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Varda Hasselmann über ihren Roman "Die Seelenwaage"

"Es geht im Roman aber eigentlich nicht um die Nazi-Zeit, sondern um das, was sie noch nach Jahrzehnten im Gemüt unserer Eltern und Großeltern angerichtet hat. Schweigen und Verschweigen stehen (...) im Mittelpunkt des Erzählens."

Varda Hasselmann
© privat

Frau Hasselmann, Sie sind seit vielen Jahren als Sachbuchautorin tätig und beschäftigen sich intensiv mit der Seele des Menschen. Mit „Die Seele der Papaya“ haben Sie aber auch schon einen Roman, mit „Aus lauter Liebe“ eine Reihe von Erzählungen veröffentlicht. Nun legen Sie Ihren zweiten Roman vor. Wie kam es dazu?

Schon bald nach Erscheinen der „Papaya“ kamen Ideen für einen neuen Roman. Der erste war mir so leicht aus der Feder geflossen! Aber der zweite ist ja bekanntlich immer die größere Herausforderung. Ich entwarf das Bild einer schlichten deutschen Frau, die auf ihre Weise zum Opfer des Nationalsozialismus wird, einfach deshalb, weil sie ein Kind ihrer Zeit ist. Sie steht für Millionen anderer. Es stellte sich die Frage, ob ein junger Mensch sich unter dem Joch einer Diktatur wirklich heraushalten kann. Welche psychischen Folgen hat jahrzehntelanges Schweigen? Ist nicht auch Schweigen eine Tat? Kann man schuldig und unschuldig zugleich sein? Wer darf das Urteil fällen? Daher der Titel „Die Seelenwaage“.

Ihre Hauptfigur ist eine alte Frau. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Als blutjunges Mädchen hat meine Hauptfigur in Auschwitz auf der Zwillings-Station des Dr. Mengele gearbeitet. Für den Rest ihres Lebens leidet sie an den psychischen Folgen der schrittweisen Erkenntnis, in welche Kriegsgräuel sie verwickelt war. Im Alter ist sie verhärtet und verbittert, sucht spirituellen Trost in einer Wallfahrt nach Santiago, doch sie findet ihn nicht. Die Pilgerfahrt wird zu einer Reise in die schmerzerfüllte Vergangenheit.

Was hat Sie bewogen, einen Roman über Nationalsozialismus und Krieg zu schreiben?

Die zahlreichen Berichte von Zeitzeugen, die Flut der Veröffentlichungen, die nicht nur das furchtbare Leid der KZ-Opfer, sondern auch die innere Not, die Verblendung und die seelische Verstümmelung der deutschen Jugend unter Hitler belegen, haben mich motiviert, mich diesem Thema zuzuwenden. Es geht im Roman aber eigentlich nicht um die Nazi-Zeit, sondern um das, was sie noch nach Jahrzehnten im Gemüt unserer Eltern und Großeltern angerichtet hat. Schweigen und Verschweigen stehen daher im Mittelpunkt des Erzählens. Das Unvermögen, über das Entsetzliche zu reden, und das Vergessenwollen betrifft eine ganze Generation und ihre Nachkommen. Meine beiden Großväter waren Parteimitglieder.

Wie viel historische Recherche war notwendig, um ein authentisches Bild der Zeit und der Personen zu entwickeln?

Ich musste mich den geschichtlichen Gegebenheiten zuwenden, einer Sozialisation unter der Nazi-Doktrin, einem dörflich-katholischen Milieu, das im Kontrast dazu stand. Ich las historische Berichte und Analysen, Lebensgeschichten und Prozessakten, sah mir viele Dokumentarfilme an. Auch verbrachte ich einige Tage in Günzburg, der Heimat von Dr. Mengele und meiner Hauptfigur. Und während ich immer mehr Mitgefühl mit der alten Frau entwickelte, über die ich schrieb, ging mir die Beschäftigung mit den Zwillingsexperimenten des Erbforschers derart an die Nieren, dass ich einmal ein ganzes Jahr mit dem Schreiben aussetzen musste und am liebsten alles hingeworfen hätte. Doch die Schuld-Thematik, der – wie ich glaube – kein Lebender entgehen kann, ließ mich nicht los.

Ihr Roman beschäftigt sich mit den Themen Schuld und Vergebung während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Warum hat ein solcher Stoff auch siebzig Jahre nach Kriegsende nichts an Aktualität verloren?


Mit der Zeit wurde der Gegenstand meines Romans immer aktueller. André Hellers Gespräch mit Hitlers Sekretärin bewegte mich außerordentlich. Günter Grass bekannte sich zu seiner SS-Vergangenheit. Letzthin waren auch die Prozesse 2013 und 2015 gegen Mittäter von großer Bedeutung für mich. Zu schildern was ein menschenverachtendes Regime, die Propagandamaschinerie und böswillige Indoktrination in einem Menschen anrichten, kann niemals an Aktualität verlieren. Solche Diktaturen gibt es auch im Moment zuhauf auf der Welt, wir erleben es jeden Tag. Doch die letzten Zeitzeugen des Dritten Reichs gehen uns verloren und die meisten von ihnen konnten nie über das reden, was ihnen widerfahren ist oder was sie getan und unterlassen haben. Sie mussten alles Schreckliche, ihre Täter- und Opferschaft, verdrängen, um weiterleben zu können. Ich spüre mehr und mehr Verständnis für Menschen, die keine Wahl hatten, und ärgere mich über die Neigung zur Verurteilung nachfolgender Generationen, die den Absolutheitsanspruch des Nationalsozialismus niemals erfahren haben. Oft äußern sie sich in beklagenswerter Gefühlsignoranz zum Leid der Älteren.

Die Protagonistin Ihres Romans war innerlich überzeugt nichts Unrechtes getan zu haben, war aber faktisch auf der Seite der Täter. Vergeben kann sie sich das nie. Ihr Leben lang wird sie von Schuldgefühlen gequält. Warum gelingt es ihr nicht sich selbst zu verzeihen?

Das Beharren auf einer vagen Mitschuld und das Verharren in der moralischen Selbstkasteiung ist für sie eine unbewusste Form der Sühne dafür, dass sie „dabei“ war. Wer nicht reden und nicht weinen darf, endet fast unausweichlich in Verhärtung. Zugleich ist die Sehnsucht nach Nähe und Liebe genauso groß wie die Angst davor, denn Liebe macht weich. Meine Hauptfigur stirbt lieber, als ihren Schweige-Eid zu brechen. Wer Jahrzehnte lang ein schuldbeladenes Geheimnis mit sich trägt, beginnt nach und nach sich über seine Schuldgefühle als Persönlichkeit zu definieren. Das Schweigen verselbständigt sich. Sich nicht verzeihen zu können oder zu wollen wird zu einer Form narzisstischer Selbstgefälligkeit. Walburga kennt kein Mitgefühl mit sich, nur Selbsthass. Selbstvergebung bedeutet für sie Charakterschwäche. Sich menschliche Fehlbarkeit zu verzeihen, erfordert ein großes Maß an Demut.

Die Seelenwaage

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