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Dankesrede von Juli Zeh

Verleihung des Heinrich-Böll-Preises im Historischen Rathaus der Stadt Köln

8. November 2019

Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Oberbürgermeisterin, liebe mich großzügig mit diesem wunderbaren Preis ehrende Jury, liebe Freunde,

wir versammeln uns heute im Namen und unter der geistigen Schirmherrschaft eines Mannes, der das Bild von politischer Autorenschaft in Deutschland, gemeinsam mit einer kleinen Anzahl anderer Großschriftsteller, entscheidend geprägt hat.

In der Nachfolge von Heinrich Böll und seinen berühmten Kollegen hat sich die Erwartung entwickelt, dass Schriftsteller und (inzwischen auch) Schriftstellerinnen am geistig-politischen Leben im Land teilnehmen, sich äußern, engagieren, positionieren, kritisieren, opponieren und vielleicht sogar eine moralische Instanz abgeben.

Wie weit ist es damit heute eigentlich her? Ich möchte den Anlass nutzen, um einmal vom Fluchtpunkt „Heinrich Böll“ her die jüngere Entwicklung von politischer Autorenschaft, nämlich während der letzten zwanzig Jahre, in den Blick zu nehmen.

Isoliert betrachtet ist die Frage, wie viel Prozent Politik in einem Autor oder seinen Texten zu finden sind, eigentlich ziemlich uninteressant – wenn man nicht gerade eine Doktorarbeit über die Formen des Politischen in der zeitgenössischen Literatur schreibt. Brisant wird eine solche Betrachtung aber dadurch, dass der Zustand politischer Autorenschaft immer auch den Zustand des Politischen an sich abbildet.

Literatur und zu einem gewissen Grade auch die Literaten selbst sind Zeitgeist-Seismographen. Ob die Autoren wollen oder nicht – in ihrem Denken, Reden und Schreiben scheint immer auch eine verdichtete Form von kollektiver Befindlichkeit auf. Das hat erst einmal nichts mit politischem Engagement zu tun. Jedes Stück Literatur, egal, ob U oder E, spiegelt die gesellschaftlichen Bedingungen wider, unter denen es entstanden ist. Literatur handelt vom Mensch-Sein, und das Menschliche ist stets kulturell, also auch historisch, sozial und politisch bedingt. Schriftsteller besitzen eine besondere Sensibilität zur Wahrnehmung ihrer Umgebung – sonst hätten sie nichts, worüber sie schreiben könnten, und müssten sich einen anderen Beruf aussuchen. Auch wenn es dem einzelnen Autor vielleicht nicht immer bewusst ist, er fängt gesellschaftliche Schwingungen auf und gibt sie in seinen Texten wieder, selbst dann, wenn sie noch zu fein sind, um bewusst erkannt und analysiert zu werden. Deshalb zeigen sich in Romanen oft Trends, die dann erst Jahre oder Jahrzehnte später in der Realität manifest werden. Im Nachhinein erscheint uns das fast wie ein Wunder, wie schriftstellerische Hellseherei; letztlich handelt es sich aber um einen ganz normalen literarischen Vorgang.

Die Frage nach dem Zustand politischer Autorenschaft misst also gleichzeitig dem gesamtgesellschaftlichen politischen Selbstverständnis den Puls. Deshalb fragen Journalisten und Wissenschaftler danach, immer wieder. Deshalb lohnt sich auch für uns heute ein kurzer Blick.

Als vor bald zwanzig Jahren mein erster Roman „Adler und Engel“ erschien, wurde ich ständig nach dem Zustand politischer Autorenschaft in unserem Land gefragt, von Journalisten und von Lesern, immer wieder. Die genaue Frage lautete, warum die junge Autorengeneration in Deutschland so unpolitisch sei, damals, im Jahr 2001.

Die terroristische Großkatastrophe vom elften September hatte sich gerade ereignet. Eine Allianz der Gerechten marschierte erst in Afghanistan, dann im Irak ein. Völkerrecht wurde gebrochen, die UNO marginalisiert. Die islamische Welt wurde zum neuen Feind erklärt.

Es war nicht so, dass es nichts zu sagen gegeben hätte.

Ungerührt feierte währenddessen der Buchmarkt Popliteratur und Fräuleinwunder, also Formen von Text und Autorenschaft, die das Banal-Alltägliche zum substanziellen literarischen Gegenstand erhoben. Da wurde in Texten stundenlang blicklos aus dem Fenster geguckt, ohne dass irgendetwas passierte außer dem Anzünden und Ausdrücken von Zigaretten. Passiv-aggressive Melancholie jenseits der Sinnkrise. Weniger Engagement ging nicht.

Wieder und wieder wurde ich damals gefragt, warum das so sei. Was war los mit den jungen Schriftstellern? Erklärlich schien das Verhalten nur als Folge von Überforderung mit den vielen und immer globaleren Krisen um uns herum: ein literarischer Rückzug ins Private als Flucht aus dem Politischen.

Das glaube ich aber nicht. Ich glaube, da nahm etwas Schlimmeres seinen Anfang, etwas, das sich bis heute immer rasanter gesteigert hat, mit der Dynamik einer Kernschmelze. Die Auswirkungen fliegen uns inzwischen heimsphärenweit um die Ohren.

Ich würde die fast flächendeckende De-Politisierung von Nachwuchsschriftstellern und anderen Intellektuellen zu Beginn des Jahrtausends eher als eine überhebliche Abwendung des Individuums von der Gemeinschaft charakterisieren. Am treffendsten fasst man es mit einem auf den ersten Blick oberflächlichen, auf den zweiten jedoch verdammt abgründigen Begriff: Politik war irgendwie „uncool“ geworden.

Da klebte plötzlich etwas Altmodisches, Verstaubtes, ja, Peinliches am engagierten Gewese. Diese alten weißen Männer, Böll/Grass/Walser/Enzensberger mit ihren Spiegel-Covern, ihren aufgeblasenen Rivalitäten und der ganzen Wichtigtuerei! Das betuliche Beschwören der Demokratie, das hysterische Gehabe von Arbeitskreisgründern, das naive Anhaften an Weltverbesserungsträumen – all das war unter der Würde der neuen, abgeklärten, grundironischen Generation. Es ging die Rede vom Karren, vor den man sich nicht spannen lassen wollte. Von moralischen Zeigefingern, mit denen man nichts zu tun haben mochte. Denn immerhin versucht Moral, allgemeine Regeln für das Zusammenleben aufzustellen, während der neue Zeitgeist allen Ernstes glaubte, nur in konsequent ich-bezogener Selbstverwirklichungsfreiheit sein Seelenheil zu finden.

Entsprechend präsentierten sich die jungen Autoren: selbstbewusst und selbstbezogen, gepanzert mit etwas, das sie vielleicht sogar für klugen Skeptizismus hielten.

Das war die erste Stufe: aus Coolnessgründen a-politisch sein.

Die zweite Stufe zündete in meinem Bewusstsein zwölf Jahre später, nämlich vor der Bundestagswahl 2013. Damals saß ich mit einem sehr prominenten Schriftstellerkollegen meiner Generation auf einem Podium. Wir sollten und wollten über den bevorstehenden Urnengang sprechen.
Der berühmte Kollege blickte mürrisch auf seine Hände und verkündete, er könne sich leider mit keiner der konkurrierenden Parteien identifizieren. Im Übrigen sei es ihm persönlich nicht wichtig, ob er wählen gehe oder nicht. Es handele sich um die vermutlich belangloseste Wahl in der Geschichte der Bundesrepublik. Alle Parteien seien doch irgendwie gleich, es gebe nur noch eine einzige Mega-Partei. Außerdem habe man es bei den heutigen Politikern mit einem kollektiven Verlust von Utopiefähigkeit zu tun.

Ich konnte kaum glauben, was ich da hörte. Da stilisierte jemand seine Politikverweigerung zu einer neuen Form von politischer Überlegenheit.

Burkhard Spinnen hat in seiner Laudatio eine Zeit erwähnt, in dem „Schweinestaat“ an den Mauern deutscher Universitäten stand. Das ist ein starker, auch ein bisschen pubertärer, jedenfalls gewiss übertriebener Angriff, hinter dem aber eins stand: Kritik an tatsächlichen Zuständen im Land, also die leidenschaftliche Ablehnung von bestimmten politischen Handlungen oder Personen – sowie die Vorstellung von einer besseren politischen Welt. Mit anderen Worten: Es ging um etwas. Nicht um nichts, und schon gar nicht um das politische Nichts.

Auf diesem Podium im Jahr 2013 erlebte ich eine öffentlich inszenierte Radikalablehnung des Politischen an sich und des Politikers an sich, also auch: eine Ablehnung der Demokratie. Und zwar nicht durch abgedrehte Reichsbürger, sondern durch hoch gebildete, in hohem Maße anerkannte Bürger aus der Mitte der Gesellschaft. Vorbildfiguren der deutschen Demokratie. Hier wurde Politikverdrossenheit zur mehrheitsfähigen Politikverachtung, indem sich der Einzelne nicht nur cool abwandte, sondern sich mit gerecktem Zeigefinger höhnisch über den politischen Betrieb erhob.

Applaudiert wurde den neuen elitären Nichtwählern und ihren angeblich mutigen Bekenntnissen nicht nur bei dieser Podiumsdiskussion, sondern in der gesamten Republik. Fast war es, als hätte sich eine Schleuse geöffnet. Auf einmal waren die Intellektuellen nicht mehr nur auf coole Weise desinteressiert an Politik – sie waren ausdrücklich dagegen. Nicht gegen ein bestimmtes politisches Programm (das sie ja auch gar nicht gelesen hatten), sondern gegen Politik an sich. Vor allem gegen Politiker, alle Politiker, die immer unverfrorener als minderwertiger Menschenschlag geschildert wurden.

Die Feuilletons und Talkshows nahmen das nur zu gerne auf. Auf allen Kanälen wurde gegen die Parteien und ihr „mediokres“ Personal gewettert. Philosophen, Schauspieler, Wirtschaftswissenschaftler und prominente Journalisten stimmten ein. Immer feste druff – auf die Politik und das System. Ein bedeutender Philosoph behauptete, gar nicht zu wissen, wann Wahltag sei. Ein jüngerer, nicht minder bedeutender Kollege sprach vom „Kinderkrempel-Wahlkampf“. Steindumme Floskeln fanden tosenden Beifall, und zwar nicht nur am weltgrößten Stammtisch namens Internet, sondern auch in den
Kommentarspalten der Qualitätspresse.

Wie so oft kannte der Schwachsinn keine Grenzen. Neu war, dass man ihn als mutigen Tabubruch inszenierte, der sich aufmerksamkeitsökonomisch ausschlachten ließ. Und, meine Damen und Herren, das möchten wir bitte noch einmal fest in den Blick nehmen: Dieser Schwachsinn stammte nicht etwa aus den Mündern von abgehängten Wendeverlierern. Sondern von anerkannten Vertretern der intelligenten Klasse.

Verstehen Sie mich nicht falsch, das soll kein Kollegen-Bashing sein. Es gibt nach wie vor genug Autoren im Land, die sich redlich bemühen, ihrer gesellschaftlichen Funktion auf konstruktive Weise gerecht zu werden. Ebenso wenig will ich behaupten, dass Schriftsteller Schuld trügen am Verfall des politischen Bewusstseins in unserem Land. Aber mich interessiert – wie erwähnt – der Zustand von politischer Autorenschaft als Vergrößerungsglas. Als etwas, das uns zeigt, wie wir alle – wenigstens ein bisschen – sind.

Man muss sich nur einmal vor Augen halten, wie kilometerweit dieses verächtliche Benehmen, diese zynischen Äußerungen entfernt sind von dem, was einst Heinrich Böll unter politischem Engagement verstand. Böll war ganz bewusst kein Mitglied einer Partei. Auch war er genug Kind seiner Zeit, um jeder Form von Obrigkeit mindestens skeptisch gegenüberzustehen. Er wird teilweise sogar als Anarchist bezeichnet, was ich persönlich nicht so treffend finde. Oder höchstens in dem Sinn, in dem Böll selbst den Anarchisten definiert hat, nämlich als einen „Menschen, [der] verschiedene Lebensstile und Interessen in einer Gesellschaft (zusammen)denken“ kann.
Bei allem gepflegten Einzelgängertum – Heinrich Böll vertrat zeit seines Lebens das Ideal des aufgeklärten, verantwortungsbewussten Citoyens. Er wirkte im Herzen der bundesrepublikanischen Demokratie und nicht gegen sie.

Ich finde, wenn man sich dieses Bild vor Augen ruft, sieht man sofort, was sich tatsächlich verändert hat. Was wirklich unser Problem ist. Wenn prominente deutsche Intellektuelle schon zur Bundestagswahl 2013, zwei Jahre vor der Flüchtlingskrise, das praktizierte demokratische Leben in Deutschland als dysfunktional beschrieben, den Politikbetrieb ins Lächerliche zogen und seine Repräsentanten verächtlich machten, und wenn sie auf diese Weise jede Menge Rampenlicht und Applaus einheimsten – wie sieht es dann in unser aller demokratischen Herzen aus?

Es ist ja kein Zufall, dass überall in der westlichen Hemisphäre Kandidaten in politische Ämter gewählt werden, die sich selbst ebenso paradox wie erfolgreich als betont politik- bzw. elitenfeindlich inszenieren. Donald Trump (Anti-Washington) und Boris Johnson (Anti-Brüssel) sind hierfür ebenso Beispiele wie die Hardliner der AfD (Anti-Bundesrepublik). Aus Politikverachtung ist ein politisches Konzept geworden, das vor allem am rechten Rand verfängt.

Auch die überraschenden Wahlsiege von Komikern, Kabarettisten und anderen Künstlern überall in Europa zählen in diese Kategorie. Indirekt auch die Inszenierung von Robert Habeck in Lederjacke und Rocker-Pose auf dem Cover eines großen Nachrichtenmagazins. Ebenso der gewaltige mediale Erfolg von Greta Thunberg, die ausdrücklich das Anprangern von vermeintlichem Politikversagen („How dare you?“) an die Stelle von konstruktiven Vorschlägen setzt.

Was für ein trauriges Paradoxon: Zivilgesellschaftliches, außerparteiliches Engagement ist ja durchaus wichtig für eine Demokratie. Aber es kann umschlagen ins Bedrohliche, wenn es der Behauptung entspringt, dass das demokratische System und seine Repräsentanten überhaupt nicht (mehr) in der Lage seien, den Herausforderungen unserer Zeit gerecht zu werden.

Wenn die Bürger sich selbst mit allen Bedürfnissen und Ängsten und Wünschen nicht mehr als Teil einer demokratisch verfassten Gemeinschaft begreifen, in der sie sich politisch verwirklichen können, dann entzieht das der Demokratie ihr Lebenselixier. Dann öffnet sich eine antagonistische Front: wir gegen die, unten gegen oben, außen gegen innen, Zentrum gegen Peripherie. Es ist dann nur noch eine Geschmacksfrage, wie friedlich oder gewalttätig sich der Protest gestalten wird.

Stufe Drei. Kürzlich schrieb die Autorin Thea Dorn in der ZEIT darüber, wie sie sich auf dem Weg zu einem großen Literaturfestival, nämlich dem Göttinger Literaturherbst, Gedanken darüber machte, inwieweit sie ihre leicht Fridays-For-Future-kritische Haltung öffentlich ausdrücken könnte, ohne als „Klimaleugnerin“ vom Podium gebrüllt zu werden. Kurz darauf erlebte sie auf ebendiesem Festival mit, wie der frühere Innenminister Thomas de Mazière von „Aktivisten“ daran gehindert wurde, aus seinem aktuellen Buch vorzulesen. Nur wenige Tage zuvor war AfD-Mitbegründer Bernd Lucke niedergebrüllt worden, als er versuchte, an der Universität Hamburg eine Vorlesung zu halten. Dem FDP-Politiker Christian Lindner wurde eine Diskussionsveranstaltung an der gleichen Uni von vornherein untersagt. Thea Dorn fragt in ihrem Essay zu Recht, was das über unser Land aussagt.

Auf Stufe Drei wird der Politiker zum allgemeinen Feind, den man am öffentlichen Sprechen hindern muss. Und auf Stufe Dreieinhalb erträgt man dann überhaupt keine vom eigenen Weltbild abweichenden Meinungsäußerungen mehr. Auch nicht, wenn sie von Nicht-Politikern stammen. Dann bedeutet die Politisierung des Privaten plötzlich, dass sich Freundeskreise trennen, dass sich langjährige, gute kollegiale Beziehungen auflösen, weil der eine etwas über Flüchtlinge oder übers Klima gesagt hat, was der andere nicht erträgt. Auf Stufe dreieinhalb gibt es also eigentlich gar keinen Unterschied mehr zwischen Politikern und Nicht-Politikern. Es gibt vor allem noch Leute, die Dinge sagen, die mir nicht gefallen. Und die man gegebenenfalls daran hindern muss.

Meine vierjährige Tochter sagte neulich zu mir: „Mama, ich finde es schade, dass nicht alle ich sind. Sonst hätte ich viele Freunde.“

Können wir wirklich zulassen, dass diese kindliche Äußerung zum politischen Programm mutiert?

Inzwischen sind verbale und auch körperliche Angriffe auf Politiker an der bundesdeutschen Tagesordnung, egal, ob sie von „links“ oder von „rechts“ erfolgen. Geben wir uns nicht der bequemen Annahme hin, es handele sich jeweils um Einzelfälle, um Exzesse von hasskranken, im Internet radikalisierten Spinnern. Wir tragen alle Mitschuld, und wir können den verhängnisvollen Trend nur aufhalten, wenn wir den Kern des Problems im eigenen Denken aufspüren. Jeder von uns. Wir Autoren in unserer Funktion als öffentlich Sprechende, aber auch jeder Einzelne in seinem privaten Umfeld.

Es ist höchste Zeit, den demokratischen Selbsthass zu beenden und zu einem respektvollen Umgang mit unserem System, mit uns selbst und miteinander zurückzukehren. Wenn wir den demokratischen Institutionen unsere Unterstützung entziehen, wenn wir uns Frustration und Zynismus überlassen und bis zu der Auffassung hinabsinken, unsere Regierungen und Institutionen, gleich ob in Berlin oder Brüssel, seien allesamt nichts wert, erfüllten ihre Aufgaben nicht und könnten am Gang der Dinge ohnehin nichts ändern – dann werfen wir sämtliche Instrumente weg, die uns zur Verfügung stehen, um den Aufgaben unserer Zeit zu begegnen, ganz egal, ob es sich um Klima, digitalen Wandel oder Flüchtlingsströme handelt.

Eine Zeitlang mag die Demokratie unsere Verachtung noch verkraften – sie brummt weiter mit dem Schwung, den sie in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts aufnehmen konnte. Aber ewig wir das nicht so weitergehen. Demokratie braucht Demokraten, sonst stirbt sie von innen.

Lassen Sie aufwachsen, meine Damen und Herren, so erwachsen werden, dass wir die Zumutungen des demokratischen Prozesses tatsächlich aushalten. Auch wenn Gedankenaustausch und Interessenausgleich noch so anstrengend, quälend langsam und frustrierend sein können. Auch wenn hart errungene Kompromisse noch so fade schmecken und das politische Tagesgeschäft insgesamt ziemlich wenig glamourös, cool oder sexy ist. Schluss mit Bequemlichkeit und Beleidigtsein. Schluss mit der ebenso albernen wie gefährlichen Behauptung, die Demokratie könnte es mit dem 21. Jahrhundert nicht aufnehmen.

Wir, jeder Einzelne von uns, als Schriftsteller, als Bürger, sind das Rückgrat der Demokratie, sofern wir selbst ein Rückgrat besitzen. Die demokratische Freiheit hat meine Generation geschenkt bekommen. Jetzt müssen wir noch stark genug werden, um uns selbst und einander in Freiheit zu ertragen. Denn das ist Politischsein im besten demokratischen Sinne: immer wieder das Anders-Sein des Anderen als Äquivalent und Bedingung der eigenen Selbstverwirklichung zu erkennen. Heinrich Böll hat vorgemacht, wie das geht: verschiedene Lebensstile und Interessen in einer Gesellschaft zusammendenken.

Andernfalls kannibalisieren wir unser System. Andernfalls lassen wir zu, dass die Demokratie von ihren besten Kindern gefressen wird. Nicht von den Rändern her, sondern aus der Mitte.

Und dann, meine Damen und Herren, habe ich ehrlich gesagt keine Lust herauszufinden, was uns auf Stufe vier erwartet.

Vielen Dank.

GENRE