Recherchepanne
(Eine Weihnachtsgeschichte)
Es gibt ja diese Abende, die immer länger werden, manchmal auch bierseliger oder – der Jahreszeit angemessen – glühweinseliger. Dann packt jeder seine verrücktesten, seltsamsten und geliebtesten Anekdoten aus, und danach schüttelt irgendwer den Kopf. „Echt irre, kaum zu glauben.“
„Aber ist passiert!“, versichert der Erzähler, und weil alle irgendwie befreundet sind, wird auch alles Unglaubwürdige geglaubt.
Und irgendwann sagt dann immer einer: „Mensch, Boris, warum schreibst du nicht darüber? Du solltest ein Buch aus den ganzen Geschichten machen!“
Ich lehne das immer ab. „Ihr sagt doch selbst, die Geschichten glaubt kein Mensch. Aber genau darum geht es bei Romanen: dass sie geglaubt werden, nicht dass sie wirklich geschehen sind. Manchmal hilft Letzteres, aber …“
„Aber was machst du damit? Der Mann mit dem Silberkoffer zum Beispiel, oder der Junge, der deinen Kopf nicht sehen konnte. Die Sache mit der Recherche bei Knorre. Das ist doch schade drum, das nicht zu verwenden.“
„Ich erzähl das manchmal als Reiseanekdoten auf einer Lesung. Oder in einem Interview.“
„Bei Reiseanekdote fällt mir ein …“, sagt dann wieder irgendwer und reißt das Wort an sich, und der Abend geht fröhlich weiter.
Und ich überlege und überlege und überlege, ob ich nicht doch etwas mit all den Geschichten anfangen kann, die mir oder irgendwem tatsächlich passiert sind.
Darum war ich froh, als mich Elvina von Heyne auch dieses Jahr wieder um einen Beitrag für diesen Adventskalender gebeten hat. Denn eine meiner Anekdoten passt hier wie Faust aufs Auge.
Das, was ich jetzt erzähle, ist vor ziemlich genau zwei Jahren passiert. Ich war damals gerade am Recherchieren für Die Feuer von Arknon, und wie bei Fantasytiteln üblich, wandte ich mich dafür an meinen alten Kumpel Knorre, der einen außergewöhnlichen Recherchehof für Phantasten betreibt. Weil er sich damit in einer rechtlichen – sagen wir mal – Grauzone bewegt und wenig Aufsehen erregen möchte, hat er den Hof in einem Tal hinter sieben steilen Bergen errichtet, in dem stets Nebel herrscht. Im Umland liegen zahlreiche Tropfsteinhöhlen, ein schwarzer tiefer Teich und ein künstlich angelegtes Labyrinth mit diversen gepolsterten Fallgruben und anderem Schnickschnack. Drei der Bäume hinter dem Hof können sprechen, jedoch keiner Deutsch und einer – seltsamerweise – nur Klingonisch.
Man kann sich Schwerter, Degen, Laserschwerter, Morgensterne, Kettensägen und obskurere Waffen für Probekämpfe leihen oder mit einem Androiden Schach spielen. Man kann sich von Clowns erschrecken lassen oder mit einem Superheldencape Bodyflying betreiben. Man kann die seltsamsten Wesen mit ebenso seltsamen Sätteln satteln und sie reiten oder von ihnen auf dicken Matten abgeworfen werden. Man kann mit einem freundlichen Troll unter einer bröckelnden Brücke Armdrücken. Oder man kümmert sich einfach um den Fantasy-Alltag und wechselt ohne Wagenheber ein Kutschrad, schreibt mit alter Tinte auf Pergament oder entzündet mit Feuersteinen ein Lagerfeuer.
Ich selbst war diesmal da, um einen Drachen im nächtlichen Schneesturm zu fliegen.
„Du machst es deinen Figuren nicht leicht, oder?“, fragte Knorre und rief nach dem grün geschuppten Drachen namens Feuerschwinge, dessen Mutter eine Rot-Grün-Sehschwäche gehabt hatte.
„Wer tut das schon?“, erwiderte ich, schlüpfte in die dicken Lederklamotten und setzte den Motorradhelm auf. Das war nicht nur eine Frage der Kälte, sondern Knorre bestand auf ein Mindestmaß an Sicherheit. Versicherungsschutz gab es in seiner Grauzone nicht.
„Servus, Boris, wie geht’s?“, knurrte Feuerschwinge zur Begrüßung –, wir kannten uns schon von der Recherche zum ersten Drachenflüsterer her.
„Servus. Und selbst?“ Ich schwang mich auf seinen Rücken.
„Sagen wir so: Nach deinem Kollegen von gestern freu ich mich auf deinen Schneesturm.“
Ich lachte. „Wer war gestern da?“
„Darf ich nicht sagen. Schweigepflicht. Du weißt ja, die allgemeine Angst vor dem Ideenklau. Aber du kennst ihn.“
Wir flogen los. Weil das hier keine Fiktion ist, verzichte ich jetzt mal auf die ganzen Beschreibungen, wie toll das Fliegen war, wie erhaben das Gefühl, als wir die Wolken durchbrachen und Sterne und Mond erblickten, und all das. Für Interessierte steht so was im Roman, und wegen des Helms konnte ich den Wind – ehrlich gesagt – auch gar nicht im Haar spüren. Soweit man bei mir überhaupt von Haar reden kann, aber das ist wieder ein anderes Thema.
Auf jeden Fall kann ich allen versichern, dass es schweinekalt war.
Wir waren unterwegs Richtung Island, weil es dort in der Nähe gerade stürmen sollte und ich auch noch was mit einem Vulkan ausprobieren wollte, und Knorre keinen auf dem Gelände hatte.
Alles lief gut, bis wir irgendwo in der Gegend von Hogwarts in der Dunkelheit mit dem Weihnachtsmann zusammenstießen.
Er war mit Schlitten und drei überladenen Anhängern unterwegs und klatschte voll in uns rein. Tausende von Geschenken regneten zu Boden, die Nase des vordersten Rentiers war nach dem Zusammenprall dick geschwollen und knallrot –, sonst war niemandem was passiert.
„He, du Grünschnabel!“, brüllte mich der Weihnachtsmann an. „Flugschein im Lotto gemacht, oder was?“
Ich hätte ihm gern eine gepfefferte Antwort reingedrückt, irgendwas wie: „He, Alter, Flugschein schon so lange her, dass du dich an nichts mehr erinnerst?“ Aber das Visier meines Helms klemmte, und ich bekam es mit den dicken Handschuhen nicht auf. Und wahrscheinlich ist mir der Satz auch erst drei Stunden später eingefallen. In der Situation war ich einfach nur baff, dass es den Weihnachtsmann wirklich gab.
Feuerschwinge hingegen zeigte keinerlei Verblüffung, er knurrte lässig: „Rechts vor links.“
„Wir sind hier über England!“, schnappte der Weihnachtsmann. Sein Blick war glasig. „Da ist Linksverkehr!“
„Und was willst du jetzt machen?“, fragte Feuerschwinge in aller Ruhe. „Die Polizei rufen und sagen, ein Drache hat dir die Vorfahrt genommen? Da darfst du gleich mal ins Röhrchen pusten.“
„Es war nur ein Gläschen! Vielleicht auch ein Glas, aber bei dem Stress, ist das doch …“ Er ließ die Schultern hängen, in seine Stimme schlich sich ein jammernder Tonfall.. „Ich hab noch zwanzig Fuhren heute vor mir und … ja, gut, es war ein Krug, kein Glas, und es waren zwei, vielleicht drei, aber mein Arzt sagt jeden Dezember, ich stehe kurz vor dem Burnout, da …“ Plötzlich straffte er die Schultern. „Aber was kümmert's euch? Überhaupt, die Rentiere ziehen doch, und die haben kaum was getrunken!“
Endlich bekam ich das Visier auf. Statt zu pfeffern, versuchte ich zu vermitteln. „Können wir vielleicht beim Aufsammeln der Geschenke helfen?“
Feuerschwinge sah mich abschätzig an, dann sagte er zum Weihnachtsmann: „Das ist aber kein Schuldeingeständnis.“
„Nein“, bestätigte ich, „das ist Recherche.“
„Wofür?“
„Weiß ich noch nicht, aber eine solche Chance muss man ergreifen. Recherche ist immer unheimlich wichtig, da kannst du jeden Autor fragen.“
Weil der Weihnachtsmann so in Eile war, ließ er sich darauf ein. Er versicherte auch, versichert zu sein, aber trotzdem möchte ich hier anmerken: Sollte irgendwer vorletztes Jahr ein zerbrochenes Geschenk bekommen haben, tut es mir wirklich sehr leid.
Beim Geschenkeausliefern selbst wollte sich der Weihnachtsmann jedoch nicht helfen lassen –, und ich war irgendwie froh darüber, Wichtigkeit von Recherche hin oder her. Aber hundert Kamine im Winter runter und wieder rauf zu klettern, ist kein Spaß.
So oder so, wir kamen ohne weitere Zwischenfälle nach Island, ließen uns vom Sturm durchschütteln, verloren fast drei Zehen und zwei Klauen durch Erfrierung, verbrannten die restlichen im Vulkan und kehrten wieder zurück zum Recherchehof. Das Ganze hatte vielleicht zweieinhalb Stunden gedauert, so ein Drache ist schnell.
Knorre gab Feuerschwinge ein Fass heißen Grog zum Aufwärmen und sagte zu mir: „Dein Armbrustkatapult, das du ausprobieren wolltest, steht hinter der schwarzen Scheune bereit.“
„Danke“, antwortete ich. Das war eine richtig heftige Waffe, die drei Meter lange Pfeile verschießen konnte. Ich wollte sie dem rücksichtslosesten Kopfgeldjäger des Großtirdischen Reichs in Hand geben, eine Waffe, um Drachen vom Himmel zu holen – oder anderes. Den betrunkenen Weihnachtsmann etwa.
Ach was, dachte ich, der würde doch nicht genau in dem Moment über uns hinweg fliegen.
Einen winzigen Augenblick lang wollte ich die Pfeile wirklich in den Himmel feuern, muss ich der Ehrlichkeit wegen gestehen, doch dann stellte ich fest, dass mir dazu die Rücksichtslosigkeit meines Kopfgeldjägers fehlte. Was, wenn der Weihnachtsmann doch da oben kreiste? Recherche war natürlich wichtig, aber Weihnachten erschien mir in dem Moment irgendwie wichtiger. Das konnte ich nicht einfach so riskieren. Vielleicht sollte ich hier mal mehr auf meine Fantasie vertrauen als auf Recherche?
„Ich glaube, das mach ich lieber erst nach den Feiertagen“, sagte ich, weil Recherche doch sicherer war.
„Alles klar“, sagte Knorre, und wir gaben uns die Hand.
„Schöne Feiertage.“
„Ja, dir auch. Und bis bald.“
Feuerschwinge setzte das leere Fass ab und nickte mir zu. Sein Blick war so glasig wie der des Weihnachtsmann. Und ich hoffte, er würde heute Nacht nicht noch einmal mit einem meiner Kollegen losfliegen müssen.