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Die Übersetzerin Uta Gosmann über Louise Glücks "Winterrezepte aus dem Kollektiv"

Louise Glücks Winterrezepte aus dem Kollektiv sind ein spätes Werk. Der schmale Band der fast achtzigjährigen Dichterin enthält das Wesentliche, das, was am Ende bleibt, in fünfzehn Gedichten auf vierzig Seiten. Die Gedichte sind von den Tropen der Lebensfülle reduziert und kommen mit den spärlichen „Zutaten“ des Winters und den schlichteren (aber verlässlichen) Ressourcen des Kollektivs aus. Die alten Leute im Titelgedicht ernähren sich von surrealen „Moosbroten“ und überleben in arbeitsteiliger, ritualisierter Gemeinschaft. Die Sprache ist sparsam, die Form ohne Schnörkel und Prätention. Die Wirkung des Bands gründet sich auf ein sprachgewaltiges Gesamtwerk aus fünfzig Jahren kreativen Schaffens. Abstrahiert, konzentriert und verfeinert sind die Winterrezepte das vielleicht subtilste Buch der Nobelpreisträgerin.

Es ist ein Kennzeichen des späten Stils, schreibt der Literaturtheoretiker Edward Said, und des besonderen Tons in diesen Gedichten, dass widersprüchliche affektive Tendenzen nebeneinanderstehen, ohne aufgelöst oder integriert zu werden. Was sie zusammenhält, ist die reife Subjektivität der Künstlerin. Das Gedicht „Winterreise“ z.B. hat einen lyrischen, doch auch müden Anfang, erzählt sowohl mit Witz als auch mit Melancholie vom Besuch bei der Schwester im Krankenhaus, fährt mit einer zärtlich-morbiden Kindheitserinnerung an die Mutter fort, die den Kindern das viele Schlafen empfiehlt, und schließt mit der trostlosen und auch skurrilen Bewältigung der letzten, verschneiten (Lebens-)Strecke. Am Ende scheint es, als drehe sich die „Freundin“ noch einmal um, bevor das Dunkel sie verschluckt. Die lyrische Stimme gesteht ein, aus der Gegenwart der Freundin Kraft gezogen zu haben, nur um den Lesern in der letzten Zeile jede weitere Ausführung—oder Gegenwart—brüsk zu verweigern: „Einige von euch werden wissen, was ich meine.“

Liest man Glück, so ist es ratsam, sich von vorgefassten Meinungen über amerikanische Lyrik zunächst zu verabschieden. Wie die Literaturkritikerin Anahid Nersessian schreibt, liegt Glück nichts ferner als „the big strip tease“ einer Sylvia Plath (auch wenn Plath hier von Verachtung trieft). Glück entblößt sich für niemanden, bietet sich nicht dar, beglückt ihr Gegenüber und das Publikum nicht mit dem, was es sich vielleicht erhofft. Sie entschuldigt sich nicht, wenn sie einbehält oder verweigert. So vorenthaltend wie „Winterreise“ endet, fängt „Endlose Geschichte“ an: „Mitten im Satz / schlief sie ein ...“ In demselben Gedicht bleiben die Umstehenden um eine am Boden liegende Kranke passiv, und „niemand eilte, um Hilfe zu holen“; „wir verweilten so für lange Zeit, / gestrandet, dachte ich bei mir, / wie Schiffe, lahmgelegt von schlechtem Wetter“. In dem Gedicht „Ein Satz“ nennt die lyrische Sprecherin den hoffnungsvollen Glauben der Schwester an eine letzte Frage „töricht“ und fertigt sie, wie bereits im Titel angekündigt, mit einem einzigen Satz ab: „Alles ist zu Ende.“ Auf ähnliche Weise macht sie in „Neuer Auftrieb“ den optimistischen Vergleich der Schwester zunichte, die in ihrem „Auftrieb“ den mächtigen Wind der Kindheit erkennen will, und kommentiert kalt und zweisilbig: „Wohl kaum.“ Wer meint, eine Dichterin, die „ich“ schreibt und persönliche Erfahrungen einflicht, beschränke sich automatisch aufs Private und erwarte von Leser*innen wohlige Anteilnahme, sollte seine kulturellen Prägungen beleuchten und Glück noch einmal genauer studieren. Das „Ich“ in diesen Gedichten wirbt nicht um Sympathie oder Verständnis. Gegenüber der Identifikation der Leser ist es gleichgültig. Wie der „rasselnde Wecker“ in „Nachtgedanken“ ist es störrisch, eigenwillig und ungefügig.

Glück entblößt sich für niemanden, aber sie hält sich auch für niemanden bedeckt. Das Verschwinden der Freundin in der Dunkelheit wird von dem sehnlichen Wunsch begleitet, sie möge ihr noch einmal zuwinken. Das harte „wohl kaum“ mündet nur wenige Zeilen später in eine zärtliche Umarmung der Schwester. Und der unbarmherzigen (aber auch komischen) Selbstbeschreibung als „rasselnder Wecker“ geht die bestürzende Erkenntnis voraus, dass die Liebe der Mutter verlorenging.

Was auf den ersten Blick ein knappes und strenges Buch zu sein scheint, entfaltet auf den zweiten einen optimistischen, gar triumphierenden Tenor, der oft Hand in Hand mit der Rückbesinnung auf das Gemeinschaftliche geht. Wie die Kranke in der „endlosen Geschichte“ erklärt, ist es ein Privileg des Alters, sich der meisten individuellen „Fakten“ entledigen zu dürfen und auf tiefere, kollektiv verwahrte Wahrheiten zu stoßen. Diese werden z.B. vom dienstbaren „Concierge“ und dem etwas gequälten Kunstlehrer verkündet. „Selige“ Momente liegen an gemeinschaftlich begangenen Feiertagen trotz aller Skepsis in Reichweite. Chinesische Weisheiten werden wie das Gegenmittel zum allgegenwärtigen kalten Schnee mit einem Augenzwinkern über die Gedichte gesprenkelt. Die alte Kunst des Bonsai vermag aus gestutzten Bäumchen Figuren zu zaubern, die sich „wieg[en] im hohen Wind / wie der Mensch im All“. Die Freiheit des Denkens, Sehens und Träumens überwindet die Verbote der Kindheit und die Begrenzung durch den Tod. Wie Leo Cruz im letzten „Lied“ doppeldeutig spricht: „Du wirst schon sehen.“ Die lyrische Stimme, die den Übergang ins Woanders geschafft hat, schließt: „Dann bin ich froh zu träumen / das Feuer brennt weiter.“

Wie diese letzten Zeilen andeuten, wird konventionelle Zeitlichkeit transzendiert: Mit dem Sterben der Schwester sind manche Gedichte der Gegenwart zwar noch verhaftet, inszenieren aber bereits eine Existenz jenseits der Zeit. Sie springen rapide zwischen Kindheit und Alter, so dass zeitliche Fixpunkte und Distanzen verwischen. Die wiederkehrenden Motive des Zurückgehens, Verharrens und des Laufens im Kreis zersetzen die lineare Zeit. Die Rückkehr in die Kindheit dient als Tor zur Zeitlosigkeit, wie in dem Gedicht „Eine Erinnerung“, das entgegen seiner Ankündigung nicht in die Vergangenheit, sondern in die Vergessenheit führt. Glücks poetische Einheit ist das Buch; Themen und Motive werden wiederholt aufgegriffen, abgewandelt und ausgearbeitet. Die Zeitlosigkeit in den Gedichten trägt zu dem Eindruck bei, dass sie sich auf einer Ebene unterhalb des differenzierten Wachbewusstseins bewegen. In ihren Lesungen verstärkt Glück diese traumartige Wirkung durch die Art ihres Vortrags.

Die besondere Empfindsamkeit in Glücks Gedichten, ihr ganz eigener Ton, ist für das Verständnis ihres Werks besonders wichtig. Den Hintergrund dieser Empfindsamkeit bildet die jüdisch-amerikanische Kultur des Ostens der USA. Ich kenne Glück schon seit vielen Jahren persönlich, habe über sie literaturkritisch und übersetzerisch gearbeitet. Wir sind regelmäßig im Dialog, wenn sich Fragen ergeben. Obwohl sie deutsch nicht spricht, ist sie germanophil, stolz auf den Umlaut in ihrem Namen und folgt den Klängen aufmerksam, wenn ich ihr auf ihre Bitte die deutschen Versionen der Gedichte vorlese. Ich wiederum habe von zahlreichen Lesungen ihre Stimme im Ohr und ihren Affekt im Gespür. Hat man als Übersetzerin nicht das richtige Gefühl für ein Gedicht, kann die Übersetzung nicht gelingen. Das bedeutet auch, um im kulinarischen Bild der Winterrezepte zu bleiben, dass die Übersetzung sich im Fall dieses Bands sprachlich genauso schlichter „Zutaten“ und „Gewürze“ bedienen muss wie das Original. Die somit entstehenden deutschen „Moosbrote“ mögen nicht allen schmecken, das viele Kauen dem ein oder anderen Schmerzen im Kiefer verursachen, aber die (vielleicht unterschätzte) Fremdheit des englischen Texts und seine Originalität werden bewahrt.

Formal wird Glücks Ton vor allem durch die syntaktische Gangart der Gedichte, die Art und Weise, von Zeile zu Zeile voranzuschreiten, erzeugt. Wie ein Strom, der seinen Weg um Steine, Unebenheiten und Windungen findet, mäandert der Sprachfluss um Momente des Zögerns, Relativierens oder Konkretisierens. Glücks wichtigstes stilistisches Mittel ist das Enjambement, mit dem sie einen Gedanken aus der vorigen Zeile überraschend in eine neue Richtung lenkt; das letzte Wort kann häufig ambivalent als Teil derselben Zeile oder als erstes Wort der nächsten Zeile gelesen werden. Für die Übersetzung ergibt sich aus diesem Merkmal der englischen Gedichte die Notwendigkeit, ihnen syntaktisch möglichst präzise zu folgen. Den Fluss des Englischen erreicht das in seiner Tendenz etwas umständlichere Deutsche, indem es Zahl und Muster der Hebungen im jeweiligen Vers aufgreift oder ein eigenes Muster an die Stelle setzt.

Glücks zugängliches Vokabular darf nicht als Umgangssprache missverstanden werden. Die häufigsten Wörter in den Gedichten sind archetypisch abstrahiert und der zeitlosen Welt der Mythen und Märchen entlehnt: Tag, Nacht, Junge, Mädchen, Berg, Welt, Winter, Wind, Schnee, Sonne, Sterne, Schatten, Schwester, Freund, Mutter. Die Gedichte haben typologische Überschriften wie „Gedicht“, „Eine Kindergeschichte“, „Parabel“, „Eine Erinnerung“, „Ein Satz“ und „Lied“. Die Übersetzung strebt das tonale Äquivalent an, nach dem man im Fall der meisten obigen Wörter dank der gemeinsamen angelsächsischen Wurzel nicht lange suchen muss. An anderen Stellen verleihen deutsche Wendungen eigene „Würze“ und Prägnanz.

Glücks erzählende Passagen sind in freiem Vers gehalten, aber Anfänge, Enden oder lyrische Abschnitte folgen oft einem jambischen oder trochäischen Metrum. Die Übersetzung greift die rhythmischen Mittel auf und verstärkt sie zum Teil (z.B. „ich versuche, dich zu trösten, /doch sind Worte keine Lösung“; „Die toten Blätter lagen auf den Steinen; / es blies kein Wind sie aufzuheben“; „Dunkler konnte es nicht werden“; „Wie konnten da die Sterne sein, / wo es keine Bäume gab?“). Klangliche Wiederholungen und Echos tragen zur entdifferenzierenden, traumartigen Wirkung bei (z.B. nannte ich dich-glaube ich-üblich ist; das wieder zu sehen-um sicherzugehen-etwas Schnee-wie selig; vor den Scheiben treiben Kühe und Weiden; kehrte ich zurück in die Zeit-vor meiner Kindheit-die Vergessenheit, vielleicht). Die deutschen Gedichte sollen in sich ästhetisch stimmig sein und unabhängig vom Ursprungstext wirken.

Louise Glücks Winterrezepte aus dem Kollektiv erinnern daran, dass Gedichte nicht für Spezialisten geschrieben werden, sondern Gemeingut sind. Der Nobelpreis für Literatur hat den wunderbaren Effekt, dass sich dieses Gemeingut über nationale Grenzen hinaus in die Welt verteilt. Das Lesen in einer anderen Sprache, selbst wenn man sie technisch erlernt hat, bleibt zumeist auf das intellektuelle Verständnis beschränkt. Ich hoffe, den Leser*innen in ihrer eigenen Sprache eine ganzheitlichere Erfahrung von Glücks Lyrik zu ermöglichen, ja ihnen vielleicht mit Glück einen Schlüssel zur Lyrik insgesamt zu überreichen.

New Haven, im April 2022

Winterrezepte aus dem Kollektiv

Louise Glück

Die neuesten Gedichte der Literaturnobelpreisträgerin sind schnörkellos, reduziert und lassen einen doch nicht mehr los. Sie wenden sich an ein Individuum, schwellen an zu einem Chor und weisen auf das große Ganze, das Kollektiv. Lebensgeschichten sind in ihnen verborgen, Segen und Fluch des Alterns, die Kunst, einen Bonsai zu beschneiden, der Tod der Schwester, die Labsal der wärmenden Sonne, deren Helligkeit sich an den dunklen Schatten ermessen lässt, die sie wirft.

Erschienen am 13. Dezember 2021

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