Hadija Haruna-Oelker: Die Schönheit der Differenz

Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2022

Miteinander anders denken

Hadija Haruna-Oelker, Journalistin, Politikwissenschaftlerin und Moderatorin beschäftigt sich seit langem mit Rassismus, Intersektionalität und Diskriminierung. Sie ist davon überzeugt, dass wir alle etwas von den Perspektiven anderer in uns tragen. Dass wir voneinander lernen können. Und einander zuhören sollten. In ihrem Buch erzählt sie ihre persönliche Geschichte und verbindet sie mit gesellschaftspolitischem Nachdenken. Sie erzählt von der Wahrnehmung von Differenzen, von Verbündetsein, Perspektivwechseln, Empowerment und von der Schönheit, die in unseren Unterschieden liegt.

Ein hochaktuelles Buch, das drängende gesellschaftspolitische Fragen stellt und Visionen davon entwickelt, wie wir Gelerntes verlernen und Miteinander anders denken können: indem wir einander Räume schaffen, Sprache finden, mit Offenheit und Neugier begegnen.

Hardcover
eBook
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»Dieses Buch ist voller Wissen, behutsam und klar in seiner Botschaft...

Man selbst ist nach dem Lesen garantiert klüger. Wenn Hadija Haruna-Oelker es nicht schafft, von der Schönheit der Differenz zu überzeugen, dann weiß ich nicht, wer es sonst könnte.« Alice Hasters

Hier reinlesen:

Vorwort ….
Disclaimer: Wie dieses Buch lesen ….

Sozialisierung: Wie wachsen wir? ….
Kindheit: Bei Rassismus wird ihnen schlecht ….
Afrika, Identität und Schwarzes Bewusstsein. Mein Empowerment ….
Mein (Schwarzer) Feminismus ….

Bewegung: Wie werden wir beeinflusst? ….
Initialmomente….
Wie alles begann: Meine Reise durch die Mitte ….
Differenz und soziale Bewegungen ….
Generationendialoge und der (Klima)Wandel….

Globalisierung: Wie werden wir getrennt?….
Kinder der Diaspora….
Wir sind hier, weil ihr da wart….
Denk ich an Hanau: Über Selbstbestärkung als Widerstand ….

Konstruktion: Was wird aus uns gemacht? ….

Vom Deutschsein, vom Weißsein und den Anderen ….
Muslimisch, jüdisch, romani – Zur Konstruktion von Gruppen ….
Familienverstrickungen und Mit-Gefühl …
Identitäten und die (Ohn)Macht der Differenz ….
Vom Lernen und Verlernen ….

Emotion: Wie fühlen wir? ….
Vom Fühlen ….
Von der Wut ….

Gender, Sexualität und Körper: Wie sehen wir uns? ….

Genderleicht. Pronomen und ich, du, wir ….
Heterowelten….
Körperbetrachtungen….

Geist: Wie nehmen wir wahr? ….
Wahrnehmung und Psyche ….
Trauma und Sein ….

Behinderung: Was blenden wir aus? ….
Bewegung der größten marginalisierten Gruppe….
Behindert sein und behindert werden ….
Mutterschaft. Eltern sein….


Zum Schluss, der kein Ende ist ….
Schluss jetzt? Differenz feiern….


Dank ….
Quellenverzeichnis ….

Vorwort

Dieses Buch ist eine Einladung. An alle, die über die Zustände unserer Gesellschaft nachdenken wollen. An Menschen die andere Antworten suchen als die gängigen Bestandsaufnahmen über Spaltung, Grabenkämpfe oder Generationenkonflikte. In diesem Buch schreibe ich für etwas und nicht gegen etwas an. Ich schreibe für eine diverse Gesellschaft und ihre Schönheit, und ich schreibe für alle, die einen Weg dorthin suchen. Ich schreibe für Menschen, die verstehen wollen und die sich ≫aufgeweckt≪ fühlen, weil sie sich mit dem, was uns unterscheidet und viele unterdrückt, noch nicht oder noch zu wenig beschäftigt haben – oder weil es sie schon lange beschäftigt. Dieses Buch ist für Menschen, die nicht nur mit Gleichen reden möchten, sondern erfahren wollen, was ihnen noch unbekannt ist. Es ist für alle, die Fragen haben, auf der Suche nach Antworten sind und die Angst ablegen wollen, etwas falsch zu machen. Die sich Klärung statt Selbstgeißelung wünschen, die Offenheit und Achtsamkeit konfrontativen Begegnungen oder vereinfachenden Pro-und-contra-Debatten vorziehen. Es ist für alle, die lernen und verlernen wollen, die wachgekitzelt werden möchten und sich fragen: Was ist da noch?

Ich trage in diesem Buch Überlegungen und Geschichten von Personen, die sich seit Jahren über eine gleichberechtigte und machtkritische Gesellschaft Gedanken machen, mit wissenschaftlichem Wissen zusammen, und ich setze all das in Verbindung zu mir selbst. Ich schreibe dieses Buch aus meiner Perspektive, die manchmal eine unterdrückte und andere Male eine privilegierte ist. Mein Sprechen und Schreiben ist das Ergebnis meiner eigenen Subjektivität, Meinung und Position. Es zeigt meinen Weg genauso wie meine schmerzhaften Erkenntnisse.
Ich bin eine Schwarze, nicht behinderte, normschlanke, cishetero Frau mit der Erfahrung, chronisch krank zu sein. Ich bin Mutter, Ehefrau, Tochter, Schwester, Journalistin und Feministin.
Ich wurde in Westdeutschland sozialisiert. Meine Perspektive ist die eines Arbeiter*innen- und Angestelltenkindes der sogenannten unteren Mittelschicht, das studiert und einen sozialen Aufstieg erlebt hat. Ich bin Teil einer weltweiten Geschichte der Unterdrückung. Eingebettet in ein soziales Umfeld bin ich von Menschen umgeben, die mir zeigen, was es heißt, migriert, Schwarz, behindert, arm, muslimisch (gelesen zu werden), jüdisch, sinti, queer, dick_fett, neurodivers und/oder chronisch krank zu sein. Ich stehe mit ihnen in Verbindung, fühle mich verbündet. Ich glaube, dass es kein Zufall ist, dass mich so viele unterschiedliche Menschen in meinem Leben begleiten und ich sie. Ich habe viel durch und in der Begegnung mit anderen gelernt, Bewegung ist Teil meiner Biografie. Auf diese Weise stehen mein Umfeld und ich repräsentativ für unzählige Menschen, die unterschiedlich leben und sich in ihrem Menschsein gleichen.
Die Publizistin Hannah Arendt nannte es die Gleichheit beim absoluten Unterschiedlichsein, und genau darin liegt die Schönheit der Differenz, die ich mit diesem Buch erfahrbar machen möchte und die infrage stellt, was vielen als ≫normal≪ gilt.

Normal. Ein so häufig verwendeter und schwieriger Begriff.
Der Duden beschreibt es als ≫der Norm entsprechend; vorschriftsmäßig so [beschaffen, geartet], wie es sich die allgemeine Meinung als das Übliche, Richtige vorstellt≪. Ich glaube, dass wir nicht darum herumkommen, genau dieses Normale zu hinterfragen, denn vielmehr sollten wir alle verstehen, was es bedeutet, privilegiert zu sein und auf der nicht benannten Seite gesellschaftlicher Konstruktionen zu stehen. Was es in Deutschland heißt, weiß, hetero, seelisch gesund, normschön, nicht behindert, christlich sozialisiert, mit Studienabschluss oder gesichertem Auskommen zu sein. Wir alle sollten uns in unseren jeweiligen Positionen dessen bewusst werden, was wir nicht sind, und dem nicht mit Abwehr oder (Selbst-)Stigmatisierung begegnen.
Das ist ein politischer Akt und ein intimer Weg, weil sich kein Mensch den eigenen Geburtsort auf der Welt oder vieles von dem, was das eigene Sein ausmacht, ausgesucht hat.
Das zu erkennen bedeutet, sich selbst gegenüber eine Haltung zu entwickeln, die von innerer Nähe und Zugewandtheit auf der persönlichen Ebene geprägt ist, um auf der Metaebene die gesellschaftlichen Machtverhältnisse und die eigene Positionierung darin zu erkennen. Ich glaube, dass wir im Nachdenken, Sprechen und Aushandeln unseres Miteinanders weniger Sorge und Empörung, sondern mehr Verständnis für mögliche Irritationen auf dem Weg zu neuen Erkenntnissen brauchen.
Deshalb beschäftige ich mich in diesem Buch mit den Perspektiven ≫der Benannten≪, also von Diskriminierung betroffenen, marginalisierten Menschen und deren Beziehungen zu denjenigen, die deren Erfahrungen nicht machen. Ich möchte den Fokus weg vom Leid hin zu Ursachen und Folgen lenken und verschiedene Sprachen erfahrbar machen. Deshalb sehe ich es positiv, dass wir in einer Zeit nie erlebter ≫Demokratisierung der Öffentlichkeit≪ leben, in der mehr Menschen die Möglichkeit haben, an Aushandlungsprozessen über unsere Gesellschaft teilzunehmen. Für mich ist die Behauptung, dass marginalisierten Menschen mit ihren Anliegen im Namen der Gerechtigkeit neue Ungerechtigkeiten schaffen, haltlos, weil niemand benachteiligt werden soll, aber sich bei genauerer Betrachtung viele Dinge anders denken lassen. Zum Beispiel, dass das, was als normal gilt, eine soziale Wirklichkeit ist, die von jedem Menschen anders erlebt wird und für die unsere Sozialisierung eine maßgebliche Rolle spielt: das Elternhaus, die Schule oder der Sportverein. Je nach Wertvorstellungen unseres Umfelds werden wir unterschiedlich geprägt. Wie eine eigene Meinung und Persönlichkeit entsteht, ist für alle von uns verschieden, es ist in Deutschland ganz anders als an anderen Orten der Welt. Eine einheitliche Definition von Normalität kann es deshalb nicht geben. Und das, was normal ist, lässt sich demnach auch verändern.

Aus diesem Grund erzähle ich in diesem Buch davon, wie ich unsere Gesellschaft und ihre Menschen in ihrer Differenz sehe.
Ich stelle Fragen an die Gegenwart, und meine Suche nach Antworten und meine Betrachtungen verstehe ich als eine mögliche Lesart dieser komplexen Gegenwart. Das alles auf diese Weise aufzuschreiben ist für mich auch ein Wagnis, weil ich mich angreifbar mache, weil mein Privates hier politisch wird. Aber hey, kein Wachstum ohne Risiko! Daran glaube ich, und deshalb begebe ich mich auf unbestimmtes Terrain.

So verlief auch mein Weg in den Journalismus, der Ende der 2000er in der Position von ≫eine wie dich hatten wir noch nie in der Redaktion≪, also in der Vereinzelung, seinen Anfang nahm.
Er ist für mich auch ein Weg einer Emanzipation, auf dem ich meine Rolle im Journalismus finden musste. Auch Medienschaffende sind (nur) Menschen, die unterschiedlich denken, weshalb ich für eine kritische Herangehensweise, einen transparenten und verantwortungsvollen Journalismus stehe und eine Journalistin sein möchte, von der das Publikum weiß, welche Absenderin sie ist.
Ich bin bewegt und mache kein Geheimnis daraus, Menschenrechtlerin zu sein. Es war ein intensiver Weg, das journalistische Handwerk, meine Expertise und meinen Stil öffentlich in ein Verhältnis zu stellen. Und so nehme ich in diesem Buch mein journalistisches und mein persönliches Ich zum Ausgangspunkt, weil ich glaube, dass das eine Erzählung nicht weniger neutral macht. Zumal sowieso kein Mensch neutral ist. Als Teil meiner Generation habe ich erfahren, wie es ist, in die Fußstapfen von Menschen zu treten, die den Weg für ihre Nachkommen geebnet haben. Und ich bin Teil einer Generation, die inzwischen selbst auf eine jüngere blickt. Damit geht mein Blick auf unsere Gesellschaft von einer sozialen Bewegung aus, die schon immer ihre Bündnisse gesucht hat. Mein Anliegen ist es, zwischen den vielen Positionen, die ich sehe, zu übersetzen, Verständnis zu schaffen und Brücken zu bauen – auch zu den politischen Generationen der Emanzipationsbewegung, die schon so lange ihren Weg zur Freiheit geht, damit sie ≫in der Gewissheit ihres unveräußerlichen Rechts der Menschenwürde≪ leben kann, wie es Freiheitskämpfer Nelson Mandela bei seiner Antrittsrede als erster Schwarzer Präsident nach der Apartheid 1994 ausdrückte.
Noch immer und anders gibt es auch heute in Deutschland noch vieles zu besprechen, was unsere Gesellschaft und unsere gemeinsame Vergangenheit angeht. Und das noch mehr, seitdem wir uns durch die Corona-Pandemie weniger sehen und in Kontakt sein können, um auszuhandeln, wie wir zusammen leben wollen. Deshalb ist mein Nachdenken auch ein Zeitzeugnis gesellschaftspolitischer Verschiebungen, die sich mir im letzten Jahrzehnt gezeigt und in unterschiedlichen Debatten zugespitzt und ein bündnishaftes Wachstum sozialer Bewegungen eingeläutet haben. Das Emanzipationsbewusstsein einer neuen politischen Generation treibt die Gesellschaft nach vorne. Widerspruch und Widerstand gegen gängige Routinen wachsen, auch weil antisemitisch und rassistisch motivierte Anschläge sich verstärkt haben. An die Oberfläche dringt nun, was Hunderte Jahre Unterdrückung bewirkt haben. Und dieser Aufbruch kündigt für mich an: Es ist erst der Anfang.

Es gibt für uns alle viel zu klären. Wer spricht über wen, und wer wird gehört? Wer wird bei Entscheidungen mitgedacht, angesprochen, ausgeblendet und wer nicht eingeladen? Wem wird Wissen zugänglich gemacht, und wer ist davon ausgeschlossen?
Wer entscheidet über allgemeingültige Regeln und Ordnungen? Wen inkludiert und exkludiert unsere Gesellschaft? Warum ist das so? Wer will das noch, und wer will das nicht mehr? Und wie gehen wir besser miteinander um?
Um darauf zugewandte Antworten zu finden, illustriere ich in Workshops gerne ein bildhaftes Beispiel, das vielleicht einige kennen: mit einer Person, der einer anderen auf den Fuß tritt und daraufhin sagt: ≫Ich habe es nicht bemerkt, außerdem bin ich ein guter Mensch.≪ Ich habe schon viele gefragt, was sie von dieser Antwort halten. Manche nahmen den Satz als indirekte Entschuldigung an die getretene Person wahr, andere reagierten empört, weil die Reaktion vom Schmerz ablenkt. Und wieder andere empfanden die Begründung als unwichtig, weil der Schmerz zählt und es dafür einer Entschuldigung bedarf – ohne Wenn und Aber.
Verleugnung, Scham und Schuld sind die Abwehrmechanismen, aus denen heraus Menschen handeln, wenn sie andere verletzt haben. Denn auch Personen, die verletzen, erleben emotionale Zustände, wenn ihnen klar wird, dass sie etwas verschuldet haben, insbesondere dann, wenn es unabsichtlich geschehen ist.
Schuld entsteht durch eine (gefühlte) Beschuldigung von außen.
Scham ist oft die Reaktion auf das Nichterfüllen eines Ideals, das jemand für sich anstrebt, zum Beispiel ohne Fehler sein zu wollen. Oder sie resultiert aus der subtilen Angst, nicht mehr gemocht zu werden. Nicht selten kommt es dann zu einer Umkehr: Dann geht es in einer verletzenden Situation plötzlich um die Gefühle, Hintergründe und Intention der Person, die getreten hat, und nicht um den betroffenen Mensch, dessen Fuß schmerzt.
Was bedeutet dieses Bild für unser Zusammenleben? Es stellt die Frage, wem die Aufmerksamkeit gebührt und welche Rolle die Intention handelnder Menschen spielt. Wir leben in einer Zeit, in der viele marginalisierte Personen schon lange Schmerzen äußern und jetzt häufiger damit wahrgenommen werden.
Sie bitten darum, dass ihnen nicht mehr auf die Füße getreten wird. Deshalb ist die Frage, welcher Umgang und welche Auseinandersetzungen daraus folgen: welche Menschen bereit sind, die eigene Blase zu verlassen und bisherige Vorstellungen zu verändern. Wie es gehen kann, sich ohne Schuld und Scham gemeinsam damit auseinanderzusetzen, was Differenz und Diskriminierung in unserer Gesellschaft bedeuten.
Eine Kollegin sagte einmal zu mir, dass sie sich eine ≫ruhige Sicherheit≪ im gemeinsamen Umgang mit Diskriminierung wünsche, und meinte damit ein entspanntes und fürsorgliches Miteinander. Eine entspannte Haltung, die unsere Differenz nicht ändern möchte und an der Weiterentwicklung von Wissen darüber interessiert ist, wie wir als Gesellschaft mit unseren Vielheiten umzugehen lernen. Also damit, sich nicht mehr auf die Füße zu treten. Was auch bedeutet, eine gemeinsame Sprache zu finden, weil uns oft die Worte fehlen, um ohne Wertung übereinander zu sprechen.
Wie also kann es uns gelingen, achtsam über- und zueinander zu sprechen, wenn wir uns begegnen, und wie können wir nach dem fragen, was wir nicht wissen? Wie gehen wir mit denjenigen um, die sich auf all das gar nicht einlassen wollen?
All diese unterschiedlichen beteiligten Menschen machen unseren gesellschaftlichen Zustand so fragil, und das zu erkennen ist ehrlich.
Der Sozialwissenschaftler Aladin El-Mafaalani zeichnet zur Erklärung für diesen aktuellen gesellschaftlichen Prozess ein eindrückliches Bild: Er lässt uns einen Tisch imaginieren, an dem neben der sogenannten Dominanzgesellschaft inzwischen auch die Nachkommen einstiger eingewanderter Menschen Platz genommen haben, die zuvor auf dem Boden saßen. Dass sie nun mit am Tisch sitzen, unterscheidet sie von den eigenen Eltern. Ihre zunehmende Teilhabe hat den Blick für die eigenen Empfindungen und Ausgrenzungserfahrungen dieser Personen geöffnet. Das ist eine positive Entwicklung, die aber nicht zur Folge hat, dass ihre Diskriminierungserfahrungen verschwunden sind. Sie können im Gegenteil sogar zunehmen, weil ≫die Neuen≪ am Tisch von manchen, die vorher dort saßen, als unliebsame Störung oder Konkurrenz wahrgenommen werden oder weil manche deren Unterdrückung weiterhin wollen. Das Bild vom Tisch und auf dem Boden sitzenden Menschen steht für so viele verschiedene Differenzerfahrungen und zeigt, dass, je mehr Menschen am Tisch Platz nehmen (wollen), es auch immer Kräfte und Gegenkräfte gibt. Es erklärt, warum wir inmitten einer gesellschaftlichen Transformation stecken und es auch mal heftig zugeht im Gespräch: Weil viele Ichs mit ihren unterschiedlichsten Differenz- und Diskriminierungserfahrungen ihr Recht einfordern, gehört zu werden, und dabei um Deutungsfragen gerungen und darüber gestritten wird, wer wie recht bekommt. Soziologische Betrachtungen beruhigen damit, dass eine differenzierte Gesellschaft sich gerade durch Konflikte integriert, und zwar dann, wenn diese als notwendig anerkannt und institutionalisiert werden. Wenn sie also im Sinne aller geführt werden, was trotzdem anstrengend ist: Es bleibt kompliziert, auch wenn sich Dinge verbessern, und unsere zukünftige gesellschaftliche Aufgabe wird es sein, uns nicht nur damit auseinanderzusetzen, was uns verbindet, sondern auch mit dem, was uns unterscheidet.
Und dazu braucht es insbesondere politische Räume, in denen ein ehrlicher Umgang mit den unangenehmen Seiten unserer Geschichte gefunden werden muss und den Folgen, die wir heute auf unterschiedliche Weise tragen. Unsere Vergangenheit ist, wie sie ist, und wir können uns nicht von ihr lösen, sie ist mit unseren Alltagshandlungen genauso verwoben wie mit unseren Vorstellungen von der Welt. So kommt es, dass alle Menschen andere verletzen können, aber wir uns darin unterscheiden, wie wir es tun. Und welche Konsequenzen wir aus den Erkenntnissen ziehen.
Veränderung beginnt im Denken, was für mich heißt, unsere Gleichheit in einer anderen Dimension zu suchen. Deshalb liegt für mich die Schönheit in unserer Differenz, und ich stehe unserem gesellschaftlichen Wandel positiv gegenüber. Mehr noch, er schenkt mir Hoffnung. Mit dieser Einstellung habe ich dieses Buch geschrieben, einer Perspektive, die Blicke weitet, Möglichkeiten zeigt und Handlungsräume aufmacht, um ein anderes Miteinander zu denken. Um dorthin zu kommen, bedarf es einigen Aufwands und Kraft. Dazu mussten ≫wir≪ uns alle erst einmal besser kennenlernen, verstehen und ansprechen können, ohne einander zu verletzen. Und genau das versuchen seit den 2000ern die Vertreter*innen der unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen in den Sozial- und Erziehungswissenschaften mit Begriffen und Theorien, die den Begriff der Differenz ergänzen. Davon ausgehend werde ich in diesem Buch mit dem von der US-amerikanischen Juristin Kimberle Crenshaw geprägten Ansatz der sogenannten ≫Intersektionalität≪ arbeiten. Dahinter verbirgt sich ein Verständnis von Menschen, das sie nicht in einzelnen Merkmalen wie beispielsweise Aussehen, Körper, Religionszugehörigkeit oder Körpermerkmalen begreift, sondern in deren Gleichzeitigkeit. Weil kein Mensch nur aus einer Erfahrung besteht und Menschen vieles sind. Allein unsere Persönlichkeit setzt sich aus einer Fülle von Eigenschaften zusammen, die sich über die Zeit eines Lebens verändern können.
Es sind innere Dimensionen wie beispielsweise Alter, Aussehen oder Begehren, auf deren Zustand wir wenig Einfluss haben.
Anders ist es bei den äußeren Eigenschaften wie Einkommen, Gewohnheiten oder Elternschaft. Dazu kommt der Einflussbereich der Gesellschaft, in die jeder Mensch mit seinem gesamten Sein eingebettet ist. Wenn wir also von diesem Verständnis ausgehen, gibt es keine statischen homogenen Gruppen, weil in einem Menschen verschiedene Realitäten zusammenwirken und jeder Mensch anders ist. Davon ausgehend will ich in diesem Buch Vorstellungen starrer Kategorien und Konstruktionen aufbrechen, in die wir Menschen als Gruppen gepresst werden.
Denn kein Mensch kann einseitig als diskriminiert oder Diskriminierender verstanden werden, so einfach ist die Welt nicht.
Eine Person kann von einer Ausgrenzung betroffen sein und an anderer Stelle selbst diskriminieren. Und das schafft Möglichkeiten für gemeinsame Bündnisse.
Wer sich mit Schwarzen, behinderten, queeren, religiösen, spirituellen, aber auch mit psychologischen und neurologischen Perspektiven beschäftigt, wird viele Ansätze und Analysen finden, die das Ziel haben, diese Intersektionalität zu erklären und damit zu argumentieren. Schon vor Jahrzehnten haben Wissenschaftler*innen weltweit aufgezeigt, wie wir unsere eigene Position im Spiegel der Anderen erkennen lernen. Auch ich versuche mich in diesem Ansatz des Verstehens, weil das bedeutet, mich befreiter bewegen zu können, mich verbinden zu können und mich verbunden zu fühlen. In diese Richtung zu denken war für mich kein in jeder Phase angeleiteter Weg, und ich bin längst nicht angekommen. Er entwickelt sich in mir durch meine Begegnung mit Menschen, dadurch, dass ich mir Wissen aneigne, Fehler mache und mir eingestehe, dass ich mit meinem (unbewussten) Handeln andere verletzen kann, und daraus Konsequenzen ziehe. Dieser Weg ist ein Prozess, der praktisch heißt, dazuzulernen und Gelerntes wieder zu verlernen.
Ich glaube daran und bin nicht alleine damit, Möglichkeiten zu sehen, um aus bestehenden unterdrückenden Systemen zu mehr Gleichberechtigung für alle zu gelangen. Marginalisierte Menschen kämpfen schon seit Jahrhunderten darum, sie haben mit ihren Ideen Freiheiten erkämpft. Einzelne Menschen sind dabei eigene und persönliche Wege gegangen, haben Verbündete gesucht oder sind in Bewegungen gewachsen. Konstruktiv an gemeinsamen Lösungen für alle zu feilen geht mit Bedacht, und es bedarf Sensibilität, um Ungerechtigkeiten freizulegen. Abläufe und Denkweisen zu verändern heißt, an den eigenen Haltungen und Routinen für ein Besseres zu rütteln.
So muss sich in uns selbst zeigen, dass unsere Differenz ein Gewinn im eigenen Leben ist. Deshalb liegt der erste Schritt zu einem gemeinsamen Miteinander auch genau dort. Es geht um eine sich selbst und anderen Menschen zugewandte Reflexion, weil erst so möglich wird, sich auf Veränderungen einzulassen, die ein Denken anregen, das flexibel genug ist, die Richtung zu ändern. Dazu sind insbesondere Menschen in privilegierten Positionen aufgefordert. Es bedeutet, aus der Komfortzone herauszutreten, sich mutig zu zeigen. Und mutig sind nach Mandela nicht die Menschen, die keine Angst haben, sondern die, die ihre Furcht besiegen und die eigene Befreiung nicht an der Unterdrückung anderer Menschen ausmachen, weil Gleichberechtigung keine Unterdrückung ist.

Über zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU, den Anschlägen von Halle und Hanau in den Jahren 2019 und 2020 und dem Einzug und Etablieren rechter Kräfte und ihrer Parteien in sämtlichen deutschen Parlamenten braucht unsere Gesellschaft eine Idee davon, wie sie ihre Differenz zu einer Kraft bündelt, die dieser Entwicklung wehrhaft entgegentritt. Dazu muss allen klar sein, dass für eine Demokratie einzustehen auch bedeutet, sich in machtkritischen Fragen auszukennen und ungerechte Machtstrukturen aufzulösen. Es muss sich etwas verändern, damit über Gerechtigkeit reden nicht zur Floskel verkommt.
Das heißt, dass es nur mit allen Beteiligten am Tisch unserer Gesellschaft nach vorne geht, denn erst dann wird keine Perspektive vergessen, weil kein Mensch alleine alle auf dem Schirm haben kann. Weil nur so neue Ein- und Ansichten dazukommen.
Im besten Fall finden sich im Aushandeln unterschiedliche Ideen darüber, wie sich geeinigt wird. Vielleicht braucht es einen neuen Tisch. Aber das ist der Weg der Allianz für eine anerkennende, inklusive Gesellschaft in der Gegenwart und Zukunft.

Meine Gedanken dazu sind von der afrikanischen Philosophie des Ubuntu geprägt, die die Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels Tsitsi Dangarembga in ihrer Preisrede 2021 bekannt gemacht hat. Es sind Perspektiven, die auf gegenseitiger Anerkennung und Achtung basieren und für mich bedeuten, rational, aber nicht emotionslos zu sein. So ist mein Denken von einem Fühlen bestimmt, von dem ich zutiefst überzeugt bin. ≫Rationalität heißt eben nicht, emotionslos zu sein. Es kann auch heißen, von der Wichtigkeit des Emotionalen im Leben zutiefst überzeugt zu sein. Es heißt, die Wichtigkeit von Beziehung zu kennen und in all den Herausforderungen des Lebens die Kraft nicht aufzugeben≪, schrieb mir der Antirassismus-Trainer, Pfarrer und Wegbegleiter Austen Brandt einmal zu meiner Stärkung. Auch mir geht es um Aussöhnung, um ein Weitergehen mit denen, die einen gemeinsamen Weg mit allen suchen. Deshalb sehe ich mich selbst auch als Werdende und nicht als Seiende und werde mein ganzes Leben lang Lernende sein. In diesem Buch teile ich meine Gedanken und bin dabei nicht fertig. Es ist eine Momentaufnahme und handelt von meinem Leben in verschiedenen Umfeldern, die mir Einblicke gewähren. Deshalb spreche ich heute unterschiedliche Sprachen und lerne stetig dazu. So war es auch während des Schreibens dieses Buches – bis zum Schluss.
Differenz bedeutet für mich nicht, anders zu sein, sondern ist eine alltägliche und schöne Erfahrung im Miteinander. Differenz ist meine Normalität, und meinen Weg hierher habe ich gefunden, weil meine Familie, meine Freund*innen, mein bewegtes Umfeld und viele Menschen innerhalb der Schwarzen Community und andere marginalisierte Personen ihn mir gezeigt und mich bestärkt haben, weil ich mich empowert und emanzipiert habe. So hat sich während der Entstehung dieses Buches vieles in mir verändert, und diesen Prozess möchte ich nun teilen. Weil teilen auch Heilung ermöglicht und das für mich die Grundlage einer Gesellschaft ist, aus der die Schönheit der Differenz wachsen kann.

»Wir sind unterschiedlich...

Das festzustellen ist nicht verwerflich, das Problem beginnt dann, wenn wir unseren Differenzen mit Abwertung begegnen.«
Hadija Haruna-Oelker

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»Ich bin nicht behindert, hetero ...

als Bildungsaufsteigerin mit Abitur, Studium und gut bezahltem sowie gesellschaftlich anerkanntem Job, in meiner Familie inzwischen finanziell abgesichert. Ich bin in Deutschland geboren, light-skinned mit einer weißen deutschen Mutter und deshalb seit Geburt Besitzerin eines deutschen Passes. Auch ich habe Privilegien, und sie zu kennen und mir bewusst zu machen verändert meinen Blick auf andere, meine gesellschaftliche Position und Verantwortung.«
Hadija Haruna-Oelker

Hadija Haruna-Oelker
© Wolfgang Stahr

Hadija Haruna-Oelker

Die Politikwissenschaftlerin Hadija Haruna-Oelker, geboren 1980, lebt und arbeitet als Autorin, Redakteurin und Moderatorin in Frankfurt am Main. Hauptsächlich arbeitet sie für den Hessischen Rundfunk – unter anderem für die Sendung »Der Tag« (hr2 Kultur). Zudem moderiert sie das regelmäßige Format »StreitBar« in der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt und schreibt eine monatliche Kolumne in der Frankfurter Rundschau. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Jugend und Soziales, Migration und Rassismusforschung. Sie ist Preisträgerin des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gestifteten KAUSA Medienpreises 2012 und des ARDHörfunkpreises Kurt Magnus 2015. Hadija Haruna-Oelker hat gemeinsam mit Kübra Gümüşay und Uda Strätling »The Hill We Climb« von Amanda Gormann übersetzt. Darüber hinaus ist sie im Journalist*innenverband Neue Deutsche Medienmacher*innen und in der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland aktiv.