Zeitgeschichte auf den Punkt gebracht
Von:
Frau Goethe
29.04.2017
Anna und Lotte sind Zwillinge. Allerdings haben sie ihr Leben nicht wie die meisten Geschwister gemeinsam verbracht, sondern wurden im Alter von nur sechs Jahren nach dem tragischen Tod ihrer Eltern getrennt. Anna blieb bei ihren Großeltern in Deutschland, während Lotte bei Verwandten väterlicherseits in den Niederlanden aufwuchs. Was heute keine große Entfernung mehr darstellt, war 1922 schier unüberwindbar. Die Zeit der Weimarer Republik und der sich anbahnende Zweite Weltkrieg trennte das Geschwisterpaar viele Jahre. Der Kontakt wurde nie wieder so innig wie sie ihn als Kinder hatten und brach schließlich ganz ab. Erst im Alter von über 70 Jahren treffen sich die beiden im Belgischen Kurort Spa wieder. Zögerlich berichten sie von ihren Leben, die so unterschiedlich verbracht wurden.
Tessa De Loo schafft mit ihrem Roman über die Zwillinge Anna und Lotte eine außergewöhnliche Sichtweise auf die Entwicklung eines Menschen und wie sehr das Umfeld prägend sein kann. Gleichzeitig legt sie ein Zeitzeugnis über die Umbruchszeit in der Weimarer Republik ab. Anna verbringt ihr Leben in Westfalen, wo sie auf dem Hof ihrer Großeltern helfen muss. Viel Zeit für eine schulische Ausbildung blieb ihr nicht. Ganz anders erging es Lotte, die in den Niederlanden ein privilegiertes Leben führte. Diese Unterschiede haben offenbar dazu geführt, dass die beiden Frauen sich auch charakterlich unterschiedlich entwickelten. Anna ist lebensfroh und geht offen auf andere Menschen zu, während Lotte introvertiert ist und anderen gegenüber eine ablehnende Haltung hat. Selbst ihrer Schwester gegenüber gibt sie sich spröde. In ihr brodelt eine Wut, die Anna zunächst nicht nachvollziehen kann.
Die beiden Frauen haben nun in ihrer Kur Gelegenheit, die Jahre ihrer Trennung aufzuarbeiten. Die Gespräche schildern die unterschiedlichen Lebensbedingungen der benachbarten Länder. Die Zeit vor dem Krieg wird bei ihnen überschattet mit der Trauer um die Eltern und der Sehnsucht nacheinander. Der Krieg wirft natürlich andere Probleme auf, in denen die Frauen reifen. Ihre Lebenswege sind so unterschiedlich, dass sie sich mehr und mehr entfremden, bis sie sich schließlich nichts mehr zu sagen haben. Das familiäre Band reißt dennoch nie ganz ab. Die Autorin schafft hier einen dermaßen großen Einblick in die Charaktere, dass der Leser sich wie ein heimlicher Beobachter der Szene fühlt. Die gegenseitigen Schuldzuweisungen schließen sowohl persönliche Handlungen als auch politische mit ein. Das Lesen ist nicht nur unterhaltsame Zeitgeschichte, sondern fördert durch Anna und Lotte das Völkerverständnis.
Tessa De Loo beeindruckt mit ihrem Roman. Die fiktive Geschichte ist detailliert ausgearbeitet und durchgängig glaubhaft. Lottes Enttäuschung über die Trennung von ihrer Schwester ist wie ein roter Faden durch ihren gesamten Lebenslauf. Nur schwerfällig lässt sich diese entstandene Lücke füllen. Mit dem Ausbruch des Kriegs verliert sie obendrein ihre Wurzeln und schämt sich hinterher sogar ihrer Herkunft. Auch hier ist es der Autorin gelungen, der jüngeren Generation die Denkweise der Älteren begreifbar zu machen. Die Dialoge lassen die Leser ganz nah an die Figuren herankommen und mitfühlen. Die Zeit soll nicht etwa vergessen, sondern vielmehr durch Verständnis füreinander aufgearbeitet werden. Die Erzählweise weckt Emotionen und ist ein nachhaltiges Leseerlebnis, das ich gerne empfehle.