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SPECIAL zu Daniel Everett »Das glücklichste Volk«

Leben ohne Gott und Geld

Daniel Everett beschreibt in „Das glücklichste Volk“ seine Erfahrungen mit den Pirahã-Indianern am Amazonas

Was bedeutet schon Glück? Glück ist für die meisten von uns ein sorgenfreies Leben in materiellem Wohlstand, ohne Krankheiten oder schlimmere Schicksalsschläge. In seinem Buch „Das glücklichste Volk - Sieben Jahre bei den Pirahã-Indianern am Amazonas“ beschreibt der Linguistik-Professor Daniel Everett seine Erfahrungen als Missionar bei einem kleinen Stamm brasilianischer Ureinwohner, die tief versteckt in den Wäldern am Fluß Maici wohnen und findet dort gewissermaßen das Glück – in einer Definition, die er so vorher nicht kannte. 1977 ging Everett in den Amazonas, um im Auftrag einer Organisation mit dem etwas irreführenden Namen Summer Institute of Linguistics die Sprache der Pirahã zu erforschen. Das Ziel seines Auftrages und seiner wissenschaftlichen Mühen ist die Anfertigung einer Bibel-Übersetzung, um den Pirahã die christlichen Glauben näher zu bringen. Jahre später wird Everett feststellen, dass er selbst seinen Glauben verloren hat, vor allem durch seine Erfahrungen mit den Pirahã. Wesentlich interessanter als viele andere Geschichten zum beinahe esoterischen Thema „Satter Westler findet das Glück bei den unverdorbenen Wilden außerhalb der Zivilisation“ wird das Buch vor allem durch die Tatsache, dass Everett aufgrund seiner Sprachforschungen im Amazonas zu einem der umstrittensten und meist diskutierten Linguisten der jüngeren Zeit wurde, der einige über Jahrzehnte gültige Annahmen der Sprachforschung in Frage stellt.

Sowas macht man nicht!

Die Pirahã sind ein winziges Volk, bestehend aus etwa 350 Menschen, das ein Gebiet von etwa 250 Meilen am Ufer des Maici bewohnt. Die Menschen leben vom Jagen, Fischen und Sammeln, ihre Behausungen sind einfache Hütten, die keinerlei Privatsphäre zulassen und eher temporären Schutz vor Wind und Wetter bieten als feste Behausung zu sein. Obwohl die Pirahã zum ersten Mal im frühen 18. Jahrhundert mit dem Westen in Kontakt kamen, sind ihre Lebensweise und ihre Bräuche bis heute so gut wie unverändert. Die Indianer hatten nie große Lust, Verhaltensweisen von anderen anzunehmen oder im größeren Umfang neue Dinge zu lernen, wie Everett immer wieder verwundert feststellt, obwohl sie sehr wohl Handel treiben mit den wenigen Brasilianern, die den Maici entlang schiffen. Einmal bitten ihn die Pirahã etwa, er möge ihnen ein gutes, brasilianisches Kanu bauen. Also engagiert Everett einen Lehrer aus einem der Dörfer aus der Gegend, der mit den Pirahã in einer Art Workshop ein Kanu baut. Alle sind begeistert bei der Sache, das Kanu wird fertig. Wenig später bitten die Indianer Everett wieder, er möge ihnen ein Kanu bauen. Auf die Bemerkung, sie wüssten doch jetzt, wie man so etwa baue, antworteten sie nur lapidar, Pirahã würden keine Kanus bauen – und sie ließen es einfach bleiben.

Leben und Tod

Das erste Mal kam Everett mit den Pirahã in Kontakt im Alter von 26 Jahren. Nach ein paar Wochen Dschungel-Training ging er mit seiner Frau Keren und seinen drei Kindern in den Urwald, um mit den Pirahã zu leben, von ihnen zu lernen und sie zu lehren. Im Zentrum seiner Bemühungen stand natürlich die Sprache, die wie das Chinesische oder Vietnamesische eine tonale Sprache ist. Neben Konsonanten und Vokalen spielt also auch die jeweilige Tonlage eine Rolle. Die Sprache der Pirahã umfasst etwa elf Phoneme, die Sätze folgen im Grunde dem Prinzip SOV (Subjekt, Objekt, Verb). Die Verbformen sind extrem kompliziert. Zu jedem Verb sind etwa 65 000 Formen möglich. Da die Pirahã keine andere Sprache sprechen und niemand die Sprache der Pirahã beherrscht, die mit keiner anderen lebenden Sprache verwandt ist, musste Everett nach dem Prinzip Versuch und Irrtum lernen. Bald schon erkranken Everetts Frau und eines seiner Kinder an Malaria. In einer abenteuerlichen Reise versucht er, seine Familie zu einem Krankenhaus zu bringen und muss das erste Mal feststellen, dass seine gewohnten Anschauungen über Leben und Tod nur in Ansätzen von den Pirahã geteilt werden. Anstatt eine Hilfe zu sein, bitten sie ihn, verschiedenste Gegenstände mitzubringen. Viel Mitleid mit seiner verzweifelten Lage scheinen sie nicht zu haben. Immer wieder wird Everett feststellen, dass die Pirahã eine stoische Haltung zum Tod haben. Da sie im Normalfall keinerlei Zugang zu Medizin haben, besteht im Krankheitsfall die hohe Wahrscheinlichkeit, dass die betroffene Person stirbt. Die Pirahã sind es gewohnt, dass ihr Alltag – bei aller Trauer – nicht darunter leider kann, wenn ein Angehöriger stirbt. Sie müssen trotzdem jagen und Nahrung sammeln.

Hier und Heute

Die Pirahã leben im absoluten Hier und Jetzt. Sie kennen kaum Fiktion und sie interessieren sich nicht für Geschichte. Kunst und Überlieferungen sind ihnen fremd. Sie glauben an keinen Schöpfungsmythos und sie wollen auch keinen fremden akzeptieren. Sie wundern sich nur darüber, wie andere so etwas denken können. Für die Pirahã ist das unmittelbar Erlebte relevant. Vielleicht erzählt man noch, was jemand anderer erlebt hat. Die Pirahã glauben an Geister, die jedoch nicht abstrakt sind. Jeder hat diese Geister schon einmal gesehen, und theoretisch kann jeder männliche Pirahã als Geist auftreten und in Stimmen sprechen. Pirahã kennen auch keine Zahlen. Das Vorhaben, ihnen das Rechnen in einfachsten Additionen beizubringen, sorgt trotz großer Begeisterung in erster Linie für Amüsanz. Wirklich rechnen kann nach wochenlangem Unterricht niemand. Die Pirahã brauchen das Konzept von Zahlen einfach nicht. Auch das Konzept von Farben ist ihnen fremd. Die Farbe Grün etwa wird am ehesten beschrieben mit „noch nicht reif“. Natürlich kann „noch nicht reif“ auch eine andere Farbe haben. Immer wieder zeigt sich Everett begeistert von der Fröhlichkeit der Indianer. Auch bei Missgeschicken, etwa wenn der Wind eine Hütte zerstört, herrscht Fröhlichkeit. Es wird viel gelacht, man ist freundlich und eigentlich immer guter Laune und voller Zuversicht. Sorgen um die Zukunft machen sich die Pirahã nur äußerst selten.

Jesus? Kennen wir nicht.

Dieses Leben im Hier und Jetzt bestimmt auch die Sprache der Pirahã, die Everett gegen Ende des Buches ausführlich analysiert. Everett erkennt darin das „Prinzip des unmittelbaren Erlebens“ und sieht darin einen Gegenbeweis etwa zu Noam Chomskys berühmter Theorie der Universalgrammatik. Chomsky postulierte in Anbetracht der Komplexität verschiedener Sprachen mit jedoch wiederkehrenden grammatikalischen Ähnlichkeiten, dass das grundlegende Prinzip der Organisation einer Sprache, die Grammatik, gewissermaßen angeboren sein muss. Vor allem das Prinzip der Rekursion kann Everett in der Sprache der Pirahã nicht erkennen: die Fähigkeit, „eine Einheit in eine andere Einheit gleichen Typs einzubetten.“ Ansatt Sätze mit Nebensätzen zu bilden, würden Pirahã zwei Sätze sagen. Ansatt „Der Mann, der den Fisch gefangen hat, ist im Haus“ würden sie immer sagen: „Der Mann hat den Fisch gefangen. Der Mann ist im Haus“. Die Pirahã seien nur an direkt Verifizierbarem interessiert, deshalb teilen sie neue Informationen (Assertionen) nur in Hauptsätzen mit. Nebensätze beschreiben, verfeinern oder konkretisieren in den allermeisten Fällen nur, deshalb kommen sie nicht vor. Das Prinzip des unmittelbaren Erlebens machte es Everett unmöglich, missionarisch tätig zu sein. Die Pirahã hatten Jesus nie kennen gelernt, er interessierte sie nicht. Sie finden die Vorstellung an eine abstrakte Autorität zu glauben eher lustig. Everett ist davon fasziniert. „Tatsächlich gelangte ich zu dem Schluss, dass ich mit einer Wahnvorstellung lebte – der Illusion der Wahrheit. Gott und Wahrheit sind zwei Seiten derselben Medaille. Beide behindert das Leben und das geistige Wohlbefinden, zumindest wenn die Pirahã recht haben. Und die Qualität ihres Seelenlebens, ihr Glück und ihre Zufriedenheit sprechen stark für ihre Wertvorstellungen.“ Vielleicht sind die Pirahã tatsächlich das glücklichste Volk der Welt.

Karl Hafner
München, Januar 2010

Das glücklichste Volk

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