Viele spezifische Faktoren in den Strukturen der Finanzwelt und Politik der Gegenwart haben zum Problem der Reichtumskonzentration beigetragen. Doch der entscheidende Faktor ist: Dem gegenwärtigen Wirtschaftssystem wohnt ein grundsätzlicher Trend zur Konzentration des Reichtums inne. Gegen einen weitverbreiteten Glauben müssen wir feststellen, dass die reichsten Menschen nicht notwendigerweise böswillige Manipulatoren sind, die das System mit Hilfe von Schmiergeldern oder Korruption zu ihren Gunsten beeinflusst haben. Vielmehr arbeitet das derzeitige kapitalistische System ganz von selbst zu ihrem Vorteil. Reichtum funktioniert wie ein Magnet. Der größte Magnet zieht die kleineren auf natürliche Weise an. Genau so funktioniert auch das heutige Wirtschaftssystem. Und die meisten Menschen unterstützen dieses System stillschweigend: Man beneidet die ganz Reichen, aber für gewöhnlich greift man sie nicht an. Im Gegenteil: Man ermutigt seine Kinder, reich zu werden, wenn sie einmal groß sind.
Im Gegensatz dazu ist es für arme Menschen – für Menschen ohne Magnet – schwer, auf irgendetwas eine Anziehungskraft auszuüben. Wenn sie es irgendwie schaffen, einen kleinen Magneten zu ergattern, müssen sie darum kämpfen, ihn auch zu behalten. Die größeren Magnete üben eine fast unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Die Konzentrationskräfte verändern unaufhörlich die Form der Reichtumskurve. Und diese Konzentrationskräfte wirken ausschließlich in eine Richtung. Auf der einen Seite reichen die Säulen der Reichtumsskala bis in den Himmel, während sie sich beim Rest der Bevölkerung kaum über das Niveau des Bodens erheben.
Eine solche Struktur ist nicht nachhaltig. Im Gegenteil, sowohl sozial als auch politisch ist sie eine tickende Zeitbombe, die alles zerstören kann, was wir in den letzten Jahren geschaffen haben. Und dennoch ist das die erschreckende Realität, die sich um uns herum etabliert hat, während wir mit unserem alltäglichen Leben beschäftigt waren und die Zeichen der Zeit nicht wahrgenommen haben.
Das ist nicht das, was die Verfechter klassischer Kapitalismustheorien uns zu erwarten lehrten. Seit der Entstehung des modernen Kapitalismus vor ungefähr 250 Jahren ist das Konzept des freien Marktes als natürliches Regulativ der Verteilung von Reichtum weithin akzeptiert. Man hat uns beigebracht, dass eine »unsichtbare Hand« den Wettbewerb garantiert, der zum Gleichgewicht der Kräfte auf den Märkten beiträgt und den gesellschaftlichen Nutzen erzeugt, an dem automatisch alle teilhaben. Von freien Märkten, die der Vermehrung der Gewinne dienen, erwartet man, dass sie einen besseren Lebensstandard für alle produzieren.
Zwar hat der Kapitalismus Innovationen und Wirtschaftswachstum gefördert. Aber in einer Welt von himmelschreiender Ungleichheit fragen immer mehr Menschen: »Produziert diese unsichtbare Hand tatsächlich Nutzen für alle in der Gesellschaft?« Die Antwort scheint klar. Irgendwie muss diese unsichtbare Hand eine starke Voreingenommenheit zugunsten der Reichsten haben – wie sonst könnte die heute schon enorme Reichtumskonzentration immer weiter zunehmen?
Viele von uns glaubten dem Satz: »Das Wirtschaftswachstum ist eine steigende Flut, die alle Boote emporhebt.« Doch dieser Spruch übersieht die verzweifelte Lage jener Millionen, die sich an lecke Flöße klammern oder gar keine Boote haben.
In seinem Bestseller Das Kapital im 21. Jahrhundert bietet
der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty eine umfassende Analyse der aktuellen Tendenz des derzeitigen Kapitalismus, die wirtschaftliche Ungleichheit zu vergrößern. Seine Diagnosen regten Debatten in aller Welt an. Piketty hat grundsätzlich Recht, was die Analyse des Problems angeht. Aber die von ihm vorgeschlagene Lösung, nämlich das Ungleichgewicht der Einkommen durch progressive Besteuerung auszugleichen, ist nicht auf der Höhe des Problems.
Wir müssen viel grundsätzlicher neu über Wirtschaft nachdenken. Und wir müssen endlich wahrnehmen, dass die neoklassische Sicht des Kapitalismus keine Lösung für die wirtschaftlichen Probleme bietet, mit denen wir heute konfrontiert sind. Der Kapitalismus hat beeindruckende technologische Fortschritte und gewaltigen Reichtum hervorgebracht. Doch dies ging einher mit massiver Ungleichheit und furchtbaren Menschheitsproblemen, die durch die Ungleichheit hervorgerufen werden. Wir müssen unseren unhinterfragten Glauben daran aufgeben, dass an persönlichen Gewinnen orientierte Märkte alle Probleme lösen. Stattdessen müssen wir einsehen, dass die Probleme der Ungleichheit nicht mit Hilfe der Ökonomie, wie sie gegen wärtig strukturiert ist, gelöst werden. Im Gegenteil, die Probleme werden, wenn alles bleibt, wie es ist, sehr schnell immer akuter werden.
Und dabei handelt es sich nicht um Probleme, die allein die »Verlierer« im Spiel des kapitalistischen Wettbewerbs betreffen, auch wenn diese Verlierer des kapitalistischen Wettbewerbs die überwältigende Mehrheit der Weltbevölkerung darstellen. Nein, diese Probleme wirken sich aus auf die nationale und global soziale und politische Situation, den wirtschaftlichen Fortschritt und die Lebensqualität von uns allen. Sie betreffen auch diejenigen, die der reichen Minderheit angehören.
Die zunehmende Ungleichheit hat zu sozialen Unruhen, politischer Polarisierung und wachsenden Spannungen zwischen Bevölkerungsgruppen geführt. Sie ist der Hintergrund von so unterschiedlichen Phänomenen wie der Occupy Bewegung, der Tea Party Bewegung und dem Arabischen Frühling, dem Brexit-Entscheid Großbritanniens, der Wahl von Donald Trump und dem Anwachsen von rechtsgerichtetem Nationalismus, Rassismus und Gruppen von Wutbürgern in Europa und den USA. Menschen, die sich abgehängt fühlen und glauben, keine Zukunftsperspektive zu haben, werden zunehmend enttäuschter und wütender. In unserer Welt herrscht eine scharfe Trennung zwischen den Wohlhabenden und den Habenichtsen– zwei Gruppen, die außer dem Gefühl gegenseitigen Misstrauens, der Angst und Feindschaft wenig miteinander gemein haben. Dieses Misstrauen verstärkt sich in dem Maße, wie Informations- und Kommunikationstechnologien sich auch innerhalb der ärmsten Bevölkerungsschichten ausbreiten, sodass ihnen immer mehr bewusst wird, wie ungleich die Karten gemischt sind.
Diese Situation ist für niemanden angenehm, auch nicht für jene, die in den gesellschaftlichen Hierarchien ganz oben stehen. Können die Reichen und Mächtigen wirklich ihr Leben innerhalb von abgeriegelten Wohnbereichen genießen, wo sie sich vor der Lebenswirklichkeit der restlichen 99 Prozent verstecken? Macht es Spaß wegzusehen, wenn man auf der Straße den Armen und Obdachlosen begegnet? Ist es ihnen eine Freude, staatliche Instrumente wie Polizeikräfte und andere Zwangsmaßnahmen zu benutzen, um die unvermeidlichen Proteste derer zu unterdrücken, die in der Hierarchie ganz unten stehen? Möchten sie ihren Kindern und Enkeln wirklich eine solche Welt hinterlassen?
Ich glaube, dass die meisten Reichen diese Fragen mit »Nein!« beantworten.
Ich glaube nicht, dass reiche Menschen reich geworden sind, weil sie schlechte Menschen sind. Viele von ihnen sind gute Menschen, die einfach das bestehende Wirtschaftssystem genutzt haben, um auf der sozialen Leiter aufzusteigen. Und vielen von ihnen ist es unangenehm, in einer Welt mit einer scharfen Trennung zwischen Armen und Reichen zu leben.
Ein Indiz dafür sind die großen Geldsummen, die Menschen an Non-Profit-Organisationen oder durch Stiftungen für wohltätige Zwecke spenden. Jedes Jahr gehen Hunderte Milliarden Dollar an Wohlfahrtsverbände. Auch die meisten Konzerne zweigen als Ausdruck ihrer »sozialen Verantwortung« einen gewissen Prozentsatz ihrer Gewinne für Projekte im Dienste der Allgemeinheit und wohltätiger Organisationen ab, selbst wenn Gewinnmaximierung die unternehmerische Zielsetzung ist.
Darüber hinaus investiert praktisch jede Gesellschaft einen signifikanten Teil ihrer Steuereinnahmen für Soziales, also für Gesundheitsversorgung, für Lebensmittel- und Wohnungsbeihilfen und andere Formen von Unterstützung der Ärmsten. Diese Bemühungen sind zwar oft unzureichend und schlecht konzipiert. Aber allein die Tatsache, dass es sie gibt, zeigt, dass die meisten Mitglieder einer Gesellschaft sich verpflichtet fühlen, zur Reduzierung der extremen Ungleichheit beizutragen, in der so viele Millionen Menschen nicht die notwendigen Mittel für ein sicheres und erfülltes Leben haben.
Wohltätigkeit und Sozialprogramme sind gut gemeinte Bemühungen, um die vom kapitalistischen System verursachten Verwerfungen einzudämmen. Aber um das Problem wirklich zu lösen, muss das System als solches grundlegend verändert werden.