Ich muss diese Geschichte mit einem Geständnis beginnen: Ich kann meinen eigenen Namen nicht aussprechen.
Solange ich mich erinnere, war es mir unangenehm, mich anderen Menschen vorzustellen. Waren sie Deutsche, konnten sie die melodischen Laute nicht verstehen. Waren sie Vietnamesen, hatten sie Probleme mit meinem harten Akzent. Die Deutschen umgingen das Problem, indem sie mich gar nicht ansprachen. Die Vietnamesen fragten: »Wie schreibt man das?«
Einer sagte: »Bist du dir sicher?«
Ich erinnere mich an meine kindlichen Versuche, mit meinem Problem umzugehen. Gingen wir zu Karstadt, fuhr ich in die Spielzeugabteilung und suchte unter den bedruckten Bleistiften nach meinem Namen. Gingen wir zum Baumarkt, setzte ich meine Hoffnungen auf die bunten, langen Schlüsselanhänger.
Wenn ich meinen Namen nur finden würde, dachte ich, wäre das der Beweis, dass alles richtig war mit mir. Hunderte Bleistifte und Schlüsselanhänger durchsuchte ich. Ich fand »Katrin«, »Kristina« und einmal – da hüpfte mein Herz – »Kira«.
»Kiều« fand ich nicht.
»Kiều« existierte nur in der Welt meiner Familie und auf dem Titel eines Buches, das in dem Kellerregal meines Vaters stand: »Truyện Kiều, das Mädchen Kiều«. Ein Werk, das für die vietnamesische Literatur so wichtig war wie »Die Leiden des jungen Werther« für die deutsche. Natürlich konnte ich es nicht lesen.
Immer wenn mein Vater aufräumen musste, holte er dieses Buch hervor und sagte: »Weißt du eigentlich, dass du nach einer berühmten jungen Frau benannt bist? Jeder Schüler hat diesen Roman gelesen! Du bist in ganz Vietnam bekannt!«
Und weil ich meinem Vater als Kind alles geglaubt habe, glaubte ich ihm auch das und stellte mir vor, wie ich durch Vietnam laufen und von allen möglichen Leuten angesprochen werden würde. Unzählige Male würde ich mich vorstellen und meinen Namen aussprechen müssen. Unzählige Nachfragen würden darauf folgen.
Als ich sechzehn war, nannte ich mich um, weil ich glaubte, mit einem besseren Namen bessere Chancen zu haben, in Jeanettes Clique aufgenommen zu werden. Als ich zwanzig war, ließ ich meinen Pass ändern, weil ich endlich so etwas wie Macht über mein Schicksal verspürte.
Seit zehn Jahren bin ich eine andere. Die Deutschen sagen »Kimm« zu mir, die Vietnamesen »Kihm«. Es ist nicht richtig, aber es ist einfacher so. Der Verlust meiner Vergangenheit hat mir nichts ausgemacht, wirklich nicht. Bis ich diese Nachricht erhielt.
*
Die Nachricht erreichte mich über Facebook und war auf Englisch geschrieben, ein gewisser »Sơn Saigon« hatte mich kontaktiert.
»Bist du es, Kiều? Es gibt etwas, das du und dein Vater wissen müsst!«
Es gibt nicht viele Leute, die meinen wahren Namen kennen, man kann den Kreis der Eingeweihten auf meine große, nebulöse Verwandtschaft beschränken. Auf der Seite meiner Mutter gibt es einen vietnamesischen Zweig, der laut und kinderreich ist; jedes Mal, wenn die Verwandten Fotos schicken, bin ich überrascht, lauter neue Cousins und Cousinen darauf zu entdecken, deren Namen ich mir nicht merken kann, obwohl – oder weil – sie nur aus zwei Buchstaben bestehen.
Von der Familie meines Vaters erinnere ich vor allem eine gehörlose Tante. Soviel ich weiß, sind seine Geschwister nach Kriegsende aus Vietnam geflohen und schließlich in Kalifornien gelandet, vielleicht als Boatpeople, vielleicht auch nicht.
Dann gibt es noch eine Großtante in England, die als Anwältin der Cannabis-Mafia reich geworden ist, und einen angeheirateten Cousin, der Dichter war und nach dem Krieg vom PEN-Club aus Vietnam nach Kanada ausgeflogen wurde. Außerdem eine junge Cousine in Frankreich, die in dieser kitschigen Musik-Show aufgetreten ist, zu der meine Eltern so gerne Karaoke singen: »Paris by Night«.
All diese Leute kenne ich nur aus Erzählungen. Sie sind für mich so unwirklich wie die Geister der verstorbenen Ahnen, für die ich am vietnamesischen Neujahr ein paar Räucherstäbchen anzünde und ein Gebet simuliere. Einmal im Jahr schweben sie in mein Leben hinein, um sich nach einem kurzen Gruß wie Qualm zu verziehen.
Wer also ist Sơn?
Das Profilfoto seiner Facebook-Seite zeigt einen Mann mit buschigen Augenbrauen und einer geraden Nase, die mich an die meines Vaters erinnert. Vietnamesische Bekannte haben sie oft für ihre hohe, elegante Form bewundert, deswegen fällt sie mir bei Sơn als Erstes auf. Seine Augen sind ungewöhnlich rund, sodass sein Gesicht trotz der faltigen Stirn wie das eines Jungen wirkt. Offenbar lebt er in Westminster, Kalifornien, und führt ein Import-Export-Geschäft namens »Made in America«. Er muss der zweite Bruder meines Vaters sein. Der, der in der Schule so schlecht war und im Kartenspielen so gut.
Ich versuche, mich an die Familie meines Vaters zu erinnern, so wie man versucht, sich an Einträge aus Geschichtsbüchern zu erinnern. Vor fünfzehn Jahren habe ich meine Verwandten einmal getroffen – wir machten in Vietnam gerade Heimaturlaub und erfuhren zufällig, dass auch sie zu Besuch waren.
Warum wir nie zu ihnen nach Kalifornien geflogen sind, weiß ich nicht. Als ich meine Mutter einmal fragte, ob es irgendein Zerwürfnis gegeben habe, überlegte sie erst, dann schüttelte sie den Kopf. »Eigentlich«, sagte sie und dehnte das Wort ganz eigenartig, »ist alles in Ordnung. Aber Papas Familie ist schwierig, es ist besser, wenn wir uns auf unser Leben konzentrieren und sie sich auf ihres. Wir schicken Geld, wir müssen sie nicht auch noch in Kalifornien besuchen.«
Dann war wieder alles husch-husch, und ich traute mich nicht, weiter nachzufragen.
Es gibt etwas, das ihr wissen müsst!
Was will dieser Mann von mir?
Ich klappe den Laptop zu, um hinauszugehen in meinen Berliner Alltag, der deutsch, geordnet und frei von transkontinentalen Familienproblemen ist. Fünfzehn Jahre hat mein Onkel nicht mit mir gesprochen, ob ich ihm später antworte – oder auch nie –, macht doch keinen Unterschied.
*
Zweieinhalb Wochen später fahre ich zu dem hellblauen Haus, in dem meine beiden Geschwister und ich aufgewachsen sind. Es ist Weihnachten, und wie jedes Jahr versetzt mich das in eine seltsame Stimmung. Ich kehre nicht nur nach Hause, sondern auch in die Deplatziertheit meiner Kindheit zurück.
Meine Eltern haben dieses Fest gelernt, so wie sie die deutsche Grammatik gelernt haben – als etwas, das man vollführt, um Teil von diesem Land zu sein. Den Tannenbaum im Wohnzimmer haben sie mit einem Weihnachtsmann-Kuscheltier, selbst bemalten Holzfiguren, kitschigen Glitzerkugeln und zwei Lichterketten in verschiedenen Farben geschmückt.
Fehlt eigentlich nur noch der Kunstschnee.
Ich setze mich an mein altes Klavier und spiele das Präludium in C-Moll von Bach aus dem Wohltemperierten Klavier. Das Hämmern der Töne vermischt sich mit dem Klappern aus der Küche, wo meine Mutter wie immer mit ihren Töpfen hantiert. Wie oft habe ich mich mit ihr wegen meiner Klavierstunden gestritten und heulend auf diesem schwarzen Hocker gesessen. Wie oft habe ich mir gewünscht, in einer Familie aufzuwachsen, die nicht erst deutsch werden musste, sondern es einfach schon war.
Die Skiausrüstung im Keller, die BMWs in der Garage, die gerahmten Familienporträts aus Ibiza, Paris und der Bucht von Halong bebildern eine Geschichte, die sich alle immer gern erzählt haben: Schaut euch diese Familie an! Sind zwar Ausländer, haben es aber trotzdem geschafft! Irgendetwas hat mich immer gestört, wenn uns »die Deutschen« – so nannten wir sie, wie ein fremdes, fernes Volk – zu der Karriere meines Vaters, dem »Fleiß« meiner Mutter oder dem »hervorragenden Deutsch« von meinen Geschwistern und mir gratulierten. Während sich der Stolz auf den Gesichtern meiner Eltern ausbreitete, fühlte ich mich jäh verletzt.
Ich greife daneben, meine Hände bleiben auf dem schrägen Akkord liegen. Als die Geräusche aus der Küche verstummen, schließe ich den Deckel der Tastatur. Über dem Klavier hängt ein Schwarz-Weiß-Foto, das mein Vater vor vielen Jahrzehnten von seiner Mutter gemacht hat: Schmal und anmutig sitzt sie in einem Taxi. Ihre Haare sind in Locken zur Seite gesteckt, ihr vietnamesisches Seidenkleid, das Áo dài, ist mit goldenen Blumen bestickt. Er hat das Foto vor vielen Jahren in Saigon geschossen, kurz bevor er zum Studium nach Deutschland ging. Obwohl meine Großmutter mit einem breiten Lächeln und aufgerissenen Augen in die Kamera sieht, liegt etwas Wehmütiges in ihrem Blick.
Mein Vater hat mir einmal gesagt, dass ihn mein Gesicht an ihres erinnere. Ich sehe die Ähnlichkeit vor allem in der hohen Stirn, die ich mit wechselnden Pony-Frisuren kaschiere. Ich bin nicht ganz so dünn wie sie, etwas größer vielleicht, und natürlich trage ich nie Áo dài, sondern immer nur schwarze Hosen zu monochromen Oberteilen. Weil ich finde, dass Asiaten mit Brille so streberhaft aussehen, trage ich trotz meiner fünf Dioptrien ausschließlich Kontaktlinsen.
Bei meinem letzten Vietnambesuch haben mich viele für eine Ausländerin gehalten, nicht für eine Vietnamesin. Ich muss gestehen, das hat mich gefreut.
*
Als die Dunkelheit durch die bodentiefen Fenster hereinbricht, setzen meine Geschwister und ich uns an den Esstisch, den meine Mutter zur Feier des Tages mit dem schweren Rosenthal-Porzellan gedeckt hat, das sie sonst ausschließlich für deutsche Gäste aus dem Schrank holt. Sie hat sich sogar eine weiße Seidentischdecke aus dem KaDeWe geleistet, obwohl sie dort so selten hingeht und aus Prinzip nur heruntergesetzte Produkte kauft. Sie lebt zwar schon Jahrzehnte in Deutschland, hat die vietnamesische Angewohnheit, immer sparen zu wollen, aber nie abgelegt. Sie war als Kind sehr arm und kann dieses Gefühl auch als Erwachsene nicht abschütteln; weder der BMW noch das große Haus kommen dagegen an.
»Hundert Euro! Ich habe echt lange überlegt«, zärtlich streicht sie über das schimmernde Tuch, »ich dachte, dass einer von euch sie später erben kann.«
Was wir heute essen würden, haben wir in den vergangenen Wochen ausgiebig diskutiert – am Ende haben wir uns auf Hummer geeinigt, wie auch in den drei Jahren davor. Keiner von uns mag Meeresfrüchte, aber Hummer sind festlich und schmecken nicht so fischig, einmal im Jahr gönnen wir sie uns. Auf einer Platte leuchten fünf Tiere unschuldig und orange-rot vor sich hin. Mein Vater greift zu einer Gartenzange, die er beim vorletzten Mal behelfsmäßig gekauft hat und dann so praktisch fand, dass er sie seitdem immer wieder verwendet hat.
Im Schlafzimmer klingelt das Telefon.
»Nicht abnehmen«, befiehlt meine Mutter und erhebt sich, um Salat zu servieren. In ihren Augen blitzt ein Ärger auf, den ich von unzähligen Auseinandersetzungen aus meiner Schulzeit kenne: der Ärger darüber, dass jemand es wagt, das heilige Beisammensein der Familie zu stören.
Das Läuten verstummt und beginnt nach einer kurzen Pause erneut.
»Unverschämt«, schimpft meine Mutter und sticht mit ihrer Gabel in den Salat. Mein Vater, wie immer solidarisch mit ihr, schneidet seinem Hummer eine Zange ab.
Stille, dann klingelt es wieder.
Ich springe von meinem Stuhl hoch. Vielleicht ist es ja ein Notfall. Oder, was ich nicht hoffe, mein alter Schulfreund Thomas, der weder Familienrituale noch Feiertagsruhe kennt. Ich renne zum Telefon, so wie ich als Schülerin oft zum Telefon gerannt bin, um zu verhindern, dass meine Mutter ihn an den Hörer bekommt und beschimpft.
»Ja?«, ich klinge unhöflich. Ich will unhöflich klingen.
Eine unbekannte Männerstimme antwortet. Auf Vietnamesisch fragt sie, wer am Apparat sei.
»Kim hier«, antworte ich. Ich habe seit unserem letzten Vietnam-Urlaub vor fünf Jahren kein Wort Vietnamesisch gesprochen und ärgere mich, die Sprache ausgerechnet jetzt mit diesem Unbekannten üben zu müssen.
»Wer?«
Vielleicht ist er einer meiner Verwandten, offenbar kennt er meinen deutschen Namen nicht. Ich versuche es noch einmal.
»Hier ist Kiều!«, ich spreche etwas lauter und dehne die Silbe.
»Ich habe den Namen immer noch nicht verstanden. Wer?«
»Kiều!«, wiederhole ich noch einmal. »Die Tochter von Minh!«
»Ach so, Kiều! Warum hast du das nicht gleich gesagt?«
Das Gespräch ist keine dreißig Sekunden alt und hat mich schon in die dunkle Kammer meiner beschämendsten Erinnerungen zurückversetzt. Plötzlich sehe ich wieder vor mir, wie ich bei meinem letzten Besuch in Saigon versuche, mich radebrechend verständlich zu machen. Ich hatte diese Erinnerung lange verschlossen; nun fällt mir ein, warum.
Vielleicht sollte ich einfach wieder auflegen.
»Hier ist dein Onkel Sơn aus Kalifornien«, sagt der Mann am anderen Ende. »Ich hatte schon versucht, dich über Facebook zu erreichen, wahrscheinlich hast du meine Nachricht nicht gesehen.«
Er macht eine Pause, es scheint ihm schwerzufallen zu sprechen. Weil ich nicht weiß, ob oder wie ich mich jetzt entschuldigen soll, schweige ich. Irgendetwas rauscht in der Leitung.
Die Verbindung ist sehr schlecht.
»Es geht um deine Großmutter«, sagt er schließlich, »sie liegt im Sterben. Ich muss unbedingt mit deinem Vater reden.«
In einer anderen Situation – in einer anderen Sprache – hätte ich jetzt gerne etwas gesagt. »Ich wünschte, ich hätte sie besser kennengelernt. Jetzt ist es zu spät dafür«, wäre zum Beispiel gut gewesen. Aber da ich offenbar nicht mal in der Lage bin, meinen eigenen Namen zu kommunizieren, murmele ich nur »okay« und rufe, den Hörer mit einer Hand abdeckend,
nach meinem Vater.