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Terézia Mora

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Terézia Mora im Interview mit Martin Becker

NDR Kultur "Das Gespräch"

"Man muss alles versuchen. In die Sackgassen muss man auf ganz neue Weise hineinspazieren." Diese Devise des ungarischen Autors Peter Estérhazy hat Terézia Mora verinnerlicht. Ihre eigenen Bücher erzählen einfühlsam von unserer Gegenwart und sind zugleich sprachgewaltige Experimente. Dafür hat sie fast alle renommierten Literaturpreise erhalten - in diesem Jahr kommt der Georg-Büchner-Preis hinzu.

Martin Becker: Frau Mora, als Samuel Beckett 1969 den Literatur-Nobelpreis bekommen hat, soll er, als er es erfahren hat, ausgerufen haben: „Katastrophe!“. Was haben Sie gerufen, als Sie erfahren haben, Sie sollen den Georg-Büchner-Preis bekommen?

Terézia Mora: Mein erster Gedanke war tatsächlich: O mein Gott, jetzt muss ich eine Rede schreiben, was mich ja mehr umtreibt als alles andere. Ich verabscheue es wirklich, Reden zu halten. Ich verabscheue jede Situation, in der ich nicht das vorlese, was ich vorher literarisch geschrieben habe (…) Eine Rede, wo zumindest die Leute aus der Branche hingucken, um zu sehen, ob ich mich denn auch würdig verhalte oder ob man mir im Nachhinein den Preis aberkennen sollte, weil sich herausgestellt hat, dass ich unendlich simpel und überhaupt nicht so talentiert bin, wie sie dachten. Aber dann fiel mir wenig später ein, dass ich Büchner über alles liebe, d.h. ich werde einfach über Büchner reden, und dann wird das schon gehen.

M. B.: In der Begründung der Jury heißt es u. a., in ihren Romanen und Erzählungen widmet sich Terézia Mora Außenseitern und Heimatlosen, prekären Existenzen und Menschen auf der Suche und trifft damit schmerzlich den Nerv unserer Zeit. Mir ist aufgefallen, dass sich das tatsächlich wie ein roter Faden durch Ihr Werk zieht. Woher kommt die Neigung zu denjenigen, die sie selbst mal als „Überzählige“ bezeichnet haben? Können Sie das sagen?

T.M.: Natürlich nicht. Natürlich fällt ss mir auch auf, aber ich mach das nicht absichtlich. Ich folge meinem Interesse, und wenn ich mich in meinem Umfeld umschaue, denn daher kommt das alles, dann ist das sicherlich so, dass ich offensichtlich einen selektiven Blick habe und dass mir eben die Leute auffallen, die vom Hochglanzdurchschnittsbürger abweichen, den es, glaub ich, überhaupt nicht gibt. Niemand würde von sich selbst sagen, dass er der genaue Durchschnitt ist von dem, was hier als „normal“ gilt.

M. B.: Das hat auch ein bisschen mit Mitgefühl zu tun, Sie sind sehr mitfühlend mit den Figuren, die Sie beschreiben, das fällt mir immer wieder auf.

T. M.: Zumindest schreibe ich über niemanden, mit dem ich kein Mitgefühl habe, das ist wahr. Aber das ist nicht immer ein ganz leichter Weg. Ich habe eine Trilogie über einen Menschen namens Darius Kopp geschrieben, und ich habe anderthalb Jahre gebraucht, bis ich an ihn herangekommen bin, und ich kann mich erinnern, dass ich während einer Fahrradtour meinen Lektor vollgejammert habe, „Ich komm an diesen Typen nicht ran, das ist so ein Kleinbürger, ich komm ja aus einem landproletarischen Milieu, ich versteh die Probleme dieser Stadtleute überhaupt nicht“ – das stimmte natürlich nicht, aber man brauchte eine Weile, bis man ihn besser kennengelernt hat und etwas anderes als Oberflächlichkeiten und Klischees über ihn wusste. Das ist aber eine Arbeit, die du als Autor machen musst.

M. B.: Sie haben gerade das landproletarische Milieu erwähnt. Die Erzählungen in Ihrem ersten Buch Seltsame Materie spielen alle in Ihrer ungarischen Heimatgegend. In meiner Erinnerung hat sich so ein ziemliches Unbehagen festgesetzt und als ein Detail diese Zuckerfabrik. Ich habe mich gefragt, wann gab es eigentlich diesen Augenblick, wo Sie wussten, dass Sie da wegmüssen, und nicht nur das, dass Sie darüber schreiben müssen, sich vielleicht frei schreiben müssen. Gab es da einen Moment?

T. M.: Es war ein Prozess - dass ich da wegmuss und dass ich darüber schreiben muss, das waren zwei verschiedene Momente. Das mit dem Wegwollen kam sehr, sehr früh. Ich glaube in dem Moment am Ende der ersten Klasse. Da wurden die besten Schüler nach vorne gerufen und bekamen irgendwelche Buchgeschenke. Das war mein erster Moment der Melancholie. Ich wurde nach vorne gerufen, ich bekam ein Buch für meine guten Leistungen, und mein Gedanke war nicht „ich freu mich“, sondern „warum musste es mich treffen?“ Ich war eine gute Schülerin, und dennoch empfand ich diese ganze Schule, dieses ganze System mit den Pionieren, dieses ganze Dorf als fürchterlich, als repressiv, als verlogen, als überhaupt nicht menschenfreundlich, „Behaltet eure Scheißbücher, aber behandelt mich besser“.
Und das zog sich dann durch, ich habe von diesem Moment an, bis ich achtzehn wurde, die Tage gezählt, wann ich da wegkann, ohne dass mich das Gesetz wieder zurückholt. Ich wollte hinaus ins Leben und das verwirklichen, was ich da nicht hatte, nämlich Freiheit und Kreativität und Glück. Dann ist Folgendes passiert: Als ich die Wahl hatte, schreib jetzt über etwas, was dir wichtig ist, schrieb ich eine Erzählung, die dort spielte. Und als man zu mir sagte, diese Erzählung ist gut, schreib noch welche dazu, dann machen wir einen ersten Erzählband, habe ich lauter Geschichten geschrieben, die dort spielten, die ich von dort mitgebracht habe, und war dann ganz froh darüber und dachte, okay, jetzt schreibst du die seltsame Materie aus dir raus und DANN bist du frei.

M. B.: Und danach sind Sie quasi auch literarisch in die Metropole gesprungen und eigentlich dortgeblieben. In Ihrem ersten Roman, Alle Tage, begegnen wir Abel Nema, einem Mann, der vor dem Krieg geflohen ist. Fünf Jahre sind vergangen zwischen Ihrem Debüt und diesem Roman, und Sie haben einmal gesagt, dass die ersten zwei Jahre einer Arbeit immer von der Unerträglichkeit handeln, d. h. von einem großen Zweifel, bis der Knoten dann irgendwann platzt. Ist das wirklich bei jedem Buch bisher so gewesen? Wird das nicht besser?

T. M.: Es ist jeweils anders, ich kann das jetzt durchdeklinieren; bei Alle Tage war es so, das war ein sehr langer Vorbereitungsprozess, was damit zusammenhing, dass ich zuerst 250 Seiten des falschen Romans geschrieben habe, dann sind zwei Sachen dazwischengekommen – Nummer eins, ich habe Harmonia Cælestis übersetzt, Nummer zwei habe ich gemerkt, dass ich lüge in diesen 250 Seiten, dass ich was vom Pferd erzähle. Das sagte ich auch immer zu meinen Studenten in Leipzig, erzählt mir nichts vom Pferd. Man sieht, dass das nicht authentisch ist. Das hatte ich in dieser ersten, gescheiterten Version gemacht. Dann kam also Harmonia Cælestis, was mir auf eine Weise die Augen öffnete, und dann kam der 11. September 2001, was mir auf eine andere Art und Weise die Augen öffnete. Dann warf ich das alles weg und fing von vorne an. Und deswegen waren es dann am Ende fünf Jahre.
Und beim nächsten, bei Der einzige Mann auf dem Kontinent, da hatte ich auch dieses Gehudel mit Wer ist dieser Darius Kopp? Ich habe ihn mit ausgewählt, und dann habe ich festgestellt, dass ich eigentlich nichts Wesentliches über ihn weiß und dass das furchtbar ist. Und man hat das Glück und das Pech, in der Zeit ein Stipendium in Rom zu haben, das elf Monate geht, was gut und schön ist, allerdings ist man weg von dem Ort, wo das Ganze verwurzelt ist. Man ist nicht mehr in Berlin. Ich habe festgestellt, dass es nicht leicht ist, in Rom einen Berlin-Roman zu schreiben. Und dann wird man schwanger z. B., kann ja auch passieren … also eins kommt zum anderen, und dann dauert es wieder vier oder fünf Jahre, bis das fertig ist.
Das Ungeheuer ist vielleicht das Buch, was so aussieht, als hätte es die meiste Mühe bereitet. Es ist am aufwühlendsten und formal am anspruchvollsten. Hier war diese Phase nicht so lang, weil ich die beiden Figuren fertig hatte und weil ich die Trilogie schon geplant hatte, d. h. ich wusste, worum es geht im zweiten Band. Dnd dann bei Die Liebe unter Aliens, den Erzählungen … ich wusste nicht, dass man so schreiben kann, es war so leicht, es war so schön, wie große Ferien, zehn Monate Ferien, jeden Monat eine Erzählung, nie stand etwas in Frage, nie war etwas unbewältigbar. Es war wundervoll, als wären sie schon da gewesen und hätten schon die ganze Zeit gewartet, und ich hätte sie nur aufschreiben müssen.

M. B.: Da sprechen Sie ja so Glücksmomente an, die es beim Schreiben ja tatsächlich geben kann. Ich will noch einmal ganz kurz zurückkommen zu Abel Nema, zum Helden Ihres ersten Romans Alle Tage. Der hängt am Anfang des Buches kopfüber von einem Klettergerüst herunter. In Ihren Frankfurter Poetikvorlesungen haben Sie über Ihr Gefühl geschrieben, als Sie diesen Einfall hatten: „Guten Morgen, mein Lieber, ich habe einen Ort für dich gefunden. Freust du dich?“ Stimmt das wirklich, sprechen Sie manchmal innerlich mit Ihren Figuren, um ihnen vielleicht mitzuteilen, wenn Ihnen was gelungen ist?

T. M.: Bei Abel Nema kann ich das nicht beschwören, aber bei Darius Kopp definitiv. Ich meine, ich bin jetzt seit zehn Jahren mit ihm unterwegs, und wenn der Erzähler im Roman den Kopp anspricht, dann ist es ganz häufig tatsächlich die Autorin, die Kopp anspricht, zu dem habe ich tatsächlich so ein Verhältnis.
Bei Abel Nema ist es schwierig, weil er ein recht verschlossener Typ ist; ich glaub, ich habe nicht besonders viel mit ihm geredet, aber ich kann mich an dieses Gefühl erinnern, als der Roman fertig war. Eine halbe Stunde nachdem ich das letzte Wort geschrieben hatte war ich euphorisch, das war großartig; und danach hatte ich eine sehr lange Trauerphase. Ich trauerte darum, dass ich jetzt nicht mehr mit Abel Nema zusammen sein kann, obwohl er so verschlossen war.

M. B.: Sie haben schon mehrmals Darius Kopp angesprochen, das ist ein korpulenter IT-Spezialist - so lernen wir ihn kennen -, der maßlos gern isst und maßlos Geld ausgibt, überhaupt ein maßloser Mensch. Ich habe mich beim Lesen gefragt, wie sind Sie damals vorgegangen, um sich in diese Arbeitswelt hineinzufuchsen. Wie eignen Sie sich überhaupt dieses oft sehr detaillierte Wissen an, nicht nur bei Darius Kopp?

T. M.: Erstens teile ich das Büro mit einem IT-Spezialisten. Zweitens ist mir dabei aufgefallen, wenn man es von außen beobachtet, dass unser Arbeitsalltag sehr ähnlich aussieht. Ich setze mich auch an den Computer, ich habe auch Verbindung mit dem Internet, ich habe diese E-Mails, ich werde gelegentlich sogar angerufen, was mich sehr aufregt - Wie kann man einen Autor anrufen? Im Wesentlichen war das, was wir da gemacht haben, sehr ähnlich. Ich dachte mir, es reicht auch, wenn ich beobachte wie ICH arbeite, denn offensichtlich ist das die Art und Weise, wie an Computerarbeitsplätzen gearbeitet wird. Es gibt eine gewisse Kontinuität, indem du ständig vor dem Bildschirm hängst, und ein sehr hohes Maß an Unterbrechungen. Entweder du wirst ständig unterbrochen durch irgendwelche Nachrichten oder du unterbrichst dich selbst, weil du recherchieren willst oder weil du müde geworden bist, und dann machst du irgendetwas anderes, um dich zu erholen.
Das Ganze hat einen etwas fragmentierten Eindruck, was ehrlich gesagt relativ stressig ist, man ist völlig ausgelaugt am Ende so eines Tages. Was das Fachwissen anbelangt, da habe ich keine Ahnung, und dazu habe ich diesen IT-Menschen interviewt und einige seiner Freunde, und ich habe das auf Band aufzeichnen und vom Band abschreiben müssen, weil ich mir das nicht einmal merken kann. Ich habe sogar MHz und GHz verwechselt …
Ich bin sehr fasziniert davon, wie Kompetenzgruppen reden, wie Leute über ihr Metier reden, auch wenn ich es nicht verstehe. Ich kenne ein paar Physiker, wie die reden, da versteh ich noch weniger, oder wie Bestatter reden oder Bänker reden, was für Worte sie benutzen, das ist toll. Am schlimmsten ist es, wie Pressesprecher reden. Da sagte doch zu mir ein Pressesprecher, es gab verschiedene push and pull-Effekte, da dachte ich mir: Kannst du nicht normal reden? Das denke ich mir als Privatperson, aber als Autorin denke ich mir: So, mein Lieber, das kommt jetzt irgendwo rein, weil das so verrückt ist. Ohne dass irgendwas passiert wäre, hast du dich mit einem Satz beschrieben.

M. B.: Frau Mora, wir haben jetzt ja schon einen Einblick bekommen in Ihren Arbeitsalltag. Dieser Schreibprozess erfordert ganz offenkundig sehr viele unterschiedliche Dinge. Haben Sie eigentlich einen sehr strengen Alltag und werden Sie unglücklich, wenn Sie nicht schreiben können?

T. M.: Selbstverständlich werde ich unglücklich und unleidlich. Es ist so, wenn das Leben perfekt wäre und ich leben könnte, wie ich will, würde ich jeden Tag meines Lebens absolut dasselbe machen, und zwar würde ich schreiben und essen und Yoga machen und lesen und sonst absolut gar nichts. Abends würde ich noch ein Bad nehmen. Also brauche ich in meinem Leben im Grunde nichts anderes als eine sehr komfortable Wohnung, was schon ein Luxus ist, wenn man bedenkt, wie die meisten Menschen leben, aber ich lebe nun einmal hier und habe dieses Privileg und kann mich glücklich schätzen; aber dann wiederum nicht, denn ich habe eine Familie und alle möglichen Verpflichtungen, so dass es tatsächlich Zeiten
gibt, wo ich das Gefühl habe, dass sich jeder von denen verschworen hat, mich vom Arbeiten abzuhalten.
Ich stehe auf und will meinen Tag beginnen, und die versammeln sich und scharren schon mit den Hufen, und dann gibt jemand ein geheimes Zeichen: „Auf sie mit Gebrüll, wir hindern sie am Schreiben.“ Und wenn einer von denen merkt, dass ich doch noch 45 Minuten übrighabe, wird er mir die auch noch wegnehmen mit irgendeinem Mist.
So sind manche Tage, und nachdem ein Tag so war, werde ich unruhig, nach dem zweiten traurig und nach dem dritten Tag wütend – und dann wird‘s schlimm, weil der nächste, der mir dann querkommt, wird das dann abbekommen. Aber ich bin ja auch relativ zivilisiert und versuche, mich dann zu verstecken.

M.B.: Ich fand bemerkenswert, als ich Ihre Poetik-Vorlesungen gelesen habe, dass es da einen befreienden Moment gab, der mich auch sehr gefreut hat, es hat mit einem Tag zu tun, nämlich mit dem 15. März. Sie haben in den Poetik-Vorlesungen geschrieben, dass das der Tag ist, an dem alles weggeworfen wird, was weggeworfen werden kann, endgültig, auch literarische Entwürfe. Ist das heute immer noch so?

T. M.: Nein, weil ich dazu jetzt keine Zeit mehr habe, aber als junger Mensch, als ich mich vorbereitet habe auf dieses Leben, habe ich das tatsächlich gemacht. Es war nämlich so, dass ich auch als Jugendliche vor mich hin kritzelte, und ich sah sehend, wie der Ungar sagt, dass das noch nichts Professionelles war. Ich war ja unfrei, meine Erwachsenen hätten das jederzeit lesen können; ich hätte auch umkommen können auf dem Weg zur Schule, und dann hätte das jemand gefunden usw. Und dann dachte ich mir, auch wie ein Training, wenn du es nicht übers Herz bringst, es wegzuwerfen, dann ist das vielleicht doch etwas. Aber ich habe es immer übers Herz gebracht, alles wegzuwerfen – was ganz gut ist, das kann jetzt niemand mehr finden, diese ganzen peinlichen Sachen.
Das ist heute anders, heute wird man meine peinlichen Sachen finden, weil ich keine Zeit mehr habe auszumisten. Leider.

M. B.: Wir müssen eigentlich kein großes Geheimnis daraus machen, auch hier im Radio, dass wir uns relativ gut kennen, und zwar immerhin schon seit 2003. Damals waren Sie Gastprofessorin am Literaturinstitut in Leipzig, und ich war damals dort Student, hatte gerade mein Studium angefangen, und was mir wirklich in Erinnerung geblieben ist, was sich so unterschieden hat von jedem anderen Unterricht, Sie haben uns damals Ihre Notizen gezeigt und die Baupläne Ihrer Bücher mitgebracht. Das war eindrucksvoll und extrem lehrreich. Hilft Ihnen das manchmal heute auch noch, dieses Gespräch übers Schreiben, dieses sehr offene Gespräch?

T. M.: Auf alle Fälle, nur sind nicht alle dazu bereits, muss man sagen (…) Warum bin ich darauf gekommen, Ihnen das damals mitzubringen? Weil ich versucht habe, verzweifelt den Mann ohne Eigenschaften von Musil zu lesen, und das ist einfach nicht mein Buch. Ich bin mehrfach gescheitert, aber was ich sehr genossen habe, waren Musils Notizen. Ich finde, die sind tausendmal interessanter als das Buch, und ich habe gemerkt, wie sehr mir das hilft und wie sehr mir z. B. Joyces Notizen zum Ulysses helfen, nicht, dass der Ulysses allein nicht schon sehr amüsant wäre und unterhaltsam und ein tolles Buch, aber die Notizen, die er gemacht hat, zu sehen, wie genau er geplant hat, wie sein Entwurf war, hat mir sehr geholfen.
Und dann war ich ja auch lange Zeit die Übersetzerin von Péter Esterházy , und es hat eine Weile gedauert, bis wir offene Gespräche über das Schreiben führen konnten. Wahrscheinlich vertraute er mir anfangs noch nicht so sehr, und jedes Mal, wenn ich ihn etwas gefragt habe, als junge Autorin, „Was ist deine Meinung dazu?“ oder „Wie machst du das?“, hat er sich verschlossen, hat sich geheimnisvoll gegeben. Er hat keinen Einblick in seine Werkstatt gewährt. Und dann dachte ich mir: „Warum denn nicht, dein Genie kann ich sowieso nicht klauen, darum geht’s nicht, es geht darum, teile deine Erfahrungen mit mir.“ Das wurde dann schließlich besser, und am Ende schrieben wir uns dann tatsächlich solche Sachen wie „Wenn ich klüger wäre, wäre ich schon längst fertig, aber ich weiß nicht, wie ich den Typen aus dem ersten Stock ins Erdgeschoss bringen soll“ und so was. Und dabei ist es einfach, du schreibst: „Er ging vom ersten Stock ins Erdgeschoss“, aber manchmal kannst du das nicht.

M. B.: Ich möchte jetzt noch mal auf Ihren letzten Erzählband zurückkommen, Die Liebe unter Aliens. Eins muss ich sagen, man kann manche dieser Geschichten wieder und wieder lesen, und sie machen einen wieder und wieder glücklich. Sie haben ja auch schon von diesen großen Ferien berichtet, dass es sich so angefühlt hat beim Schreiben. Ich habe den Eindruck, die Figuren arrangieren sich mit ihrem Schicksal in dem Buch eigentlich ganz gut, und sie machen das Beste, tatsächlich Glücklichste aus ihrem oft schweren Schicksal. Das Glück kommt – ist mir aufgefallen – sogar im allerletzten Satz vor. Sind die Figuren doch ein bisschen optimistischer geworden?

T. M.: Das ist jetzt merkwürdig, das war ja für mich nie eine Kategorie, sind sie jetzt optimistisch oder nicht. In Seltsame Materie, die eine sehr viel brutalere Welt ist - warum habe ich mich damals häufiger für junge Erzähler entschieden? Weil du als junger Mensch meistens hoffnungsvoll bist. Wenn du als 7- oder 14- oder 18-Jähriger keine Hoffnung hast, dann ist das das Schlimmste überhaupt, dann ist es vorbei, dann bist du ein wandelnder Toter. Das sind alles relativ schreckliche Verhältnisse, aber die jugendlichen Erzähler können nicht anders, als daran zu glauben, dass sie, wenn sie groß werden, es anders machen und das Ganze besser sein wird. Ich glaube schon, dass ich eigentlich mehr Talent zum hoffnungsvoll sein habe.
Für Abel Nema in Alle Tage geht es nicht ganz so gut aus, aber ich finde, dass es trotzdem eine Lösung und eine Rettung für ihn ist, denn er hat sich so vergaloppiert in sein Zeug, dass er, wenn er da nicht gewaltsam herausgeholt wird, im Grunde auch ein wandelnder Toter ist. So ist er halt ein wandelnder Krüppel. Aber was kann man tun? Du musst deinen Preis zahlen.

M. B.: Die Liebe unter Aliens spielt ja in sehr vielen Ländern - in England, in Japan, in Portugal. Das waren Ihre letzten Erzählungen, die Sie geschrieben haben. Ihre ersten Erzählungen wiederum spielen in Ungarn, und ich würde gern noch einmal zu diesem Spielort Ihrer ersten Geschichten überhaupt zurückkommen. Sie sind ja nach wie vor öfter in Ihrem Heimatland, wie hat sich das verändert, seit Sie ausgezogen sind, um darüber zu schreiben, wahrscheinlich gewaltig, oder?

T. M.: In Seltsame Materie heißt es nirgendwo, dass das in Ungarn spielt. Es spielt in einem Grenzgebiet, und ich habe ziemlichen Wert daraufgelegt, kaum Namen zu nennen, und die Namen, die ich nenne, sind bis auf einen keine ungarischen Namen, weil ich das schon in Mitteleuropa ansiedeln wollte. Mir war klar, dass man das denen ansieht, wo sie entstanden sind - aber so ein mitteleuropäisches Grenzgebiet, wo ich ja auch herkomme, das sind ja eigentlich drei Länder, die Slowakei, Ungarn und Österreich. Ich wollte das ein bisschen unklar halten, ich wollte auch nicht die Berufsungarin sein, aber zu meinem Pech war 1999 Gastland der Frankfurter Buchmesse, d. h. es ließ sich da nicht vermeiden. Ich fahre aber mindestens zweimal im Jahr dort hin, was mit meinem Kind zusammenhängt, das da sehr gerne ist, bei der Oma, dem Hund, der Katze usw., und mit der ungarischen Sprache. Meine Tochter mag das sehr, und hier hat sie nur mich als Sprecherin.
Die Lebensverhältnisse haben sich sehr verändert, sie sind sehr viel positiver geworden. Die Tatsache, dass die Grenze offen ist, so semi-offen ist, hat meine Region komplett verändert. So wie ich das sehe, führen alle das Leben, wovon sie geträumt haben, mit Italienurlaub und Konsum und Freiheit und Internet und allem. Natürlich ist das Leben hart – wo ist es das nicht? Aber gerade in Westungarn noch am wenigsten. Nichtsdestotrotz sind die Leute unzufrieden, was damit zusammenhängt, dass ihre weltanschauliche Entwicklung und die politische Bildung nicht so weit sind wie das Konsumverhalten oder der Rest der Lebensweise. Das bringt traurigerweise mit sich, dass man eher unzufrieden und undankbar ist der ganzen Situation gegenüber, dass man mit einer Hasskampagne dort eine Wahl gewinnen kann – wo nicht. Bedauerlicherweise müssen wir sagen, da besteht ein Bedarf. Ich versuche immer, one by one, jedem Einzelnen zu erklären oder auf ihn einzureden, warum seine Situation nicht so schlimm ist, wie er denkt; ich werde dann ganz ungläubig angeguckt, und der Tenor ist, ich könne das nicht beurteilen, denn ich lebte ja im Ausland und mir ginge es viel zu gut, um das zu verstehen.
Aber ich verstehe Folgendes, das möchte ich dazu sagen, dass meine Großeltern zeit ihres Lebens arme Menschen waren, sie wurden als der deutschen Minderheit Zugehörige, fast Vertriebene dann doch nicht vertrieben, nur enteignet und im Grunde ihr ganzes Leben lang hin und her geschubst, und zu keinem einzigen Augenblick hat es bei ihnen dazu geführt, irgendjemanden zu hassen, noch nicht einmal die Herumschubser geschweige denn, dass sie Antisemiten geworden wären oder dass sie gesagt hätten, es gibt nur einen Weg, mit Flüchtlingen umzugehen, nämlich sie wieder dahin zurückzujagen, wo sie hergekommen sind. Es kann also nicht die Armut sein und nicht das Bedrängtsein, das dazu führt, dass man so denkt, denn siehe, es geht auch anders. Und sie sind noch nicht einmal tief religiös, sie tun das nicht aus Frömmigkeit, sondern … keine Ahnung, sie sind irgendwie in Ordnung.

M. B.: „Als hätte es vorher nichts gegeben, neu und herausfordernd wie die aufgehende Sonne“ – Péter Esterházy hat diesen Satz in Einführung in die schöne Literatur benutzt, und Terézia Mora hat ihn auf einem DIN-A4-Blatt über ihrem Schreibtisch hängen. Ist das ein Mantra für Sie? Hilft das beim Weitermachen?

T. M.: Absolut, natürlich. Es gibt zwei Mantras, beide habe ich von Esterházy. Das andere ist, man muss alles versuchen, in die Sackgassen muss man auf ganz neue Weise hineinspazieren, ich betone hineinspazieren, erhobenen Hauptes, du bist Literat, du bist deswegen hier, um das auszuprobieren, um die neuen Wege des Erzählens auszuprobieren, und wenn dabei irgendetwas herauskommt, was nicht weiterführt – na und? Jemand musste diese tote Ecke des Labyrinths ausprobieren, einer musste das ausloten.
Und deswegen hat es mir wahnsinnig viel gebracht, Esterházy zu übersetzen, denn ich muss sagen, dass ich diese schlauen Sätze erst entdeckt habe, als ich ihn übersetzt habe, als Leserin irgendwie nicht. Das ist das Schöne am Übersetzen, das ist so ein ganz genaues Lesen und dieses „als hätte es vorher nichts gegeben“.
Denn natürlich gab es sehr vieles davor, das kann dich vor allem als jungen Autor total einschüchtern, dass du sagst, jetzt komm ich hier daher, ich habe kaum Routine, habe kaum was ausprobiert, ich bin so jung, das wird doch alles krumm und schief … ja, na und! Wir brauchen das Krumme und Schiefe, dieses Stottern. Es gibt einen Grund dafür, warum die Literaturszene so hungrig ist nach jungen Schriftstellern, weil sie genau das mitbringen, dieses nicht Festgeschriebene. Und was ist schon ein perfekter Text. Natürlich ist jeder eher so, wir haben’s probiert, und dann ist irgendwas gelungen, sag ich jetzt als jemand, der sehr gerne an der Struktur arbeitet – aber ich bin selbst jedes Mal erstaunt, wenn es dann tatsächlich klappt.

M. B.: Die Autorin, Übersetzerin und frischgebackene Georg-Büchner-Preisträgerin Terézia Mora – Frau Mora, ich danke Ihnen sehr.