Mittags brachte er Barbara zum Flughafen Tegel, Pan-Am nach Köln-Bonn, von da mit dem Intercity drei Stationen nach Remagen, zu ihrer Familie. Mit dem Vater war was, da musste Barbara wohl mal nach dem Rechten sehen. Schade, weil sie dadurch das Fest im Hof verpasste, sagte Achim erleichtert. Oh ja, sehr schade, sagte Barbara leicht resigniert. Er wusste, dass sie nichts wusste. Oder dass sie nichts wissen wollte.
»Ich kann hier schlecht halten«, sagte er am Flugsteig in Tegel.
»Ja, um Gottes willen, ich husch da einfach schnell rein«, sagte Barbara. Sie trug ihre braune Kunstlederreisetasche über die leere Parkzone direkt neben dem Passat, bevor sie in der gelben Drehtür verschwand, das Nachgefühl ihres Abschiedskusses hart und schräg auf Achims Mund. Er rieb sich die Lippen und gab zu wenig Gas, sodass der Passat anfing zu stottern. Hinter ihm hupte höhnisch ein Taxi. Er musste das Bonner Kennzeichen loswerden. Auf der Stadtautobahn kurbelte er das Fenster runter und hielt die linke Hand in den Fahrtwind, die Luft roch nach Ab gasen, Lindenblüte und Zuckerwatte vom Deutsch-Amerikanischen-Freundschaftsfest, wobei, das Letzte bildete er sich ein. Wie Marion sich hinter der riesigen weißen Wattewolke am Stiel versteckt hatte, als die Nachbarn auf der Höhe der Autoscooter an ihnen vorbeigelaufen waren. Sie mussten vorsichtig sein, Marion und er. Den Rest des Ausflugs hielt sie sich die Zuckerwatte weiter vors Gesicht, und wenn er sie küssen wollte, musste er zuerst die Zunge ausstrecken, damit der fein gesponnene Zucker zwischen ihnen wegschmolz. Es war, nüchtern betrachtet, eine klebrige Angelegenheit. Aber Achim fand, dass er die Dinge lange genug nüchtern betrachtet hatte.
Auf der Avus holte er alles raus aus dem Passat, hundertdreißig, hundertvierzig, fast hätte er die Ausfahrt Hüttenweg verpasst, das Autoradio so laut, dass er seinen Blinker nicht hörte. In der Wohnung in Zehlendorf machte er die Fenster zu und legte Peter Gabriel auf, laut, bis Frau Selchow an die Decke klopfte, gar nicht mal unfreundlich. Die Leute hier sahen die Dinge nicht so eng, die hatten auch mehr erlebt: Blockade, Mauerbau, die ganzen Krawalle wegen der besetzten Häuser, Anschläge auf Diskotheken, die hatten Wichtigeres im Kopf, die zerrissen sich nicht so das Maul darüber, was die anderen machten, also er. Und Marion. Achim fand, dass er hier freier atmete als früher in Bad Godesberg. Und heute besonders. Weil Barbara nicht da war.
Der Nachmittag rann ihm durch die Finger, aber gar nicht unangenehm, eher wie warmer Sand, wenn man am Meer lag. Er lief durch die Wohnung, hörte Musik und trank Batida Kirsch mit Eiswürfeln aus der kleinen, frostigen Aluminium-Schale mit Hebel, unter dem man sich die Finger klemmte. Er hatte genau die richtige Jeans, er hatte genau das richtige Hemd, dunkelblau mit weißen Punkten, und nach drei, vier Touren zum Kühlschrank hing es ihm genau richtig über die helle Hose, lässig, pluderig. Als er sah, dass der Lothar von gegenüber und der Lothar aus dem Aufgang links schon dabei waren, die Bierbänke und die Tische aufzubauen, konnte er es kaum erwarten, die Treppe hinunterzukommen, ach, da ist ja unser Feuerteufel! Ob er dann gleich mal den Grill übernehmen könnte, so als Fachmann fürs Zündeln. Sie lachten, Achim auch. Ob er denn an die Überraschung gedacht hätte. Achim zeigte auf den braunen Karton, den er schon unter den Buffettisch geschoben hatte. Klar hatte er daran gedacht.
»Na ja, wenn die Dinger losgehen, kriegt unser Oberbulle die Krise«, sagte Lothar Kries, und Achim wusste, wen er meinte: Marions Mann Volker. Er sah kurz vom Grill auf und hoch zu ihrer Wohnung, als stünde Volker da am Fenster. An Volker dachte er nicht so gern. Die Luft vor Marions Wohnung vibrierte in Schlieren, und Achim merkte, dass der Grill heiß wurde. Die Mücken kamen, das war ja alles Sumpf hier, niedriges Grundwasser, die Seen, der Teltow-Kanal, und immer drückte ihm einer eine Schultheiß-Knolle in die Hand, die ausgetretene Wiese zwischen den Birken füllte sich mit Nachbarinnen in Leinenkleidern und Puffärmeln und Nachbarn in ihren Lieblingshemden, alle glänzten ein bisschen mehr als sonst, die Lippen, das Haargel, die Stirnpartien – warm war es geworden. Und wenn er schon mal am Grill stand, ob er dann nicht gleich – hier, nimm mal die Steaks, alles sauber, aus Argentinien, und die Würste sind aus dem Tiefkühler, Vor-GAU-Ware, und nimmst du noch ein Schultheiß, Achim? Das Hoffest lag in drei Farbschichten vor seinen Augen wie ein aufwendiger Cocktail: unten die Kinder in gelb-blond, dreckig, zerzaust und zufrieden, weil sie zum ersten Mal wieder länger rausdurften; darüber die nackten Oberarme, die insgesamt creme-orange-roten Kleider und Hemden der Erwachsenen, der Qualm vom Grill, durch den die rötlichen Glühbirnenketten schienen, die Familie Fiorini von Birke zu Birke gespannt hatte, und immer fiel ein Kind über die Kabeltrommel; und darüber als dritte Farbschicht der unwirklich dunkel blaue Himmel, dieses Atemholen der Nacht kurz vorm Sonnenuntergang. Die seltsamste Welt war die eigene Wohnung, wenn man während des Hoffestes kurz reinhuschte, um was zu holen, ein anderes Klima, eine andere Zeitzone, die Möbel schauten stumm zur Wand. Die Kinder beschwerten sich über Achims schwarzbraune Würste, er machte ihnen mehr Ketchup darauf. Die Kinder sagten, affengeil, heute Abend war das noch im Rahmen. Wann war Marion eigentlich aufgetaucht, und warum hatte er sie nicht gleich erkannt, die dunklen Haare ein bisschen zurückgelegt, das lachsfarbene Kleid mit weißen großen Knöpfen hinten und vorne, ihre jetzt schon frühsommerbraune Haut matt und glatt mit vielen, wie hingesprenkelten Muttermalen, die es ihm unmöglich machten, rechtzeitig wieder wegzugucken. Er würde den Anblick nie wieder vergessen.
Frau Selchow hatte sich ans Buffet gestellt, nahm ein Gürkchen und zeigte mit dem durchsichtigen Plastikspieß auf den Grillrost: »Vernachlässjen Sie ma Ihre Pflichten nicht, Herr Tschuly.« Achim nickte und wendete das Fleisch. Frau Selchow sah sich auf dem Buffet um, das ein Campingtisch mit weißer Papiertischdecke und acht oder neun großen Tupperschalen war. »Was haben Sie eigentlich mitgebracht?«, fragte sie, aber nett, so, als würde sie gern mal probieren. Ihr Dackel hieß Afra und schaute hoffnungsvoll.
»Nichts fürs Buffet«, sagte Achim, legte das Fleisch an den Rand und neue, hellgrüne Steaks auf den Rost, mariniert, dass es zischte. »Aber eine Überraschung für später. Wenn’s dunkel ist.« Frau Selchow bückte sich nach dem Karton, auf den er gezeigt hatte. Sie klappte die Deckellaschen auf und guckte rein, als würde sie eine Ware prüfen.
»Wo haben Sie die denn hier?«, fragte sie.
Aus meinem Labor in der Bundesanstalt für Materialprüfung natürlich, wollte Achim sagen, aber für einen Moment vergaß er, worüber sie gesprochen hatten. Er starrte zu Marion, weil ihr Mann Volker sich über sie beugte, von hinten, und ohne aufzusehen, reckte sie die Arme nach oben und drehte Volker den Kopf zu und küsste ihn, zerstreut, gewohnt, da bist du ja, die Hand in seinem Haar, nur kurz, aber tief, Volkers Haare waren hinten länger als vorne.
»Sie müssen ’n bisschen aufpassen«, sagte Frau Selchow zu ihm, leiser als eben. Achim atmete aus. »Die Raketen sind alle geprüft«, sagte er.
»Ja, nee«, sagte Frau Selchow und nahm noch ein Gürkchen, weil ihr offenbar nichts behagte aus den Tupperschüsseln. »Das meine ich auch nicht.«