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Terézia Mora

Daniela Strigl

Von der Unendlichkeit des Satzes
Ein Alphabet des Lobes für Terézia Mora


Terézia Mora ist eine ordnungswütige Autorin, deren Werk vom Chaos spricht. Sie mag magische Zahlen. In das Korsett der Form zwängt sie sich, um es zu sprengen. Eine Woche umfaßt das Zeitgerüst, in dem „Der einzige Mann auf dem Kontinent“, Held ihres zweiten Romans, sich bewegt, Tag für Tag. Eine Woche, sieben Tage; Mora beschreibt aber acht. Sieben Kapitel hat der erste Roman „Alle Tage“, aber nur der Numerierung nach, de facto sind es zehn. Zehn Erzählungen enthält der Band „Liebe unter Aliens“, eine runde Zahl, doch nicht das Dutzend, das man erwartet, hat Mora doch angeblich ein Jahr lang jeden Monat eine geschrieben. Elf Geschichten stehen in ihrem ersten Buch „Seltsame Materie“. Ordnung also, aber keine Zahlen. Das Alphabet.


A wie Abel
Abel Nema, der erste Romanheld, Mann aus dem Osten, Halbungar, einer, der wie ein Pfeifenputzer ausschaut, lang und dünn, der buchstäblich nach Fremdheit riecht; Abel, das geborene Opfer, sexuell desorientiert, zuweilen praktizierend schwul, meist aber ohne Begehren, provokant durch sein Nicht-Anwesendsein, unvergeßlicher komischer Vogel. Auf dem Kopf zu gehen wie Büchners Lenz hat er sich nie gewünscht, daß er die Welt kopfüber sehen muß, gefesselt von einem Spielplatzgerüst baumelnd, hat man ihm angetan. Zwischen zwei Anschläge auf sein Leben ist das Wunder seiner Inselbegabung gesetzt, zehn Sprachen lernt er oder zwölf, eine Übersetzermaschine, akzentfrei, rückstandsfrei, verständigen freilich kann er sich nicht, néma, ungarisch, heißt stumm, nemo, lateinisch, heißt Niemand. „Mensch ohne Menschheit“ nennt ihn ein Freund, weil ihm, dem Fremden, alles Menschliche fremd ist. Ein Archetyp, den erst einmal jemand erfinden mußte.

B wie Bachmann
Ja, „Alle Tage“ zitiert nicht von ungefähr ein Bachmann-Gedicht. Nichts bei Terézia Mora geschieht von ungefähr. Und nichts bleibt im Ungefähren. Die allzu deutliche Bachmannfährte hat die Autorin später bereut. Der Blick auf eine Ikone schränkt das Sichtfeld ein. Die Gleichgestimmtheit ist freilich nicht zu leugnen: „Der Krieg wird nicht mehr erklärt,/sondern fortgesetzt. Das Unerhörte/ist alltäglich geworden. Der Held/bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache/ist in die Feuerzonen gerückt.“ „Alle Tage“ erzählt nach dem Jugoslawienkrieg vom Unerhörten des alltäglichen Übergriffs, von den Schwachen aller Länder, aller Tage in den Feuerzonen. Ingeborg Bachmann hat als Vorgängerin hier in Darmstadt Nachkriegsdeutschland als ewiges Lazarett beschrieben: „Alles ist versehrt, nicht durch Geschosse, sondern inwendig (...).“ Bachmanns Conclusio klingt wie Moras Programm: „Darstellung verlangt Radikalisierung und kommt aus Nötigung.“

C wie Celan
Nein, Celan ist keine Bezugsgröße in Terézia Moras Kosmos, aber in Abel Nema steckt auch sein unheilbares Fremdsein oder das seines Bachmannschen Pendants Trotta, den „die Sprachen aufgelöst“ haben, der „deutsch spricht wie ein Fremder, aus einer deutschen Fremde, und französisch wie ein Franzose, aber daran lag ihm nichts, und auch nichts daran, daß er zwei oder drei slawische Sprachen sprach wie jemand, der nur lange weg war“. Abel Nema sagt: „Die Welt als Vokabel! Das ist mein Trost!“

D wie Drastik
Man nehme diese beiden Sätze aus der Titelerzählung von „Seltsame Materie“: „Die Haare hat man mir am Sonntag geschnitten. Vater hatte sie, nachdem wir Mutter in den Krankenwagen gelegt hatten und der Hof voller Nachbarinnen war und ich mit dem Zigeuner Florian alleine wiederkam, in einem unbemerkten Moment angezündet.“ Terézia Moras Drastik bricht in den Satz ein, wie sie in die Welt einbricht: ohne Vorwarnung. Nicht immer brennt es, fließt Blut, aber immer geht es um die verdeckt brodelnde Gemeinheit, die augenscheinlich wird. Wir erschrecken, weil wir wissen: So ist es. So sind wir. Der drastische Satz läßt uns, so Mora, „keine Chance“, die „in ihm enthaltene Wahrheit zu leugnen“. Diese Erzählerin ist unerbittlich.

E wie Erlösung
Erlösung als ein Versprechen für das Diesseits scheint nur in der Liebe möglich, theoretisch. Die „unter Aliens“ endet im Spurlosen. Die späte Begegnung des pensionierten Japanologen mit der (wir nehmen es einmal an) Frau seines Lebens hält die Möglichkeit offen, dafür spricht auch der Titel der Geschichte: „Das Geschenk oder Die Göttin der Barmherzigkeit“. Für die Schriftstellerin ist Erlösung die Erkenntnis der eigenen Aufgabe. Mora: „Wenn du DEINS gefunden hast, bist du erlöst, und erlöst ist erlöst, ein Leben auf einer grünen Aue.“

F wie Fertörakos
Fertörakos am Neusiedlersee, Kroisbach zu deutsch, ein Ort, der 1921 für den Verbleib bei Österreich stimmte, vergeblich. Wie es dort oder im nahen Petöhaza (Pöttelsbach) ist oder war, steht in „Seltsame Materie“ zu lesen. Eine Kindheit im Kommunismus, in dessen katholischer Knautschzone. Das Ungarische als zweite Sprache, ringsum dominant. Bäuerliche Dürftigkeit, Alkoholismus, Gewalt, Tristesse, der Zuckergeruch der Fabrik, viel Schilf, viel Schlamm und der See. Die Grenze als Materialisierung von Gefahr, vor und nach der Wende. Ohne Fertörakos oder Petöhaza nahetreten zu wollen: kein Startvorteil auf dem Weg zum Parnaß. Eher eine Prüfung.

G wie Gravitation
Von Anfang an hatten Moras Figuren Körper, Körper, die ins Wasser tauchen, vom Schlamm verschluckt werden, die bluten und sich verfärben, Körper, die andere Körper suchen, die Hunger verspüren oder Durst (das vor allem). Der Großvater, der trinkt, um sich nach der Entziehungskur „wieder in den Griff zu bekommen“. Der Tierpfleger Erasmus Haas, der fünf freie Tage nutzt, um zu Hause zu tun, was ihm das Natürlichste erscheint: „Trinken, trunken werden.“ Und der einem Blutsturz trotzt, ihn aussitzt, sich hochkämpft, gegen die Schwerkraft der Verhältnisse. „Leichtigkeit ist Illusion. Die Gravitation zieht uns“, heißt es in der Erzählung „Durst“. Daß kämpfen nicht zuletzt heißt mit seinem Körper kämpfen, weiß auch Darius Kopp, der „korpulente“ Held von „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ und „Das Ungeheuer“. Sein Kampf ist in ein mildes Licht des Verständnisses getaucht, das Ballett der physischen Wunscherfüllung, vom Cappuccino über die Omelette bis zur Fußmassage und zum ehelichen Beischlaf, konterkariert und verstärkt die Tücken des Objekts wie der Kommunikation.

H wie Heiterkeit
Eine gebürtige Ungarin und – Heiterkeit? Vielleicht aber doch in ihrer Sicht auf die eigene Rolle, ein gelassenes Wissen. Heiter heißt ja auch: klar. Ganz und gar nichts abgewinnen kann die verzweifelt traurige Protagonistin Flora dem Aphorismus: „‚Heitere Resignation – es gibt nichts Schöneres.’ (Marie von Ebner-Eschenbach ist eine selten dumme Plantschkuh. (...))“

I wie Ironie
Natürlich ist Terézia Moras Stimme ironisch, nicht immer, aber immer wieder. Schließlich ist sie die Leserin, Übersetzerin, Bewunderin des Peter Esterházy. Ironie, nicht als die ständig hochgezogene Augenbraue der überlegenen Beobachterin, sondern als mitfühlende Erkenntnis und Anerkenntnis der Differenz zwischen menschlicher Bemühung und Ergebnis. So funktioniert auch der satirische Blick auf die Wasserträger der New Economy, auf den Jargon und die Sprechblasen der Blase in „Der einzige Mann“. Weil Ironie ohne Selbstironie witzlos ist, denkt die Autorin über das eigene Dasein als fast ganz normale Ehefrau und Mutter einer grippekranken Tochter nach und bilanziert: „So muß ich Weltliteratur schreiben.“

J wie Jandl
Daß Ernst Jandl, auch ein Vorgänger, zu Terézia Moras literarischen Galionsfiguren gehört, sagt etwas aus über ihr Verhältnis zur Avantgarde, zum Klangkörper Sprache. Das Erweckungserlebnis: Alfred Hrdlicka (ein Name wie ein Lautgedicht) weiht 1988 sein Antikriegsdenkmal in Wien mit Jandls „schtzngrmm“ ein. So etwas ist also möglich.

K wie Kopp
Er ist Abel Nemas Gegenstück, ein gestandenes Mannsbild mit einem gesunden Appetit auf das Leben, kontaktfreudig und charmant, von innerer Unverwüstlichkeit, so rührend wie ärgerlich in seinem strebenden Bemühen, als IT-Sales-Manager gegenüber dem System, das ihn zugrunde richtet, loyal zu bleiben, der Autorin und unser liebster Protagonist. Doch seine Stärken sind zugleich seine Schwächen im Umgang mit seiner hoch- oder eigentlich: hypersensiblen Frau Flora. „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ ist aber auch der letzte Mohikaner einer Goldgräberepoche, einsam vor seinem Laptop, seinem Handy, scheuklappenbeschränkt, asthmatisch, letzten Endes auch nichts anderes als ein „Idiot“ im griechischen Sinne, ein Eigenbrötler wie Abel Nema, ein Seelenverwandter aus dem Osten, aus der DDR. Am Ende von „Das Ungeheuer“, am Ende seiner Reise auf den – natürlich – Balkan, bleibt ihm von seinem Equipment die Urne mit der Asche seiner Frau. Da darf man sich schon Sorgen machen um ihn und um Band drei der Trilogie.

L wie Literatur
Ein Dialog zwischen Herrn und Frau Kopp: „Morgen. Morgen. Bist du schon lange auf? Eine Stunde. Was liest du da? Die Wand. Was? Das ist der Titel: Die Wand. Gut? Ja. Besser als Morgensex? [Die Antwort nur in Klammern:] (In der Tat, aber ...) Sie lächelte, klappte das Buch zu“ usw. Wer Literatur schreiben will, die besser ist als Morgensex, der muß wirklich früh aufstehen, der muß in jeder Hinsicht aufs Ganze gehen. Terézia Mora hat immer schon gewußt, daß es sich nicht lohnt, „weniger als das Maximale zu versuchen“, hat sich nie bequem eingerichtet auf dem einmal (in ihrem Fall auf Anhieb) erreichten Niveau. Ebner-Eschenbach hat auch gesagt: „Der Charakter des Künstlers ernährt oder verzehrt sein Talent.“ Im Fall Mora bürgt ein wohlgenährtes Talent für eine Literatur, die „alles“ sagen will und verblüffend vieles sagen kann, die das Globale angeht, das total Gegenwärtige und das Zeitlos-Gültige, kurzum: nichts weniger als Weltliteratur. Wer so schreibt, bewegt sich ein Leben lang auf Messers Schneide, beginnt mit jedem Buch neu. Über Moras Schreibtisch soll ein Spruch von Peter Esterházy hängen: „... als hätte es vorher nichts gegeben, neu und herausfordernd wie die aufgehende Sonne ...“.

M wie Melancholie
Alle fünf Bücher sind getränkt mit Melancholie, grundiert mit Schwärze. Die Kehrseite der Heiterkeit, die Antwort auf grundlosen Optimismus. Handelt es sich um ein Schwelgen in Schwermut, um das süße Erdulden des Unvermeidlichen als österreichisch-ungarisches Erbteil? Die Haltung der Autorin vermittelt eher eine wütende Melancholie, eine Melancholie am Kippunkt zum Aufbegehren. Flora hinwiederum ist nicht schwermütig, sondern depressiv. Der Vogel auf der Schulter, das Ungeheuer, nicht abzuschütteln, nicht zu besiegen. Es gibt in der Literatur keine hellsichtigere, keine profundere Anamnese einer Depression als jene, die Mora in ihrer doppelten Buchführung vorlegt, unter dem Strich, wo Floras geheime ungarische Aufzeichnungen die verschwiegene Hälfte des Ehelebens nachliefern, herzzerreißend in ihrem Zuspät, niederschmetternd in ihrem Immerschonvergeblich.

N wie Nahetreten
Ein Zitat als Begründung für das Schreiben: „Weit genug gehen. Das Leben tritt mir zu nahe, also trete ich dem Leben zu nahe.“

Ö wie Österreich
Oder wie Ödenburg, also Sopron, der Geburtsort, eine Stunde von Wien entfernt. Terézia Mora hat nicht unbeträchtliche Anstrengungen unternommen, um sich loszustrampeln, auf und davon zu gehen, nicht nach Wien – „die provinziellste Großstadt, die ich kenne“ –, sondern gleich nach Berlin, zum Studium, zum Leben. Mitgenommen hat sie das Gedächtnis der Kindheit und ihre erste Sprache, zwar nicht den Dialekt, das Kroisbacherische, das sie selbst nie gesprochen hat, aber das österreichische Deutsch. Es sich wieder auszutreiben, „Gramm“ statt „Deka“, „Pfütze“ statt „Lacke“, „Decke“ statt „Plafond“, war so etwas wie die erste Maßnahme auf dem Weg zur Weltliteratur. Das Österreichische beweist indes eine tückische Überlebensfähigkeit in den Sedimenten der exilierten Sprache, bisweilen tritt es unbemerkt aus und sickert ein in den literarischen Text, verleiht ihm eine unerwartete Färbung, eine schöne Nuance. Es steht zu vermuten, daß dies auch für manches Mentalitätsmäßige gilt, für manche literarische Traditionslinie, für den Hang zum Ironischen, zu Rhetorik und Spielfreude, zu düsterem Barock.

P wie Perspektivwirbel
Terézia Mora auf der Höhe ihrer Zeit, auf der Höhe ihrer Kunst, das bedeutet einen unverwechselbaren, einen schwindelerregenden Umgang mit der Erzählperspektive. Seit „Alle Tage“ praktiziert sie diese Methode des sozusagen überfallsartigen Wechsels mitten im Absatz, mehrmals sogar, ein Wirbel aus erster, zweiter, dritter Person, ein Heranzoomen an den inneren Monolog, auch im Dialog (dann in Klammern), ein Karussell der Blickwinkel, ein „Text ohne Werbepause“ (ein Ausdruck der Autorin), bei dem der Leser, wie man in Österreich und vielleicht auch auf Kroisbacherisch sagt, aufpassen muß wie ein Haftelmacher. Es ist dies Moras Art, Joyce und Döblin zu lesen, die klassische Moderne ins 21. Jahrhundert zu beamen, dem Reichtum, der Fülle, dem Chaos des Lebens gerecht zu werden, nein, nicht gerecht zu werden: es zum Sprechen zu bringen. Wir wissen nicht, wo uns der Kopf steht, und vergessen auf Moras bohrenden Scharfsinn, ergötzen uns bloß an Beweglichkeit und Eleganz.

Q wie Querkopf
Wer ein solch spezielles Interesse für Querköpfe hat, der ist vermutlich selber einer. Vermutlich müssen große Schriftsteller – und Schriftstellerinnen – Querköpfe sein, Querulanten der Menschenwürde, quer zur Denkrichtung der Zeit.

R wie Realismus
Der Gottseibeiuns des landläufigen Realismus erscheint Abel Nema im Fliegenpilzrausch, als Persiflage: „Blablablabla. (...) Ein wahrhaft targisches Schicksal! Und so relaistisch beschrieben! Sterzergreifend! Ich kann’s nicht mehr hören, scheiß neue Lust am Erzählen!“ Terézia Moras Realismus ist von anderer Art, umfassender, gieriger, gründlicher. Er verlangt nicht die korrekte, sondern die angemessene Sprache, er verbietet die fromme Lüge. Der Flüchtling heißt Flüchtling, weil er einer ist. Moras kühn gebaute Prosa als Einübung in das Desolate, in das Desolate unser aller Existenz. Realismus ist nicht leicht. Büchner sagt – Sie fragen sich bestimmt längst, wo Büchner bleibt – Büchner sagt, läßt seinen Lenz sagen: „Die Leute können auch keinen Hundsstall zeichnen.“ Und weiter: „Ich verlange in allem – Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es häßlich ist (...).“

S wie Sätze
Wer außer Terézia Mora traut sich das schon, Band eins und zwei einer Trilogie mit demselben Satz oder Satzfragment zu beginnen? („Sie beugte sich über ihn, ihre Brüste schwangen nach vorn“ usw.) Moras Sätze sind ehrliche Makler, sie folgen der Verästelung und Zersplitterung des modernen Bewußtseins, von Glied zu Glied, von Zeichen zu Zeichen, sie machen sich auf ins Freie, aber manchmal sind sie auch verstörend schlicht, extrem kurz, Einworthiebe. Sie meiden das Glatte und Gefällige, das Wohlgesetzte, sie bevorzugen die „schlechten Wörter“, wie Ilse Aichinger das genannt hat. Die Formel „Es gilt das gesprochene Wort“, sie steht auch auf diesem Manuskript. Die Formel einer Schriftstellerin lautet naturgemäß: Es gilt das geschriebene Wort. Oder wie Mora formuliert: „Den Satz gibt es nicht, bevor du ihn nicht hinschreibst.“ So macht die Autorin den Satz und der Satz macht die Autorin. Sie existiert in ihren Sätzen. In „Alle Tage“ heißt es: „Einen UNENDLICHEN SATZ sprechen, das wäre gut, aber ist das nicht zu viel für einen einzelnen Menschen?“ Mag sein, doch nichts anderes ist es, was wir ein Werk nennen.

T wie Trotta
Siehe C wie Celan.

U wie Ungarisch
Auch wenn die Autorin Mora sich für das Deutsche als Schreibsprache entschieden hat, wie man sich unter mehreren Talenten für eine Sportart entscheidet, in der man am ehesten Weltklasseleistungen zu erbringen erhofft, auch wenn ihr die Zweitsprache der Kindheit verkümmert erscheint, ein Relikt aus einer anderen Zeit, einem anderen System, eingeschlossen wie in Bernstein, so bildet das Ungarische doch ein unerschöpfliches Reservoir ihrer schöpferischen Phantasie. „Der geheime Text“, wie sie das genannt hat, ist hineinverwoben in das deutsche Kleid, das ihr Oeuvre trägt; er speist sich auch aus dem, was die Leserin, die Hungarologin alles kennt, und dank einer Schultradition, um die wir die Ungarn nur beneiden können, vor allem aus Gedichten – von Attila Jószef, János Pilinszky, Miklós Radnóti und vielen anderen. Zum Dank hat Terézia Mora Werke der ungarischen Literatur von Esterházy bis Zsófia Bán aus dem für uns „geheimen Text“ auf grandiose Weise erlöst.

V wie Vexierbild
Die Menschen, die bei Terézia Mora in den Spiegel schauen, sehen nicht selten das eigene Bild als ein fremdes. Trug und Betrug im Augenschein: Der alte Mann in der Erzählung „Fisch schwimmt, Vogel fliegt“ entpuppt sich, von einem jungen Burschen bestohlen, als Marathonläufer. Als Aliens nehmen einander im grellen Licht plötzlich die jungen Liebenden wahr, zum Lachen, zum Fürchten. Das Kippbild ist die kongeniale Figur dieser Literatur: das Rätsel, dessen Lösung auf der Hand liegt, unsichtbar.

W wie Wut
Muß man es sagen, daß Terézia Mora eine politische Autorin ist? Was sie schreibt, spricht für sich. Es hat mit Wut zu tun und mit Mut. Sie zitiert den Dichter-Maler Lajos Kassák: „Kunst hat kein Ziel, sondern einen Grund.“ Als Autorin ist Mora furchtlos, auch gegenüber der Macht des Ökonomischen. (Der Deutsche Buchpreis für „Das Ungeheuer“ war keiner, an dem die Buchhändler ihre Freude hatten.)

X wie Xenophilie
Xenophil ist Moras Werk von Grund auf, insofern wir alle Fremde sind, Aliens für einander; den „Fremden“ sieht man es nur eher an. Unterschicht, ein häßliches Wort, es verpflichtet zur Suche nach dem einzelnen Antlitz: „Vielleicht sehen sich die Kinder armer Leute tatsächlich alle ähnlich. Die wachsamen, aufsässigen, feigen Gesichter. Der Hunger darin. Die Erde. Ehrgeiz und Schwäche: die Trinkerkombination.“ So steht es in „Durst“ und so in „Lenz“: „Man (...) senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganz feinen, kaum bemerkten Mienenspiel (...). Es sind die prosaischsten Menschen unter der Sonne; aber die Gefühlsader ist in fast allen Menschen gleich, nur ist die Hülle mehr oder weniger dicht, durch die sie brechen muß.“ Was Büchner fordert, ist in Moras Erzählkunst bei aller Vertracktheit eingelöst: „man muß die Menschheit lieben, um in das eigentümliche Wesen jedes einzudringen, es darf einem keiner zu gering, keiner zu häßlich sein (...).“

Y wie Yin-Yang
Nicht daß Mora es so mit dem Fernöstlichen hätte. Doch vom Prinzip des Gegensätzlichen lebt die Spannung in ihrer Literatur: schwach und stark, passiv und aktiv und, natürlich, weiblich und männlich. War hier schon davon die Rede, wie präzis und paßgenau Terézia Mora sich in die männliche Psyche versenkt? Arabeskenreich, aufrichtig sympathisierend, und doch stets mit einem Hauch bemühter Nachsicht.

Z wie Zitatkunst
Es braucht schon eine selbstbewußte Stimme, um so viele fremde Stimmen zu zitieren, zu amalgamieren, bauchrednerisch zu verschlucken. Mitunter auch ihnen den Vortritt zu lassen, ohne sich klein zu machen. Es braucht die souveräne Bescheidenheit der Könnerin, die weiß, daß die Einzigartigkeit ihrer Kunst sich auch der Einzigartigkeit vieler Vorgänger verdankt. Seltsame Materie des kulturellen Erbes, das sich vermehrt, je mehr man davon zehrt.