosphäre. Das Grau des Sofas war abgestimmt auf den Ton der Gardinen. Eine rote Bodenvase sorgte für Farbe.
Keine persönlichen Gegenstände gaben Hinweis auf die Präferenzen eines Mieters. Wer würde eine solche Wohnung beziehen wollen, eingerichtet von einem Innenausstatter mit dem Ziel, einen möglichst breiten Geschmack zu treffen?

Lester setzte sich auf einen Sessel. Mit der Hand strich er über den Stoff, die Fasern fühlten sich rau an. Er verspürte keinerlei Befriedigung. Alle Möbel waren unbenutzt. Niemand hatte sich nach einem anstrengenden Tag auf das Sofa gelegt, die Füße auf dem Kissen ruhen lassen, den Kopf gegen das Polster gelehnt. Keine Haare, Hautpartikel, Schweißabdrücke waren zu entdecken.
Die Vermieter hatten wenig Platz zur Selbstgestaltung gelassen. Ein Bild an der Wand oder eine Stehlampe neben dem Fernseher – viele Möglichkeiten gab es nicht. Das Hotelambiente würde bleiben.
Er stand auf und ging ins Schlafzimmer. Die Wohnung war klein und beinahe quadratisch. In wenigen Schritten war er da. Er starrte auf die Tagesdecke, die über dem Bett ausgebreitet war.
Für einen Augenblick glaubte er, den Duft eines Parfums zu riechen. Er drehte den Kopf, nahm die Fährte auf. Doch je mehr er sich konzentrierte, desto weniger war der Geruch wahrnehmbar.

Er widerstand der Versuchung, sich auf das Bett zu legen. Mit einer Hand strich er über die Decke, dann drückte er die Matratze nach unten. Sie war weicher als seine. Er spürte die Sprungfedern unter seinen Fingern.

Kategorie: Queen-Size-Bett
Marke: unbekannt
Fundort: Nachbarwohnung
Zustand: neu
Besonderes Merkmal: Federkernmatratze
Persönliches Interesse: acht

Vorsichtig hob er die Decke an. Er beugte sich zum Kopfkissen und legte den Kopf für einen Moment darauf ab.
Dann richtete er sich wieder auf. Seine Nase, das Kinn und die Stirn hatten Abdrücke auf dem Kissen hinterlassen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis ein neuer Mieter in die Wohnung einzog. Herzlich willkommen.

(…)
LESTER
07. September – 10:32 Uhr
Sein Gesicht war so dicht an der Wohnungstür, dass seine Wimpern das Holz berührten. Durch den Spion hatte er den Eingang der Nachbarwohnung und einen Teil des Hausflurs im Blick. Er hielt den Atem an.
Eine Frau trat aus Bernards Wohnung. Sie trug ein kurzes Kleid. Es betonte ihre Schultern. Ihre Beine. Nackte Haut. Zum Greifen nah.
Ihre Arme waren dünn und trotzdem trainiert. Noch nie hatte er so zarte Muskeln an den Oberarmen einer Frau gesehen.
Ihre Haut war blass, beinahe transparent. Ihr Rücken war kerzengerade. In diesem Moment zog sie die Wohnungstür hinter sich zu.
Ein Mann hatte die Wohnung vor einigen Minuten verlassen. Es musste ein Makler gewesen sein. Mit Aktentasche und geschäftigem Gesichtsausdruck war er den Flur entlanggeeilt.
Mit einem Klappern fiel ihr Schlüsselbund auf den Boden.
Seine Hand griff zur Klinke. Sollte er rausgehen? Sich vorstellen? Er zögerte. Wollte den Augenblick genießen.

Er hatte eine neue Nachbarin. Verlangen breitete sich in seinen Adern aus. Eine Frau.
Sein Blick klebte auf ihrem Hintern. Bevor er eine Entscheidung treffen konnte, hatte sie den Schlüsselbund aufgehoben und lief zur Treppe. Sie schien über den Boden zu schweben, als würde sie an einem Faden nach oben gezogen. Sie bewegte sich, als könnte die Schwerkraft ihr nichts anhaben.
Seine Finger krallten sich an der Klinke fest. Ihre Haare waren dunkel. Kinnlänge. Strähnen standen zur Seite ab. Der fransige Pony hing über die Augenbrauen. Ihre Frisur betonte ihren Hals. Ihr Hals war schmal. Verletzlich.

Plötzlich schaute sie in seine Richtung. Er erstarrte. Dann fiel ihm ein, dass sie ihn durch den Spion nicht sehen konnte.
Spürte sie seine Blicke? Er hob die Hand hinter der Tür, zum Gruß. Sie lief an ihm vorbei. So nah. Ahnungslos. Herzlich willkommen.

Sie hatte nicht abgeschlossen. Wie sorglos sie war. Oder war sie unaufmerksam? Die Türen in diesem Wohnblock ließen sich ohne große Kraftanstrengung aufhebeln. Diverse Einbrüche in den letzten Jahren zeugten davon. Er schielte zur obersten Schublade seines Schuhschranks. Dort bewahrte er die Schlüssel auf. Seine Errungenschaften. Er könnte die Wohnungstür der neuen Nachbarin abschließen. Sicherlich wäre sie dankbar für seine Umsicht. Aber dann wüsste sie, dass er, oder jemand, einen Schlüssel hatte. Nein.
Er wandte sich wieder dem Spion zu, wollte einen letzten Blick auf sie erhaschen, bevor sie aus seinem Blickfeld verschwand. Mit einem Zischen zog er Luft ein. Die Alte aus 6B kam mit einem untrüglichen Gefühl für den richtigen Zeitpunkt die Treppe hinaufgeschlichen. Sobald im Hausflur eine Entdeckung zu machen war, sei es der Briefträger, eine entlaufene Katze oder ein Klapprad, das am Geländer lehnte – die Alte war sofort zur Stelle.

Mit ihrer knochigen Hand hielt sie sich am Geländer fest. Der defekte Lift setzte ihr zu. Sie schien ihre gesamte Energie dafür aufbringen zu müssen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Nur mit Mühe schaffte sie es, den Einkauf in ihre Etage zu tragen. Gleich würden beide Frauen aufeinandertreffen.
Sie reichten sich die Hand. Die neue Nachbarin griff der Alten unter die Arme. Beide lächelten. Die Neue nahm die Einkaufstaschen der Alten, zwei an der Zahl, mit Leichtigkeit.
Sie war kräftig. Trotz der dünnen Arme.
Er kniff die Augen zusammen. Die Alte hatte zu viel Rouge auf den Wangen. Ihre weißen Haare oberhalb der Ohren und an den Schläfen waren von dem Make-up rot verfärbt. Selbst aus dieser Entfernung konnte er die dicke Schicht aus Puder erkennen. Er stellte sich vor, wie es wäre, ihr gesamtes Gesicht einfach wegzupusten. Seine Kieferknochen knackten.

Sarah Nisi
© privat

Sarah Nisi lebt seit 2012 in London. In Hildesheim geboren, arbeitete die Wirtschaftsjuristin einige Jahre in Düsseldorf, bevor sie für ein Studium in Creative Writing in die britische Hauptstadt zog. Seitdem widmet die Deutsch-Britin den Großteil ihrer Zeit dem Schreiben.
Viele ihrer Kurzgeschichten wurden bereits in Anthologien verschiedener deutscher Verlage veröffentlicht – mit »Bühne frei« belegte sie den zweiten Platz des deutschen Agatha-Christie-Krimipreises. »Ich will dir nah sein« ist ihr erster Roman.

Interview mit Sarah Nisi

1. Was hat dich zum Schreiben gebracht?

Mich fasziniert die Möglichkeit, mit Worten eine Geschichte zu erzählen und auf diese Weise Bilder, Gefühle und eine Reaktion im Leser zu wecken. In meiner Familie hatte jede Art von Kunst einen hohen Stellenwert. Ich habe mir schon als Kind Geschichten ausgedacht und geschrieben, hatte als Jugendliche immer ein Buch in der Hand. Durch mein Wirtschaftsrechtstudium habe ich damals gelernt, strukturiert zu schreiben, meine Gedanken zu ordnen und zu Papier zu bringen – auch mit einer gewissen Kreativität. Ich glaube, das war tatsächlich unterbewusst der Start. Die Chance, ein paar Jahre später in London Creative Writing zu studieren, war toll und für mich eine logische Folge. Ich wollte eine Herausforderung.
Mittlerweile lebe ich seit 2012 in London und liebe den Trubel und das kulturelle Angebot der Stadt. Zuvor habe ich viele Jahre in Düsseldorf gewohnt; aufgewachsen bin ich in Hildesheim. Ich mag das Gefühl, in zwei Ländern zu Hause zu sein. Das hat etwas sehr Erfrischendes.

2. Was fasziniert dich an der Geschichte von »Ich will dir nah sein« bzw. woher stammt die Idee?

Ich finde es spannend, wenn Dinge sich im Kopf eines Charakters abspielen und Grenzen verschwimmen. Bilde ich mir ein komisches Gefühl nur ein oder klingeln meine Alarmglocken zu Recht? Warum empfinden wir bestimmte Dinge als unheimlich und andere nicht? Warum realisieren wir Gefahr in manchen Situationen zu spät? Die Leser sollen die Beweggründe der Figuren nachvollziehen können. Sie tragen die Geschichte. Spannung ist wichtig. Und das Gefühl, dass alles auch ganz anders sein könnte.
Die Idee zu dem Buch basiert auf mehreren Dingen: das alte Filmstudio und die Bildbibliothek, das öffentliche Fundbüro und ein hellhöriges Mietshaus spukten eine Weile in meinem Kopf herum. Ein Zeitungsartikel über eine gehörlose Familie mit einem hörenden Kind und ein viktorianisches Ear Trumpet in einem Museum sorgten für den Rest.

3. Welche Rolle spielt London in deinem Buch? Welche Orte haben dich inspiriert?


Viele Schauplätze in meinem Buch entsprechen realen Gegebenheiten. Das Sands Films Studio und die Rotherhithe Picture Research Library zum Beispiel, aber auch das Fundbüro des öffentlichen Nahverkehrs. In London stolpert man jeden Tag über Kuriositäten, die Stadt ist voll mit Inspirationen. Es gibt zig Museen, die sich ungewöhnlichen Themen widmen, wie zum Beispiel das Old Operating Theatre, in dem alte medizinische Geräte ausgestellt sind, dort finden aber auch Talks und Konzerte statt. Broadway Market, ein Markt in Hackney, hat einen interessanten Vibe und musste einfach in meinem Roman auftauchen. Die Straße ist rund 250m lang und hat allein drei Buchläden! Ohne London wäre dieses Buch in dieser Form nicht entstanden.
Ich mag Details, die auf eine Art außergewöhnlich sind. Ich bin ein visueller Mensch, oft sind es also Sachen, die ich sehe, oder die zufällig meinen Weg kreuzen. Ich bin immer auf der Suche nach Dingen und Orten, die in unserem Alltag sind, denen wir aber keine große Bedeutung beimessen. Ich liebe den Satz: Everything is a story. Das stimmt. Es kommt nur auf den Blickwinkel an.


4. Wie sieht dein perfekter Schreibtag aus? Schreibst du einfach drauf los oder planst du deine „Schreibeinheiten“? Kannst du überall schreiben oder bevorzugst du einen festen Schreibort?

Ich schreibe am liebsten draußen - im Park oder an der Themse, aber auch in Cafés, Museen oder zum Beispiel in der Lobby eines Kinos, Theaters, oder in einer Bibliothek. Ich schreibe fast nie zu Hause. Meinen Roman habe ich quer durch London geschrieben. Ich brauche eine bestimmte Art von Umgebung, die mich kreativ werden lässt. Oft überlege ich mir vorher, wo ich am nächsten Tag arbeiten werde. Ich habe eine Handvoll Lieblingsschreiborte, zu denen ich immer wieder gehe. Ich probiere aber auch gern Neues aus.
Ich plane viel, plotte die Szenen, bevor ich anfange das Manuskript zu schreiben. Auf diese Weise arbeite ich im Schreibprozess oft an verschiedenen Szenen gleichzeitig. Ich schreibe nie chronologisch. Der Anfang und das Ende sind für mich die Startpunkte. Ich versuche jeden Tag ein bestimmtes Pensum zu schaffen. Das klappt mal besser, mal schlechter.

Schauplätze aus dem Buch

alle Fotos: (c) Sarah Nisi