Mein Urgroßvater Barnaba Carbonaro, Sohn eines Priesters und einer Wunderheilerin, hat vierundzwanzig Kinder gezeugt, einen Menschen getötet und ein Mandarinenimperium gegründet. Ein kleiner Mann mit rastlosen Augen, Analphabet, aber mit einem exzellenten Gedächtnis für Zahlen und ausstehenden Gefälligkeiten. Ein Mann mit einer Glückshaut, er bedauert nichts, als er nach langer Abwesenheit wieder nach München zurückkehrt. Wirklich stolz ist er jedoch vor allem auf zwei Dinge: seinen deutschen Pass und den Verlust seines Vermögens.
Wir Carbonaro sind seit Generationen eine Familie von Schneidern, Obsthändlern, Hypochondern, Cholerikern, Dandys, Wunderheilern, Sängern und Reiseleitern. Die meisten Carbonaro tragen die Namen ihrer zu früh verstorbenen Geschwister, denn in unserer Familie werden Namen aufgetragen wie in anderen Familien Kleider und Schuhe. Vielleicht sind die Toten uns deswegen so nah. Kinder sterben, Namen überleben: Maria, Nino, Pippo, Anna, Aurora, Turri, Pina, Angela, Ignazio. Wer bei diesem Reigen je den Vornamen Pancrazia oder Barnaba abbekam, hat ihn zeitlebens gehasst und sich Maria oder Antonio nennen lassen. Aber wie zum Ausgleich für den ungeliebten Namen werden alle Pancrazias und Barnabas der Familie Carbonaro mit einer Glückshaut geboren.
Von ihnen will ich erzählen.
Es ist Anfang Dezember. Der Nachtzug hält auf Gleis 11 wie alle Sonderzüge aus Italien. Um Missverständnisse mit den Bahnsteigordnern zu vermeiden, lässt Barnaba Carbonaro sich Zeit mit dem Aussteigen. Er raucht sein Zigarillo zu Ende und beobachtet aus dem Fenster seines Erste-Klasse-Abteils, wie Hunderte von jungen und nicht mehr ganz so jungen Männern auf den Bahnsteig rascheln wie trockenes Laub. Keine einzige Frau darunter, nur Männer aus dem mezzogiorno mit zu früh gealterten Gesichtern, angeweht vom Elend und dem Versprechen von Wohlstand. Fischer, Bauern, Hilfsarbeiter in viel zu dünnen Anzügen für den Münchner Winter, mit kleinen Handkoffern und gestempelten ärztlichen Attesten und Arbeitsgenehmigungen in der Tasche, die sie nicht lesen können.
»Du allerdings auch nicht, my friend.«
Ruggero sitzt vor ihm, in seiner faschistischen Fliegeruniform, Stiefel auf Hochglanz gewienert, Beine lässig übereinandergeschlagen. Er leuchtet wie eh und je nur so vor gut gelaunter Arroganz.
»Verschwinde!«, seufzt Barnaba, an Gespenster gewöhnt. Die Männer da draußen lassen sich von den Bahnsteigordnern nach und nach ins Untergeschoss in einen ehemaligen Luftschutzbunker treiben. Dort werden sie ein heißes Getränk und einen Arbeitsvertrag auf Deutsch bekommen, auf dem eine rote Nummer darüber entscheidet, wo es kurz darauf hingeht: nach Essen, Wolfsburg, Köln. Orte, von denen die meisten noch nie gehört haben, wo man sie in hastig gezimmerten Baracken zusammenpferchen wird, damit sie Straßen bauen, Automobile bauen, den Deutschen ihr zerbombtes Land wiederaufbauen und etwas schaffen, was man später Wirtschaftswunder nennen wird.
Gleis 11 also. Sechzig Jahre zuvor ist Barnaba Carbonaro zum ersten Mal hier ausgestiegen, schon damals eleganter gekleidet als die anderen Fahrgäste. Den Bunker unter Gleis 11 hat er nie betreten, aber er weiß Bescheid. Er hat die Katzlmacher gesehen. Sechstausend Italiener in der Au, die unter erbärmlichsten Bedingungen Ziegel für die rasant wachsende Provinzhauptstadt brannten. Dreißig Jahre später nannte man sie dann Fremdarbeiter, als dieses Land die Arbeitskräfte ersetzen musste, die derweil an verschiedenen Fronten fielen, erfroren, verbluteten und verreckten. Barnaba Carbonaro weiß, dass das ganze Anwerbeverfahren, die Auswahl, die deutsche Außenstelle in Verona, die gesamte Organisation bis hin zu den Formularen exakt die gleiche ist wie zwanzig, wie fünfzig Jahre zuvor. Man hat praktisch alles übernehmen können. Inzwischen sagt man Gastarbeiter, weil man erwartet, dass die da in dem Kellerraum unter Gleis 11 irgendwann auch freiwillig wieder gehen werden.
Mein Urgroßvater Barnaba Carbonaro interessiert sich jedoch weder für die verschiedenen Bezeichnungen noch für die Bezeichneten. Er ist kein Gast in diesem Land, sondern ein deutscher Unternehmer. Er ist nach München zurückgekehrt, um ein Familienfoto zu machen, ein Bordell zu besuchen und ein Unternehmen zu gründen, auch wenn er noch nicht weiß, was für eines. Er reibt sich eine Hand am Hosenbein vor Vorfreude auf seinen Mercedes, den er vor zwölf Jahren bei seinem Sohn untergestellt hat mit der ausdrücklichen Anweisung, ihn zu hüten wie einen Schatz. Denn das ist er, ein Schatz. Eine viertürige 170-V-Limousine in edlem Maronenbraun, Baujahr 1938, mit synchronisiertem Getriebe, herrlicher Laufruhe und einer Kofferbrücke am Heck für die langen Fahrten nach Sizilien. Viertausendeinhundertdreißig Reichsmark hat Barnaba damals mit der Sonderausstattung und dem erhöhten Fahrersitz bezahlt, aber das war es wert. Denn erst der Mercedes verwandelte den Analphabeten aus Sizilien endgültig in einen Deutschen von Stand.
Alles lange her. Zunehmend ungeduldig, beleibt und rüstig, mit achtzig noch nahezu im Vollbesitz seiner Manneskraft, tadellos frisiert und manikürt wie immer und in einen unzerstörbaren Anzug aus grauer Schurwolle gekleidet, beobachtet Barnaba die Italiener, die sich noch auf dem Bahnsteig stauen, verloren unter dem großen Reklameschild des Tierparks Hellabrunn. Das Reklameschild erinnert Barnaba Carbonaro an die Zoobesuche mit Franz. Und während er sich erinnert, verklumpen die Männer da draußen zu kleinen Grüppchen, stampfen mit den Beinen auf gegen die Kälte, rauchen, wechseln kurze Sätze im Dialekt, sehen sich verstohlen um. Zwei halten sich an der Hand, ein Vater und sein erwachsener Sohn, wie Barnaba vermutet. Barnaba kann nicht wegsehen, so sehr trifft ihn die Ähnlichkeit des jungen Mannes mit Mariano Bagarella. Die gleichen arabischen Züge, beschattet von einem großen geheimen Kummer. Augen, die dem Blick stets aus- weichen und doch alles ständig auf eine aufziehende Gefahr hin absuchen. Die gleichen Augen wie Rosaria.
Als der junge Mann ihn entdeckt, starren sich die beiden für einen kurzen Moment an. Der junge Mann winkt Barnaba, dass er aussteigen solle. Bis sein Blick sich verändert, als er versteht, dass der dort auf der anderen Seite der Glasscheibe ein Herr sein muss, Obrigkeit, Gefahr, der ewige Feind. Als Barnaba die Hand zu einem matten Gruß hebt, wendet sich der junge Mann ab.
Mehr als nur ein Fenster, eine ganze Welt und vor allem sein deutscher Pass in der Manteltasche trennen Barnaba Carbonaro von diesem Mann, der seinem Jugendfreund Mariano Bagarella so sehr gleicht, als habe er die Jahrzehnte übersprungen wie eine Pfütze. Durch das Abteilfenster sieht er ihn als verblichene Fotografie, nackt, mit Lorbeer geschmückt, in lasziver Pose und mit einer Panflöte auf einer umgestürzten Säule in der Ruine eines griechischen Amphitheaters mit Blick auf den Ätna.
Nein, nicht Mariano Bagarella, sondern sich selbst. Wie immer sieht Barnaba Carbonaro nur sich selbst.