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Ulrich Ritzel - "Einer der besten deutschen Krimi-Autoren." (stern)

Der Tod der alten Dame

Rezension von Bianca Reineke

Am Anfang steht ein Abschied. Zwar nur in der Erinnerung der Helden, aber der Leser kann sich die rührende Szene lebhaft vorstellen, die zu Beginn des Romans "Uferwald" geschildert wird: Ein abfahrender Zug im Ulmer Bahnhof, ein geschwenktes Taschentuch, keine Abschiedstränen. Nun ist Kommissar Berndorf nicht nur offiziell im Ruhestand, er hat auch tatsächlich seine Heimat verlassen und ist mitsamt Hund zu seiner Langzeitfreundin Barbara nach Berlin gezogen. Die zahlreichen Fans der Kriminalromane um den nachdenklichen Ermittler werden nach vier wunderbaren Büchern ihren geliebten Helden sicher schmerzlich vermissen, doch der preisgekrönte Autor und Jurist Ulrich Ritzel präsentiert in "Uferwald" gleich zwei würdige Nachfolger für den Pensionär: Berndorfs sympathische Assistentin Tamar Wegenast und Kommissar Markus Kuttler, der in den bisherigen Romanen eher eine Nebenfigur blieb, treten nicht nur in die Fußstapfen ihres ehemaligen Chefs, sondern werden sicher auch eigene Spuren hinterlassen.

Der pensionierte Held
Ulrich Ritzel, der jahrelang auch als Gerichtsreporter gearbeitet hat, bis er mit seinem Erstling "Der Schatten des Schwans" einen Überraschungserfolg landete und mit dem Nachfolger "Schwemmholz" gleich den Deutschen Krimipreis erhielt, legt in seinen Kriminalromanen stets den Finger auf urdeutsche Wunden. In seinen ausgefeilten Plots arbeitet er sorgfältig gesellschaftliche und zwischenmenschliche Probleme aus, die ob ihrer drängenden Intensität nachdenklich stimmen. In "Der Hund des Propheten" ist es die deutsch-deutsche Vergangenheit nach dem Mauerfall, die er anhand von Einzelschicksalen nachzeichnet, in "Die schwarzen Ränder der Glut" die Jahre des Terrors durch die RAF. Fast immer führt die Suche nach dem Motiv für eine Mordtat zurück in eine Vergangenheit, der sich alle Beteiligten nur ungern stellen.

Viele der achtbaren Bürger von heute würden ihre einst begangenen Verfehlungen und Jugendsünden zu gerne vergessen, doch Kommissar Berndorf bleibt hartnäckig und unnachgiebig. Oftmals taucht er auch in seine eigene Vergangenheit ein und stellt sich den Dämonen, die ihn selbst gelegentlich heimsuchen. Erst durch diese persönlichen Erfahrungen erschließen sich ihm überraschende Zusammenhänge, die ihm bei der Lösung der Mordfälle weiterhelfen. Berndorf ist erfolgreich, seine Vorgehensweise häufig unkonventionell, was ihm gelegentlich auch Ärger mit seinen Vorgesetzten einhandelt.

Dass der Schauplatz des Geschehens im eher beschaulichen Ulm angesiedelt ist, verleiht dem Beziehungsgeflecht von Tätern, Opfern, Zeugen und Ermittlern eine fast bedrückend wirkende Nähe. Diesem "normalen", schwäbisch-kleinbürgerlichen Umfeld scheint eine kriminelle Energie inne zu wohnen, die zuweilen zutiefst erschreckt. Oder anders ausgedrückt: Die in Ritzels Romanen eigentlich eher dünn gesäten Gewaltverbrechen erscheinen dem Leser umso schockierender, weil sie vor dem Hintergrund dieser Idylle spielen.

Die tote Nachbarin
Auch in "Uferwald" ist es wieder dieses alltägliche Umfeld des kleinbürgerlichen Ulms, unter dessen Oberfläche es heftig brodelt. Dabei sieht anfangs alles nach einem routinemäßigen Polizeieinsatz aus. Erst dank Markus Kuttlers Hartnäckigkeit, in der er seinem ehemaligen Chef Berndorf in nichts nachsteht, kommt eine penible Mordermittlung in Gang, die das Leben vieler Menschen erschüttert.

In der trüben Vorstadt-Einöde der Gemeinnützigen Heimstätten, einer Wohnsiedlung am Stadtrand, wird die Leiche einer alten Frau gefunden, die seit mehreren Jahren tot in ihrer Wohnung lag. So schockierend die Tatsache ist, dass im Wohlstandsdeutschland unserer Tage ein Mensch plötzlich aus dem Sichtfeld seiner Nachbarn verschwinden kann, ohne dass er auch nur von irgend jemandem vermisst werden würde, so alltäglich ist die traurige Arbeit der Polizei, die gemeinsam mit dem Ordnungsamt die sterblichen Überreste entsorgt und nach möglichen Erben Ausschau hält. Routinemäßig wird eine Obduktion durchgeführt, die eine natürliche Todesursache feststellt und der Leichnam anschließend zur Bestattung freigegeben. Erst durch die Nachforschungen Markus Kuttlers offenbart sich die ganze Tragik dieses Falls.

Es muss wohl kurz nach dem ungefähr ermittelten Sterbedatum der Frau gewesen sein, als sich ihr Nachbar, ein türkischer Änderungsschneider ernsthaft Sorgen um sie machte. In einem Brief teilte er der Hausverwaltung mit, dass er Frau Charlotte Gossler schon seit geraumer Zeit nicht mehr gesehen habe. Doch das linkisch und fehlerhaft verfasste Schreiben des aufmerksamen Mitbürgers wurde in der Verwaltung einfach verschlampt, und da die Miete per Dauerauftrag einging, sah man auch keinen Anlass, der Sache nachzugehen.
Kriminalkommissar Kuttler zeigt sich tief erschüttert von diesem Fall, der von so großer sozialer Kälte zeugt. Er beginnt, Charlotte Gosslers Wohnung zu durchsuchen, um sich ein Bild vom Leben der einsamen alten Dame zu machen.

Kuttler kennt das Gefühl grenzenloser Einsamkeit. Es regt sich in ihm, wenn er abends die Tür zu seiner Wohnung öffnet, die ihm seit der Trennung von seiner Freundin leer und eigenartig seelenlos erscheint. Als er auf das Tagebuch des Sohnes von Charlotte Gossler stößt, der vor sieben Jahren bei einem Verkehrsunfall starb, ist sein polizeilicher Ehrgeiz geweckt. Denn Tilman Gosslers Notizen sind verstörend und voller Hass auf die gluckenhafte Mutter, die ihn mit ihrer Fürsorge erdrückte. Der unsichere und dennoch selbstgefällige Tilman Gossler schreibt von seinem Hass auf die Mutter, seinen Problemen im Jurastudium und von einer Clique, um deren Gunst er sich bemühte.

Unfall oder Mord?
Als Kuttler Tilman Gosslers tödlichen Unfall recherchiert, stößt er auf zahlreiche Ungereimtheiten und entdeckt vor allem, dass der Unfallverursacher nie gefunden wurde. Aufgrund der kryptischen Einträge im Tagebuch und der vielen schwierigen Beziehungen des jungen Mannes, vermutet Kuttler, dass Tilman Gossler vor sieben Jahren brutal und skrupellos ermordet wurde.

Nur mühsam kann der Kommissar seine zögerliche Kollegin Tamar Wegenast davon überzeugen, dass es Hinweise genug gibt, die eine Mordermittlung rechtfertigen. Schließlich gewinnt die Neugierde Tamars die Oberhand, und die beiden beschließen, ohne Genehmigung "von oben" einfach Nachforschungen anzustellen und ihren Vorgesetzten auf die Füße zu treten.

Tamar Wegenast hat gerade ein neues Leben begonnen und nach dem Ende einer Beziehung eine neue Wohnung bezogen. Im Gegensatz zu Kuttler fühlt sie sich frei und entspannt und kann so ihre ganze Kraft auf die Suche nach Tilman Gosslers Mörder konzentrieren. Kuttler hingegen ist verkrampft und einsam, er verbeißt sich regelrecht in Gosslers Tagebuch und taucht immer tiefer in dessen gestörtes Seelenleben ein.

Dabei trifft er auf die alte Clique, deren Mitglieder ihr Leben längst neu geordnet haben und nicht mehr an ihre Vergangenheit als unbeschwerte Studenten mit verqueren Idealen erinnert werden möchten. Da sind Isolde und Harald, die inzwischen verheiratet sind und zwei Kinder haben. Isolde, früher Izzy genannt, ist Lehrerin, während Harald, der Hausmann mit Pferdeschwanz, die Kinder erzieht und nebenbei umwelt- und gesellschaftspolitisch aktiv ist. Tilman Gosslers deutet in seinem Tagebuch eine besondere Beziehung zu Isolde an, wird aber nie konkret, so dass Kuttler weiterhin im Dunklen tappt. Auch die Gespräche mit dem Ehepaar führen zu nichts. Ebenso unergiebig bleiben die Treffen mit dem Rest der Gruppe. Manfred Czybilla, der als konservativer Bankangestellter kaum noch Kontakt zu den anderen hat, will nichts mehr von der Vergangenheit wissen, und auch Andreas Matthes, der inzwischen Karriere in der Politik gemacht hat, interessiert sich nicht für den ungeklärten Tod eines alten Freundes. Nur Luzie Haltermann und Angelika Falter zeigen Mitleid und Trauer. Gerade Luzie fühlt sich schuldig, denn sie arbeitet in der Geschäftsführung der Hausverwaltung, die Charlotte Gosslers Verschwinden jahrelang ignoriert hat.

Falsche Freunde und Erpressung
Kuttler liest das Tagebuch immer und immer wieder und stößt dabei auf mysteriöse Ungereimtheiten - und die schöne, aber geheimnisvolle Solveig, die kurz vor seinem Tod in Gosslers Leben getreten war. Auf der Suche nach mehr Informationen über die unbekannte Schönheit, stolpert Kuttler in einen Nebenschauplatz von Gosslers Leben, der urplötzlich ein handfestes Motiv für einen Mord liefert.

Gemeinsam mit seiner Kollegin entdeckt Kuttler, dass eine honorige Größe der Stadt, der Anwalt Dannecker, tief in Fälle von Erpressung und Unterschlagung verwickelt ist. Durch einen Zufall geriet Gossler nämlich an brisante Informationen, die ihn leicht das Leben hätten kosten können. Die Kommissare lassen nicht locker, befragen die alten Freunde und den einflussreichen Juristen immer wieder und decken langsam aber sicher kriminelle Machenschaften auf, die all die Jahre sorgsam versteckt worden waren.

Als Kuttler sich in Angelika Falter verliebt, Manfred Czybilla sich in zahlreiche Widersprüche verstrickt und erste Hinweise auf Solveig auftauchen, gerät die Lösung des Falles in greifbare Nähe. Angelika Falter erinnert sich auf einmal an gemeine Psychospielchen der Clique, die den sensiblen Tilman Gossler gebrochen zurück ließen. Und auch Gosslers Beziehung zu Solveig, in die er offensichtlich verliebt war, gewinnt plötzlich an Bedeutung. Als Tamar Wegenast schließlich den stadtbekannten Dannecker mit den Ergebnissen der Nachforschungen konfrontiert, steht nicht nur das Polizeirevier, sondern die gesamte Ulmer Gesellschaft Kopf.

Am Ende ist es jedoch Markus Kuttlers akribischer Ermittlerarbeit zu verdanken, dass der Schuldige an Tilman Gosslers Tod gefunden wird. Die verschlungenen Wendungen, gefolgt von der hoch spannenden Lösung am Schluss des Buches verblüffen selbst die gewieftesten Krimileser. Markus Kuttler erringt zwar den Sieg in diesem zähen Feldzug, findet eine neue Liebe und beruflichen Erfolg, doch er leidet darunter, dass sich einer der Beteiligten aufgrund seiner Untersuchungen das Leben nimmt.

Facetten der Einsamkeit
Einsamkeit ist das vorherrschende Thema dieses grandiosen Romans, der mühelos an die Erfolge seiner Vorgänger anknüpfen wird. Einsam sind Tamar Wegenast und Markus Kuttler in ihrer Arbeit ohne Kommissar Berndorf, grauenvoll einsam war Charlotte Gossler, die verlassen und vergessen den Tod fand, und einsam war und ist auch jeder einzelne der vermeintlich eng verschworenen Clique um Tilman Gossler.

Ein Roman, mitten aus dem Leben gegriffen, angesiedelt in der Alltäglichkeit unser aller Leben, voller Menschen, die wie wir ihrer Arbeit nachgehen, den Balanceakt zwischen Karriere, Freundeskreis und Familienleben jeden Tag aufs Neue meistern müssen, die Fehler begehen, aus Unachtsamkeit oder Gedankenlosigkeit, Fehler, die weitreichende Konsequenzen haben können. Die Moral, die der Autor in "Uferwald" anlegt, ist keine eindimensionale. An den lebendig gezeichneten Figuren seines Romans wird deutlich, dass er die Fehlerhaftigkeit und die Menschlichkeit als die zwei Seiten ein und derselben Medaille betrachtet.

Kopf oder Zahl? Engagement und Mitmenschlichkeit oder Desinteresse und Egoismus? Auf welcher Seite die Münze landet, entscheiden wir selbst. Wann haben Sie eigentlich die ältere Dame von nebenan das letzte Mal gesehen?

Auch ohne Kommissar Berndorf ist "Uferwald" wieder ein Meisterwerk in der deutschen Krimilandschaft.

Bianca Reineke
Cuxhaven, Mai 2006

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