In einer ruhigen Vorortsiedlung von Minneapolis ermorden zwielichtige Eindringlinge lautlos die Eltern von Luke Ellis und verfrachten den betäubten Zwölfjährigen in einen schwarzen SUV. Die ganze Operation dauert keine zwei Minuten. Luke wacht weit entfernt im Institut wieder auf, in einem Zimmer, das wie seines aussieht, nur dass es keine Fenster hat. Und das Institut in Maine beherbergt weitere Kinder, die wie Luke paranormal veranlagt sind: Kalisha, Nick, George, Iris und den zehnjährigen Avery. Sie befinden sich im Vorderbau des Instituts. Luke erfährt, dass andere vor ihnen nach einer Testreihe im »Hinterbau« verschwanden. Und nie zurückkehrten. Je mehr von Lukes neuen Freunden ausquartiert werden, desto verzweifelter wird sein Gedanke an Flucht, damit er Hilfe holen kann. Noch nie zuvor ist jemand aus dem streng abgeschirmten Institut entkommen.

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Leseprobe

DER NACHTKLOPFER

1


Eine halbe Stunde nachdem der Delta-Flug von Tim Jamieson Tampa in Richtung der hellen Lichter und hohen Gebäude von New York hätte verlassen sollen, stand die Maschine immer noch am Terminal. Als ein Vertreter von Delta und eine blonde Frau mit einem Security-Ausweis um den Hals die Kabine betraten, erhob sich unter den Passagieren der bis auf den letzten Platz besetzten Holzklasse ein unglückseliges, warnendes Gemurmel.

»Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?«, rief der Mann von Delta.
»Wie groß wird die Verspätung?«, fragte jemand. »Und beschönigen Sie’s nicht!«
»Die Verspätung dürfte eher gering sein, und der Flugkapitän möchte Ihnen versichern, dass Sie beinahe rechtzeitig landen werden. Allerdings sieht sich ein FBI-Beamter gezwungen, diesen Flug zu nehmen, weshalb jemand von Ihnen seinen Platz zur Verfügung stellen muss.«

Ein kollektives Stöhnen hob an, und Tim sah mehrere Leute zu ihrem Handy greifen, um bereit zu sein, falls es Scherereien gab. In solchen Situationen war es schon zu dergleichen gekommen.
»Delta Air Lines ist befugt, ein kostenloses Ticket für den nächsten Flug nach New York anzubieten, der morgen früh um sechs Uhr fünfundvierzig startet …«
Ein weiteres Stöhnen. »Das kann doch wohl nicht wahr sein«, sagte jemand.
Der Funktionär fuhr unbeirrt fort. »Für die Übernachtung erhalten Sie einen Hotelcoupon und außerdem vierhundert Dollar. Das ist ein gutes Geschäft, Leute! Wer ist dazu bereit?«

Niemand meldete sich. Die blonde Security-Frau sagte nichts; sie betrachtete die voll besetzte Kabine mit alles sehenden, aber irgendwie leblosen Augen.
»Achthundert«, sagte der Mann von Delta. »Samt dem Hotelcoupon und dem kostenlosen Ticket.«
»Der Typ führt sich wie ein Quizmaster auf«, grunzte ein Mann in der Reihe vor Tim.
Noch immer meldete sich niemand.
»Vierzehnhundert?«
Trotzdem niemand, was Tim interessant, aber nicht besonders überraschend fand. Es lag nicht nur daran, dass ein Flug um sechs Uhr fünfundvierzig bedeutete, in aller Herrgottsfrühe aufzustehen. Die meisten seiner Gefährten in der Holzklasse waren Familien, die nach dem Besuch verschiedener Attraktionen in Florida nach Hause flogen, Paare mit strandseligem Sonnenbrand und fleischige, rotgesichtige, zornig wirkende Typen, deren Geschäfte im Big Apple wahrscheinlich wesentlich mehr einbringen würden als vierzehnhundert Dollar.

Jemand weit hinten rief: »Wenn’s noch ein Mustang-Cabrio und einen Trip nach Aruba für zwei dazugibt, können Sie unsere beiden Plätze haben!« Diese geistreiche Bemerkung rief Gelächter hervor, das nicht besonders freundlich klang.
Der Mann von Delta warf einen Blick auf die blonde Frau mit dem Ausweis, aber falls er auf Hilfe gehofft hatte, bekam er keine. Sie ließ nur weiter den Blick schweifen, ohne dass sich etwas außer ihren Augen bewegte. Er seufzte und sagte: »Sechzehnhundert.«

Urplötzlich gelangte Tim Jamieson zu dem Schluss, dass er dieses beknackte Flugzeug verlassen und als Anhalter nach Norden reisen wollte. Obwohl ihm eine solche Idee vor diesem Augenblick nicht einmal flüchtig in den Sinn gekommen war, stellte er mit absoluter Klarheit fest, dass er es sich bestens vorstellen konnte. Er sah sich irgendwo inmitten von Hernando County am Highway stehen und den Daumen heben. Es war heiß, die Haarmücken schwärmten, eine Plakatwand warb für einen windigen Rechtsanwalt, »Take It on the Run« von REO Speedwagon dröhnte aus einem Ghettoblaster auf dem als Treppe dienenden Betonblock vor einem Trailer, neben dem ein Mann mit nacktem Oberkörper seinen Wagen wusch, und irgendwann würde ein Farmer in seinem Pick-up mit Melonen auf der mit Brettern gesicherten Ladefläche und einem magnetischen Jesus am Armaturenbrett des Weges kommen und ihn mitnehmen.

Das Beste dabei würde nicht mal das Bargeld in seiner Hosentasche sein. Das Beste würde es sein, ganz allein da draußen zu stehen, meilenweit von dieser Sardinendose mit ihren sich bekriegenden Gerüchen von Parfüm, Schweiß und Haarspray entfernt.
Das Zweitbeste würde es allerdings sein, der öffentlichen Hand ein paar weitere Dollars herauszuleiern.
Tim erhob sich zu seiner absolut normalen Größe (exakt ein Meter achtundsiebzig), schob sich die Brille auf der Nase höher und hob die Hand. »Machen Sie da zweitausend draus, Sir, plus eine Barerstattung meines Tickets, dann bekommen Sie meinen Platz.«


2


Wie sich herausstellte, galt der Coupon für ein heruntergekommenes Hotel, das praktisch am Ende der verkehrsreichsten Start- und Landebahn vom Tampa International stand. Tim schlief beim Dröhnen von Flugzeugen ein, wachte beim selben Geräusch auf und ging ins Erdgeschoss, um beim kostenlosen Frühstücksbüfett ein hart gekochtes Ei und zwei gummiartige Pancakes zu verzehren. Obwohl es sich nicht gerade um kulinarische Köstlichkeiten handelte, aß er mit gutem Appetit und kehrte dann in sein Zimmer zurück, um zu warten, bis um neun Uhr die Banken öffneten.

Er bekam den unverhofften Geldsegen problemlos ausbezahlt, weil die Bank wusste, dass er kam, und weil der Scheck im Voraus bestätigt worden war; er hatte keine Lust, in diesem miesen Hotel herumzusitzen, bis man das erledigt hatte. Er ließ sich seine zweitausend in Fünfzigern und Zwanzigern auszahlen, steckte die Scheine gefaltet in die linke Hosentasche, holte beim Wachmann der Bank seine Reisetasche ab und bestellte ein Uber, um sich nach Ellenton bringen zu lassen. Dort bezahlte er den Fahrer, schlenderte zum nächsten Schild mit der Aufschrift 301-N und hob den Daumen. Eine Viertelstunde später nahm ihn ein alter Kerl mit einer Truckercap von Case mit. Die Ladefläche des Pick-ups war nicht mit Brettern gesichert, und Melonen lagen auch nicht darauf, aber sonst entsprach das Ganze mehr oder weniger der Vision, die Tim am vergangenen Abend gehabt hatte.

»Na, wo geht’s hin, mein Freund?«, fragte der alte Kerl.
»Tja«, sagte Tim. »Letzten Endes nach New York. Glaube ich wenigstens.«
Der alte Kerl spuckte eine Ladung Tabaksaft aus dem Fenster. »Sag mal, wieso sollte jemand, der nich mit ’nem Klammerbeutel gepudert is, da hinwollen?« Seine Aussprache war so breit wie lang.
»Keine Ahnung«, sagte Tim, obwohl das nicht stimmte; ein alter Kumpel aus seiner Militärzeit hatte ihm erzählt, im Big Apple gebe es massenhaft Arbeit im Security-Bereich, unter anderem bei Firmen, die seiner Erfahrung mehr Gewicht beimessen würden als dem absurden Vorfall, der seine Polizeikarriere in Florida torpediert hatte. »Vorläufig hoffe ich bloß, dass ich bis heute Abend nach Georgia komme. Vielleicht gefällt es mir da besser.«
»Na, das hört sich schon anders an«, sagte der alte Kerl. »Georgia is gar nich so übel, vor allem wenn man auf Pfirsiche steht. Ich krieg davon die Scheißerei. Du hast doch nix gegen ’n bisschen Mucke, oder?«
»Überhaupt nicht.«
»Wird aber ziemlich laut, muss ich dir sagen. Ich hör nämlich nich mehr so gut.«
»Ich bin einfach froh, unterwegs zu sein.«

Es war Waylon Jennings anstatt REO Speedwagon, aber das störte Tim nicht weiter. Auf Waylon folgten Shooter Jennings und dann Marty Stuart. Die beiden Männer in dem mit Dreck bespritzten Dodge Ram lauschten der Musik, während sie den Highway entlangrollten. Siebzig Meilen weiter hielt der alte Kerl am Straßenrand, tippte an den Schirm seiner Truckercap und wünschte Tim einen wunnerschön Tag.

Bis nach Georgia schaffte Tim es an diesem Abend nicht – er verbrachte die Nacht in einem weiteren miesen Motel neben einem Stand, an dem Orangensaft verkauft wurde –, aber dafür am folgenden Tag. In der Stadt Brunswick (Ursprung eines leckeren Eintopfgerichts) arbeitete er zwei Wochen in einer Recyclinganlage, ohne mehr darüber nachzudenken als über den Entschluss, auf dem Flug von Tampa nach New York seinen Platz freizugeben. Das Geld brauchte Tim nicht, aber er hatte den Eindruck, etwas Zeit zu brauchen. Schließlich befand er sich im Wandel, und so etwas passierte nicht gerade über Nacht. Außerdem war direkt nebenan eine Bowlingbahn mit einem Denny’s. Die Kombination war kaum zu übertreffen.


3


Mit dem Lohn von der Recyclinganlage und dem Geld von der Fluglinie in der Tasche stand Tim in Brunswick an der Nordauffahrt zur I-95 und kam sich für einen Wandersmann ziemlich wohlhabend vor. Nachdem er mehr als eine Stunde in der Sonne gewartet hatte, wollte er schon aufgeben und zum Denny’s zurückgehen, um sich ein Glas Eistee zu bestellen, als ein Volvo-Kombi bei ihm hielt. Der Kofferraum war voller Pappkartons. Die ältere Frau am Lenkrad öffnete das Beifahrerfenster und spähte Tim durch dicke Brillengläser hindurch an. »Groß sind Sie nicht, aber ziemlich muskulös«, sagte sie. »Sie sind doch wohl niemand, der Frauen vergewaltigt, oder? Und eine Psychose haben Sie auch nicht?«
»Nein, Ma’am«, sagte Tim, dachte jedoch: Was sollte ich sonst sagen?
»Tja, was sollten Sie sonst sagen, nicht wahr? Wollen Sie bis nach South Carolina? Darauf deutet jedenfalls Ihre Reisetasche hin.«
Ein anderer Wagen umkurvte den Volvo und raste hupend die Auffahrt hinauf. Ohne darauf zu reagieren, blickte die Frau ruhig weiter auf Tim.
»Ja, Ma’am. Eigentlich will ich sogar nach New York.«
»Ich bringe Sie nach South Carolina – nicht weit in diesen rückständigen Staat hinein, aber doch ein kleines Stück –, wenn Sie mir dafür ein bisschen helfen. Eine Hand wäscht die andere, wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Sie kratzen mir den Rücken, und ich kratze Ihren.«
»Gekratzt wird nicht, aber Sie dürfen einsteigen.«
Das tat Tim. Sie hieß Marjorie Kellerman und leitete die Stadtbibliothek von Brunswick. Die wiederum gehörte zu einer Vereinigung von Bibliotheken in den östlichen Südstaaten, die kein Geld hatte, denn: »Trump und seine Spießgesellen haben alles gestrichen. Die haben von Kultur nicht mehr Ahnung als ein Esel von Algebra.«

Fünfundsechzig Meilen weiter nördlich und damit immer noch in Georgia hielten sie vor der winzigen Bibliothek einer Stadt namens Pooler. Tim lud die Bücherkartons auf ein Wägelchen und beförderte sie hinein. Anschließend schaffte er ein weiteres Dutzend Kartons in den Volvo. Die waren, wie Marjorie Kellerman ihm mitteilte, für die Stadtbibliothek von Yemassee bestimmt, das weitere vierzig Meilen nördlich bereits in South Carolina lag. Bald nach Hardeeville ging es jedoch nicht weiter. Auf beiden Fahrspuren stauten sich Pkws und Lastwagen, weitere sammelten sich schnell hinten an.

»Ach, ich hasse es, wenn so etwas passiert«, sagte Marjorie. »Und das offenbar auch immer noch in South Carolina, wo sie zu knausrig sind, die Autobahn zu verbreitern. Bestimmt ist da vorne ein Unfall, und weil es bloß zwei Fahrspuren gibt, kommt niemand vorbei. Ich werde den halben Tag hier stehen. Mr. Jamieson, hiermit entbinde ich Sie von weiteren Pflichten. An Ihrer Stelle würde ich mein Fahrzeug jetzt verlassen, zur Ausfahrt nach Hardeeville zurückmarschieren und auf dem Highway siebzehn mein Glück versuchen.«

»Aber was ist mit den ganzen Bücherkartons?«
»Ach, ich finde schon jemand mit einem starken Rücken, der mir ausladen hilft«, sagte sie und strahlte Tim an. »Offen gesagt, habe ich Sie da in der heißen Sonne stehen sehen und einfach beschlossen, ein kleines Risiko einzugehen.«
»Tja, wenn Sie sich sicher sind …« Der Verkehrsstau verursachte ihm Platzangst, genau wie damals, als er in der Holzklasse jenes Delta-Flugs gesessen hatte. »Sonst halte ich gerne durch. Es ist ja nicht so, als ob ich irgendwelche Termine hätte.«
»Ja, ich bin mir sicher«, sagte sie. »Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Mr. Jamieson.«
»Ganz meinerseits, Ms. Kellerman.«
»Brauchen Sie etwas finanzielle Unterstützung? Falls ja, kann ich zehn Dollar entbehren.«

Nicht zum ersten Mal war Tim berührt und überrascht von der alltäglichen Freundlichkeit und Großzügigkeit von ganz normalen Leuten, vor allem von solchen, die eigentlich nicht viel erübrigen konnten. Amerika war immer noch ein guter Ort, auch wenn manche (gelegentlich auch er selbst) anderer Meinung waren. »Nein, das ist nicht nötig, aber danke für das Angebot.«

Er schüttelte ihr die Hand, stieg aus und ging auf der Standspur zur Ausfahrt nach Hardeeville zurück. Als ihn auf der US 17 nicht gleich jemand mitnahm, wanderte er ein paar Meilen weiter bis dorthin, wo sie auf die State Road 92 traf. Hier wies ein Schild zu einem Ort namens DuPray. Da es schon spät am Nachmittag war, hielt Tim es für angebracht, sich ein Motel für die Nacht zu suchen. Zweifellos würde es sich wieder um einen ziemlich miesen Schuppen handeln, aber die Alternativen – sich in die Scheune irgendeines Farmers zu schleichen oder draußen zu pennen und von den Stechmücken aufgefressen zu werden – waren noch weniger verlockend. Und daher machte er sich auf den Weg nach DuPray.
Große Ereignisse warfen manchmal kleine Schatten voraus.


4


Eine Stunde später saß er am Rand einer zweispurigen Straße auf einem großen Steinbrocken und wartete darauf, dass ein schier endloser Güterzug den Bahnübergang hinter sich ließ. Der Zug fuhr mit gemächlichen dreißig Meilen pro Stunde Richtung DuPray: geschlossene und offene Güterwagen, Autotransporter (hauptsächlich mit Wracks anstatt mit neuen Fahrzeugen bestückt), Flachwagen und Tankwagen, gefüllt mit weiß Gott was für üblen Substanzen, die im Falle des Entgleisens den Nadelwald in Brand setzen oder die Bevölkerung von DuPray schädlichen, wenn nicht gar tödlichen Dämpfen aussetzen würden. Den Abschluss bildete ein orangefarbener Begleitwagen, auf dem ein Mann in Latzhose auf einem Gartensessel saß. Er las in einem Taschenbuch und rauchte eine Zigarette. Als er Tim sah, ließ er das Buch sinken und tippte an die Mütze. Tim erwiderte den Gruß.

Zwei Meilen weiter gelangte er in die Stadt, die rund um die Kreuzung der SR 92 (hier als Main Street bezeichnet) mit zwei weiteren Straßen erbaut war. Den großen Einzelhandelsketten, von denen die größeren Städte übernommen worden waren, war DuPray offenbar weitgehend entkommen; es gab zwar eine Filiale von Western Auto, die war jedoch längst geschlossen. Die Fenster hatte man mit Seife undurchsichtig gemacht. Tim kam an einem Lebensmittelladen vorüber, einem Drugstore, einem Laden, wo es anscheinend so ziemlich alles gab, und zwei oder drei Friseursalons. Außerdem gab es ein Kino, auf dessen Vordach ein Schild mit der Aufschrift ZU VERKAUFEN ODER ZU VERMIETEN prangte, ein Geschäft für Autozubehör, das sich den stolzen Namen DuPray Speed Shop gegeben hatte, und ein Restaurant namens Bev’s Eatery. Zudem begegnete er drei Kirchen, einer methodistischen und zweien ohne Zugehörigkeit, alle von der missionarischen Sorte. Nicht mehr als zwei Dutzend Personenwagen und Pick-ups, wie Farmer sie verwendeten, standen verstreut auf den Schrägparkbuchten, mit denen das Geschäftsviertel ausgestattet war. Die Gehsteige waren praktisch menschenleer.

Drei Querstraßen weiter erblickte Tim hinter einer vierten Kirche das DuPray Motel. Jenseits davon, wo die Main Street wahrscheinlich wieder zur SR 92 wurde, folgten ein weiterer Bahnübergang, ein Güterbahnhof und eine Reihe von in der Sonne glitzernden Metalldächern. Hinter diesen Bauten erstreckte sich wieder der Nadelwald. Alles in allem, fand Tim, erinnerte der Ort an eine Country-Ballade, an eines von diesen nostalgischen Liedern, wie Alan Jackson und George Strait sie sangen. Das alte, rostige Schild am Motel ließ vermuten, dass das Etablissement ebenso dichtgemacht hatte wie das Kino, doch da der Nachmittag zur Neige ging und es dort offenbar die einzige Möglichkeit gab, Obdach zu finden, ging Tim trotzdem darauf zu.

Auf halbem Wege gelangte er gleich nach dem Rathaus von DuPray zu einem Backsteinbau mit Spalieren, an denen sich Efeu emporrankte. Auf dem sorgfältig gemähten Rasen verkündete ein Schild, dass hier der Sheriff von Fairlee County residiere. Das musste eine bettelarme County sein, wenn so ein Ort als Verwaltungssitz diente.

Vor dem Gebäude standen zwei Streifenwagen. Der eine war eine relativ neue Limousine, der ältere ein mit Dreck bespritzter 4Runner mit einer Rundumleuchte auf dem Armaturenbrett. Tim beäugte den Eingang – es war der beinahe unwillkürliche Blick eines Wanderers, der eine Menge Bargeld in der Tasche hatte –, ging ein paar Schritte weiter und drehte sich dann wieder um, damit er die Anschlagbretter zu beiden Seiten der Tür genauer betrachten konnte. Vor allem eine der Bekanntmachungen. Er dachte schon, er hätte sich verlesen, und wollte sich vergewissern.

Das ist doch ganz unmöglich heutzutage, dachte er. Das kann einfach nicht sein.
Aber da hatte er sich geirrt. Neben einem Plakat mit der Aufschrift WENN DU GEDACHT HAST, IN SOUTH CAROLINA WÄRE MARIHUANA LEGAL, DENK NOCH MAL DRÜBER NACH hing ein Zettel, auf dem schlicht und einfach stand: NACHTKLOPFER GESUCHT. BEWERBUNG HIER.

Wow, dachte er. Ein echter Ruf aus der Vergangenheit.
Er wandte sich dem rostigen Motelschild zu, hielt jedoch gleich wieder inne, weil ihm der Zettel nicht aus dem Kopf ging. Genau in diesem Augenblick gingen die beiden Türflügel der Polizeistation auf. Ein schlaksiger Cop trat heraus und setzte sich die Mütze auf den roten Haarschopf. In seinem Abzeichen funkelte die Abendsonne. Er musterte Tims Arbeiterstiefel, seine staubigen Jeans und sein blaues Chambrayhemd. Dann blieb sein Blick einen Moment auf der über Tims Schulter hängenden Reisetasche haften, bevor er ihm ins Gesicht sah. »Kann ich was für Sie tun, Sir?«

Derselbe Impuls, der Tim im Flugzeug dazu gebracht hatte aufzustehen, überkam ihn auch jetzt. »Wahrscheinlich nicht, aber wer weiß?«


5


Der rothaarige Cop war Deputy Taggart Faraday. Er begleitete Tim hinein, wo von den vier Zellen im hinteren Teil des Gebäudes der vertraute Geruch von Bleichmittel und Ammoniak hereinwehte. Faraday stellte Veronica Gibson vor, eine nicht mehr ganz junge Beamtin, die an diesem Nachmittag das Telefon betreute, dann bat er Tim um seinen Führerschein und mindestens ein weiteres Dokument. Was Tim zusätzlich zum Führerschein vorlegte, war sein Ausweis von der Polizei von Sarasota, wobei er nicht verbarg, dass der vor neun Monaten abgelaufen war. Dennoch änderte sich die Haltung der beiden Deputys leicht, als sie ihn sahen.

»Sie sind kein Einwohner von Fairlee County«, sagte Veronica Gibson.
»Nein, keineswegs«, sagte Tim. »Aber ich könnte einer werden, wenn man mir den Job als Nachtklopfer anvertraut.«
»Viel verdient man damit nicht gerade«, sagte Faraday. »Aber von mir hängt das ohnehin nicht ab. Für so was ist Sheriff Ashworth zuständig.«
»Unser letzter Nachtklopfer ist in Rente gegangen und nach Georgia gezogen«, sagte Gibson. »Ed Whitlock hieß er. Netter Mensch. Er hat ALS bekommen, diese Nervenkrankheit. Ist ’ne harte Sache. Aber er hat Verwandte da unten, die sich um ihn kümmern.«

»Es trifft immer die Guten«, sagte Faraday. »Gib ihm doch mal ein Bewerbungsformular, Ronnie.« Und zu Tim: »Wir sind hier eine kleine Truppe, Mr. Jamieson, ein Team aus sieben Leuten, von denen zwei bloß Teilzeit arbeiten. Mehr kann der Steuerzahler sich nicht leisten. Sheriff John ist momentan auf Streife. Wenn er bis fünf oder spätestens halb sechs nicht kommt, ist er nach Hause zum Abendessen und erst morgen früh wieder da.«
»Ich bleibe sowieso über Nacht. Vorausgesetzt, das Motel hat offen.«
»Ach, ich glaube schon, dass Norbert ein paar Zimmer frei hat«, sagte Ronnie Gibson. Sie wechselte einen Blick mit Faraday, worauf beide lachten.
Vier Sterne hat der Laden wohl nicht, hm?«
»Kein Kommentar«, sagte Gibson. »Aber an Ihrer Stelle würde ich das Laken nach diesen kleinen roten Tierchen absuchen, bevor ich mich ins Bett lege. Wieso sind Sie denn nicht mehr bei der Polizei von Sarasota, Mr. Jamieson? Um in Rente zu gehen, sind Sie nämlich zu jung, würde ich sagen.«
»Über das Thema würde ich gerne mit Ihrem Chef reden, falls er mich zu einem Vorstellungsgespräch einlädt.«

Die beiden Beamten tauschten einen weiteren, diesmal längeren Blick, dann sagte Faraday: »Nett, Sie kennenzulernen, Sir. Willkommen in DuPray. Halten Sie sich an die Regeln, dann werden wir gut miteinander auskommen.« Damit ging er hinaus, ohne näher zu erläutern, was passieren würde, wenn Tim sich nicht an die Regeln hielte. Durch das vergitterte Fenster hindurch sah Tim, wie der 4Runner zurückstieß, um dann die kurze Hauptstraße von DuPray entlangzurollen.

Das Bewerbungsformular war auf einem Klemmbrett befestigt. Tim setzte sich auf einen der drei Stühle, die an der linken Wand standen, stellte die Reisetasche zwischen die Beine und fing mit dem Ausfüllen an.
Ein Nachtklopfer, dachte er. Mich laust der Affe.



6


Sheriff Ashworth – der, wie Tim später herausfand, von den meisten Einwohnern wie von seinen Deputys mit Sheriff John angeredet wurde – kam mit seinem dicken Bauch nur langsam vorwärts. Er hatte Hängebacken wie ein Basset und massenhaft weiße Haare. Auf seiner Uniformbluse sah man einen Ketchupfleck. An der Hüfte trug er eine Glock, an einem kleinen Finger einen Rubinring. Er sprach einen starken Dialekt und gab den freundlichen alten Herrn, aber seine tief in ihren fetten Höhlen liegenden Augen wirkten klug und neugierig. Wenn er nicht schwarz gewesen wäre, hätte er gut in einem Film wie Der Große aus dem Dunkeln auftreten können, wo ein klischeehafter Süden dargestellt wurde. Und noch etwas: Neben dem offiziellen Foto von Präsident Trump hing an der Wand seines Büros ein gerahmtes Abschlusszeugnis von der FBI National Academy in Quantico. So was bekam man nicht, indem man die Coupons auf Cornflakespackungen sammelte und einschickte.

»Na, dann wollen wir mal«, sagte Sheriff John und lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück. »Ich hab nicht viel Zeit, Marcella kann es nicht ausstehen, wenn ich zu spät zum Essen komme. Falls nicht gerade irgend ’ne Krise herrscht.«
»Schon kapiert.«
»Kommen wir also gleich zum Knackpunkt. Wieso arbeiten Sie nicht mehr bei den Kollegen in Sarasota, und was machen Sie ausgerechnet hier? South Cah-lina bietet ohnehin nicht gerade viele Attraktionen, und DuPray gehört eindeutig nicht dazu.«

An diesem Abend würde Ashworth wahrscheinlich nicht in Sarasota anrufen, aber dafür morgen früh, weshalb es keinen Sinn hatte, die Sache zu beschönigen. Nicht dass Tim das überhaupt gewollt hätte. Wenn er den Job als Nachtklopfer nicht bekam, würde er die Nacht in DuPray verbringen und morgens einfach auf seiner unsteten Reise nach New York weiterziehen, die ihm inzwischen wie eine notwendige Auszeit zwischen dem vorkam, was gegen Ende des vergangenen Jahres in der Westfield Mall von Sarasota geschehen war, und dem, was als Nächstes geschehen würde. Abgesehen davon war Ehrlichkeit die beste Strategie, schon deshalb, weil Lügen normalerweise kurze Beine hatten, besonders in einer Zeit, wo praktisch alle Informationen für jeden zugänglich waren, der über eine Tastatur und einen Internetzugang verfügte.

»Man hat mir die Wahl gelassen, ob ich selbst kündige oder gekündigt werde. Ich habe mich für Ersteres entschieden. Glücklich war niemand darüber, ich am allerwenigsten – ich hab mich in meinem Job ebenso wohlgefühlt wie am Golf von Mexiko –, aber es war die beste Lösung. So kriege ich ein bisschen Geld, zwar nicht annähernd eine richtige Pension, aber mehr als nichts. Das teile ich mit meiner Exfrau.«
»Und warum? Machen Sie’s kurz, damit ich mich an mein Abendessen setzen kann, solange es noch warm ist.«

»Es dauert nicht lange. Im vergangenen November bin ich eines Tages nach dem Dienst zur Westfield Mall gefahren, um mir ein Paar Schuhe zu kaufen. Musste zu einer Hochzeit. Ich trug da noch meine Uniform, okay?«
»Okay.«
»Als ich gerade aus dem Schuhladen trat, kam eine Frau an-gerannt und meinte, vor dem Kino würde ein junger Kerl mit einer Waffe herumwedeln. Worauf ich mich schleunigst dorthin begeben habe.«
»Haben Sie selbst die Waffe gezogen?«
»Nein, Sir, da noch nicht. Der Kerl mit der Waffe war etwa vierzehn Jahre alt, und ich hab angenommen, dass er entweder betrunken oder high ist. Er hatte einen anderen jungen Burschen zu Boden geschlagen und trat auf ihn ein. Außerdem hat er die Waffe auf ihn gerichtet.«
»Klingt ganz wie diese Sache in Cleveland. Wo dieser Cop einen schwarzen Jugendlichen erschossen hat, weil der mit einer Softairpistole herumgewedelt hat.«
»Daran habe ich auch gedacht, als ich mich dem Tatort genähert habe, aber der Cop, der Tamir Rice erschossen hat, dachte, dass der eine echte Waffe gehabt hätte. Hat er jedenfalls geschworen. Ich dagegen war mir ziemlich sicher, dass die Waffe, die ich vor mir sah, nicht echt war, aber völlig sicher konnte ich mir nicht sein. Können Sie sich ja vielleicht denken, warum.«
Sheriff John Ashworth hatte sein Abendessen offenbar ganz vergessen. »Weil der Täter sie auf den Jungen gerichtet hat, der auf dem Boden lag. Sinnlos, jemand mit einer Fake-Waffe zu bedrohen. Außer der auf dem Boden wusste nicht Bescheid.«

»Der Täter hat später ausgesagt, er hätte die Pistole nicht auf den anderen gerichtet, sondern sie nur hin und her geschwenkt und dabei gesagt: ›Das ist meine, du Penner, und die kriegst du nicht!‹ Was ich nicht gesehen habe; ich hatte den Eindruck, dass er damit gedroht hat. Ich habe ihm zugebrüllt, er soll die Waffe fallen lassen und die Hände heben. Das hat er entweder nicht gehört oder sich nicht drum geschert. Er hat einfach weiter auf den anderen eingetreten und ihn mit der Waffe bedroht. Oder die Waffe geschwenkt, wie auch immer. Jedenfalls habe ich da meine Pistole gezogen.« Er hielt kurz inne. »Falls das für Sie eine Rolle spielen sollte – die Kids waren beide weiß.«
»Aus meiner Sicht ist das egal. Zwei junge Kerle haben sich geprügelt. Einer lag auf dem Boden und wurde misshandelt. Der andere hatte ein Ding in der Hand, bei dem es sich um eine echte Waffe handeln konnte. Haben Sie auf ihn geschossen? Sagen Sie mir bitte, dass es nicht dazu gekommen ist!«
»Ich habe auf niemand geschossen. Aber … Sie wissen ja, dass bei einer Prügelei allerhand Gaffer zusammenlaufen, die aber normalerweise Reißaus nehmen, sobald eine Schusswaffe ins Spiel kommt.«
»Klar. Wer Grips hat, rennt dann schleunigst davon.«
»So war es auch in dem Fall, bloß dass ein paar Leute trotzdem dageblieben sind.«
»Um die Szene mit ihren Handys zu filmen.«
Tim nickte. »Vier oder fünf Typen, die sich für Spielberg hielten. Jedenfalls habe ich meine Waffe an die Decke gerichtet und einen Warnschuss abgegeben. Vielleicht war das eine schlechte Entscheidung, aber in dem Moment kam es mir angebracht vor. Als wäre es die einzige Option. Nun ist die Mall an der Stelle mit Hängelampen ausgestattet. Eine davon wurde von meinem Schuss getroffen und ist einem Schaulustigen direkt auf den Kopf gestürzt. Inzwischen hat der junge Kerl seine Waffe fallen lassen, und sobald sie auf dem Boden aufkam, wusste ich, dass sie nicht echt war, weil sie gehüpft ist. Wie sich herausstellte, war es eine Wasserpistole, die wie eine Automatik Kaliber fünfundvierzig aussah. Der Junge auf dem Boden hatte ein paar blaue Flecke und hat ein bisschen geblutet, ohne dass was genäht werden musste, aber der Mann, dem die Lampe auf den Schädel gefallen ist, war bewusstlos, und zwar drei Stunden lang. Gehirnerschütterung. Laut seinem Anwalt leidet er jetzt unter Gedächtnisschwund und wahnsinnigen Kopfschmerzen.«
»Hat er die Polizei verklagt?«
»Ja. Es wird ein bisschen dauern, aber irgendwas wird er bestimmt einheimsen.«

Sheriff John dachte nach. »Wenn er bloß dageblieben ist, um die Auseinandersetzung zu filmen, kriegt er eventuell nicht besonders viel, egal wie schlimm seine Kopfschmerzen sind. Aber Ihnen hat man wahrscheinlich vorgeworfen, grob fahrlässig einen Schuss abgefeuert zu haben.«
Das hatte man, und Tim hätte es am liebsten dabei belassen. Aber das ging nicht. Sheriff John sah zwar wie eine afroamerikanische Version von Boss Hogg in Ein Duke kommt selten allein aus, war jedoch kein Trottel. Obwohl er eindeutig Verständnis für Tims Situation hatte – was beinahe jeder Polizist gehabt hätte –, würde er die Geschichte überprüfen. Deshalb war es besser, wenn er den Rest von Tim selbst erfuhr.

»Bevor ich die Schuhe gekauft habe, war ich im Beachcombers und hab mir zwei Glas Bier genehmigt. Das haben die Kollegen, die den Jungen mit der Pistole festgenommen haben, an meinem Atem gerochen und mich ins Röhrchen pusten lassen. Ich hatte null Komma sechs Promille, was unter dem gesetzlichen Limit war, aber nicht gerade ideal, nachdem ich soeben meine Waffe abgefeuert und einen Mann ins Krankenhaus befördert hatte.«
»Trinken Sie regelmäßig, Mr. Jamieson?«
»In den ersten sechs Monaten nach meiner Scheidung war das der Fall, aber das ist jetzt schon zwei Jahre her. Jetzt nicht mehr.« Was ich natürlich in jedem Fall sagen würde, dachte er. »Mhm, mhm, dann sehen wir mal, ob ich alles richtig verstanden habe.« Der Sheriff hob seinen dicken Zeigefinger. »Sie waren nicht im Dienst. Wenn Sie also keine Uniform getragen hätten, wäre die Frau erst gar nicht auf Sie zugerannt.«
»Wahrscheinlich nicht, aber ich hätte den Tumult gehört und wäre auf jeden Fall am Tatort aufgetaucht. Als Cop ist man nie ganz außer Dienst. Wie Sie sicher wissen.«
»Mhm, mhm, aber hätten Sie Ihre Waffe dabeigehabt?« »Nein, die hätte gesichert in meinem Wagen gelegen.« Für diesen Punkt hob Ashworth einen zweiten Finger und fügte gleich einen dritten hinzu. »Der junge Kerl hatte wahrscheinlich eine Spielzeugpistole, aber sie hätte auch echt sein können. Jedenfalls konnten Sie sich da nicht sicher sein.«
»Stimmt.«
Worauf sich Finger Nummer vier hob. »Ihr Warnschuss hat eine Lampe getroffen und die nicht nur abstürzen lassen, sondern auch noch auf den Kopf eines unbeteiligten Beobachters. Falls man einen Trottel, der mit seinem Handy eine Schlägerei filmt, als unbeteiligten Beobachter bezeichnen kann.«
Tim nickte.
Nun hob sich auch noch der Daumen des Sheriffs. »Und bevor sich das Ganze ereignet hat, hatten Sie zufällig zwei alkoholische Getränke zu sich genommen.«
»Ja. Und zwar in Uniform.«
»Keine gute Entscheidung, keine gute … wie sagt man noch … Optik, aber ich würde trotzdem sagen, dass Sie eine irrsinnige Pechsträhne hatten.« Sheriff John trommelte mit den Fingern auf die Tischkante. Der Rubinring am kleinen Finger unterstrich jeden Trommelwirbel mit einem leisen Klicken. »Ihre Geschichte ist zwar zu haarsträubend, um nicht wahr zu sein, aber ich glaube, ich rufe trotzdem bei Ihrer früheren Dienststelle an und lasse sie mir bestätigen. Wenn auch nur, um sie noch mal zu hören und Bauklötze zu staunen.«

Tim grinste. »Ich war Bernadette DiPino unterstellt. Die ist die Polizeichefin von Sarasota. Aber jetzt sollten Sie nach Hause zum Abendessen, sonst reißt Ihre Frau Ihnen den Kopf ab.«
»Ach, das mit Marcy können Sie schon mir überlassen.« Der Sheriff beugte sich über seinen Bauch. Seine Augen funkelten heller denn je. »Wenn Sie jetzt pusten müssten, Mr. Jamieson, was käme dann heraus?«
»Das können Sie gerne testen.«
»Ich glaube, das werde ich bleiben lassen. Weil es wohl nicht nötig ist.« Er lehnte sich zurück, wobei sein Stuhl ein weiteres qualvolles Ächzen von sich gab. »Wieso wollen Sie eigentlich Nachtklopfer in einem miesen kleinen Kaff wie dem hier werden? Man kriegt gerade mal hundert Dollar pro Woche, und während man von Sonntag bis Donnerstag nicht viel zu tun hat, kann es am Freitag- und Samstagabend ganz schön Zoff geben. Der Stripclub in Penley hat zwar letztes Jahr dichtgemacht, aber in der Gegend gibt es gleich mehrere Tanzschuppen und Spelunken.«
»Mein Großvater hat in Hibbing in Minnesota als Nachtklopfer gearbeitet, dem Ort, wo Bob Dylan aufgewachsen ist. Vorher war er bei der State Police. Das war der Grund, weshalb ich schon als Junge Polizist werden wollte. Als ich den Zettel draußen gesehen habe, dachte ich einfach …« Tim zuckte die Achseln. Was hatte er eigentlich gedacht? Mehr oder weniger dasselbe wie in dem Moment, als er den Job in der Recyclinganlage angenommen hatte. Praktisch nichts. Ihm kam in den Sinn, dass er zumindest mental nicht im besten Zustand war.

»Sie wollen also in die Fußstapfen Ihres Opas treten, mhm.« Sheriff John verschränkte die Hände über seinem beacht ichen Bauch und starrte Tim mit diesen hellen, neugierigen Augen in ihren fleischigen Höhlen an. »Halten Sie sich etwa für einen Rentner? Suchen bloß nach irgendwas, um sich die Zeit zu vertreiben? Dafür sind Sie eigentlich noch ein bisschen jung, meinen Sie nicht?«
»Was meine Zeit bei der Polizei angeht, bin ich tatsächlich in Rente. Das ist vorbei. Ein Freund hat mir gesagt, er könnte mir in New York Arbeit bei einer Security-Firma verschaffen, und ich brauchte einen Tapetenwechsel. Aber vielleicht muss ich dafür ja gar nicht bis nach New York.« Was er eigentlich brauchte, war wohl ein innerer Kurswechsel. Das würde der Job als Nachtklopfer zwar eher nicht zustande bringen, aber vielleicht ja doch.

»Geschieden, sagen Sie?«
»Ja.«
»Kinder?«
»Nein. Meine Frau wollte welche, ich nicht. Hatte das Gefühl, nicht bereit dafür zu sein.«
Sheriff John blickte auf das Bewerbungsformular. »Hier steht, dass Sie zweiundvierzig sind. Wenn man da noch nicht bereit ist, heißt das in den meisten Fällen, wenn auch wahrscheinlich nicht in allen, dass man …«
Er beendete den Satz nicht und wartete nach bester Polizistenmanier darauf, dass Tim das Schweigen füllte. Was Tim nicht tat.
»Irgendwann fahren Sie vielleicht wirklich nach New York, Mr. Jamieson, aber momentan lassen Sie sich einfach treiben. Kann man das so sagen?«
Tim dachte nach und stimmte zu.
»Wenn ich Ihnen den Job gebe, woher weiß ich dann, dass Sie in zwei Wochen oder einem Monat nicht plötzlich auf die Idee kommen, sich weitertreiben zu lassen? Schließlich ist DuPray nicht gerade der spannendste Ort auf dem Erdboden oder auch nur in South Cah-lina. Meine Frage lautet also, Sir: Woher weiß ich, dass man sich auf Sie verlassen kann?«
»Ich werde bleiben. Vorausgesetzt natürlich, Sie haben den Eindruck, dass ich meinen Job so mache, wie man ihn machen muss. Sonst können Sie mich gerne rausschmeißen. Und falls ich mich selbst entschließen sollte weiterzuziehen, sage ich Ihnen lange im Voraus Bescheid. Das ist ein Versprechen.«

»Der Job reicht zum Leben nicht aus.«
Tim hob die Schultern. »Falls nötig, suche mir noch was dazu. Sie wollen sicher nicht behaupten, dass ich der Einzige hier wäre, der zwei Jobs haben muss, um über die Runden zu kommen. Außerdem habe ich für den Anfang ein bisschen was auf der hohen Kante.«
Sheriff John blieb eine kleine Weile nachdenklich sitzen, bevor er sich erhob. Für einen derart korpulenten Mann tat er das mit erstaunlicher Gewandtheit. »Kommen Sie morgen Vormittag wieder, dann sehen wir, was wir aus der Sache machen. Gegen zehn würde in etwa passen.«
Womit du mehr als genügend Zeit hast, mit der Polizei von Sarasota zu telefonieren und festzustellen, ob meine Story stimmt, dachte Tim. Und um zu fragen, ob ich noch weitere Flecken auf meiner ehemals weißen Weste habe.

Er stand ebenfalls auf und streckte Sheriff John die Hand hin, die gut und kräftig gedrückt wurde.
»Wo wollen Sie heute übernachten, Mr. Jamieson?«
»In dem Motel da hinten, falls ein Zimmer frei ist.«
»Ach, Norbert hat bestimmt mehr als genügend Zimmer«, sagte der Sheriff. »Und ich glaube, er wird nicht versuchen, Ihnen was von seinem Kraut zu verkaufen. Ich hab nämlich den Eindruck, dass Sie immer noch ein bisschen was von einem Cop an sich haben. Wenn Sie kein Problem mit gebratenem Essen haben, kriegen Sie das bei Bev’s die Straße runter. Die haben bis sieben auf. Mein Lieblingsgericht da ist Leber mit Zwiebeln.«
»Danke. Auch dafür, dass Sie mit mir gesprochen haben.«
»Gern geschehen. Interessante Unterhaltung. Übrigens, wenn Sie im Motel einchecken, teilen Sie Norbert doch mit, Sheriff John hätte gesagt, dass er Ihnen eines von den guten Zimmern geben soll.«
»Mach ich.«
»Aber ich würde an Ihrer Stelle trotzdem nach Wanzen suchen, bevor ich in die Federn gehe.«
Tim grinste. »Den Rat geben Sie mir nicht als Erster.«


7


Zum Abendessen gab es in Bev’s Eatery paniertes Steak mit Cremesoße und grünen Bohnen, gefolgt von Pfirsichpastete. Nicht schlecht. Das Zimmer, das man Tim im DuPray Motel zuwies, war eine andere Sache. Verglichen damit waren die Räume, in denen er bisher auf seiner Wanderung nach Norden übernachtet hatte, geradezu Paläste. Die Klimaanlage im Fenster rasselte geschäftig vor sich hin, ohne die Luft nennenswert abzukühlen. Der rostige Duschkopf tropfte, was sich anscheinend auch nicht abstellen ließ. (Zu guter Letzt legte Tim ein Handtuch darunter, um das regelmäßig wie ein Uhrwerk klopfende Geräusch zu dämpfen.) Der Schirm der Nachttischlampe war an mehreren Stellen angekokelt. Das einzige Bild im Zimmer – eine beunruhigende Komposition, die ein ausschließlich von grinsenden und möglicherweise mordlüsternen Schwarzen bemanntes Segelschiff darstellte – hing schief. Als Tim es gerade rückte, stellte sich der vorherige Zustand sofort wieder ein. Draußen stand ein Gartensessel. Der Sitz hing durch, und die Beine waren so verrostet wie der defekte Duschkopf, aber er brach nicht zusammen. Tim saß mit ausgestreckten Beinen da, schlug nach den Stechmücken und sah das orange-rote Glühen der Sonne durch die Bäume brennen. Bei diesem Anblick fühlte er sich zugleich glücklich und melancholisch. Gegen Viertel nach acht tauchte ein weiterer schier endloser Güterzug auf, der die Straße überquerte und an den Lagerhäusern am Ortsrand vorbeirollte.

»Der verfluchte Georgia Southern kommt aber auch immer zu spät.«
Als Tim sich umblickte, sah er den Eigentümer und zu dieser Abendstunde einzigen Angestellten des noblen Etablissements vor sich stehen. Der Mann war klapperdürr. Auf seiner oberen Hälfte hing eine Weste mit Paisleymuster. Seine Khakihose trug er im Hochwasserstil, wohl damit seine weißen Socken und seine alten Converse-Sneakers besser zur Geltung kamen. Sein etwas rattenhaftes Gesicht wurde von einem klassischen Beatles-Haarschnitt umrahmt.
»Sagen Sie bloß«, erwiderte Tim.
»Is eigentlich schnuppe.« Norbert zuckte die Achseln. »Der Abendzug fährt sowieso immer bloß durch. Das tut der um Mitternacht meistens auch, falls er nicht Diesel liefert oder frisches Obst und Gemüse für den Laden. Da hinten kommt ’ne Kreuzung.« Zur Demonstration kreuzte er die Zeigefinger. »Eine Strecke geht runter nach Atlanta, Birmingham, Huntsville und so weiter. Die andere kommt von Jacksonville rauf und geht nach Charleston, Wilmington, Newport News und so weiter. Bloß die Züge, wo tagsüber kommen, machen meistens halt. Übrigens, ham Sie sich schon mal überlegt, im Lagerhaus zu arbeiten? Die suchen nämlich normalerweise ein oder zwei Leute. Braucht man allerdings ’nen starken Rücken für. Nix für mich.«

Tim sah Norbert an. Der trat von einem Bein auf das andere und setzte ein Grinsen auf, bei dem eine Reihe todgeweihter Zähne sichtbar wurden. Die waren zwar noch vorhanden, aber ganz sicher nicht mehr lange.
»Wo steht eigentlich Ihr Auto?«
Tim blickte Norbert nur weiter an.
»Sind Sie ’n Cop?«
»Momentan bin ich bloß jemand, der zuschaut, wie die Sonne hinter den Bäumen untergeht«, sagte Tim. »Und das würde ich ganz gern alleine tun.«
»Schon kapiert, schon kapiert«, sagte Norbert und trat den Rückzug an. Er blieb lediglich kurz stehen, um mit zusammengekniffenen Augen einen einzelnen, prüfenden Blick über die Schulter zu werfen.

Irgendwann war der Güterzug vorübergefahren. Das rote Blinklicht am Bahnübergang erlosch, und die Schranken hoben sich. Die zwei oder drei Fahrer, die gewartet hatten, ließen den Motor an und fuhren los. Tim sah die Farbe der sinkenden Sonne von Orange in Rot übergehen – Abendrot, Gutwetterbot hätte sein Großvater, der Nachtklopfer, gesagt. Die Schatten der Kiefern streckten sich lang über die SR 92 und flossen ineinander. Er war sich ziemlich sicher, dass er den Job nicht bekommen würde, was vielleicht ohnehin besser war. DuPray schien weit von allem weg zu sein; es war weniger eine Nebenstrecke als ein verdammtes Abstellgleis. Hätte es nicht die vier Lagerhäuser da hinten gegeben, würde die Stadt wahrscheinlich gar nicht existieren. Und weshalb existierten die Lagerhäuser? Um irgendwo aus dem Norden, zum Beispiel aus Wilmington oder Norfolk, stammende Fernseher zwischenzulagern und irgendwann nach Atlanta oder Marietta zu verschicken? Um aus Atlanta stammende Kartons mit Computerzubehör zu lagern, um sie irgendwann wieder in einen Zug zu laden und nach Wilmington, Norfolk oder Jacksonville zu transportieren? Um Düngemittel oder gefährliche Chemikalien zu lagern, weil es in diesem Teil der Vereinigten Staaten kein Gesetz dagegen gab? Das Ganze drehte sich offenbar ständig im Kreis, und was sich im Kreis drehte, gelangte nie irgendwohin, das wusste jeder Trottel.

Er ging in sein Zimmer, schloss die Tür ab (was eigentlich Quatsch war, das Ding war so klapprig, dass man es mit einem einzigen Fußtritt aufsprengen konnte), zog sich bis auf die Unterwäsche aus und legte sich aufs Bett, das durchhing, aber wanzenlos war (zumindest soweit er hatte feststellen können). Dann verschränkte er die Hände hinter dem Kopf und starrte auf das Bild mit den grinsenden Schwarzen, mit denen die Fregatte – oder wie immer man so ein Schiff bezeichnete – bemannt war. Wohin sie wohl segelten? Waren es Piraten? Jedenfalls sahen sie so aus. Egal was sie waren, das Ganze lief darauf hinaus, dass sie im nächsten Hafen, den sie ansteuerten, etwas ausladen und einladen würden. Vielleicht lief es mit allem so. Und bei jedem. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er sich aus einem Delta-Flug nach New York ausgeladen. Anschließend hatte er Dosen und Flaschen in eine Sortiermaschine geladen. Heute hatte er für eine nette Bibliothekarin an einem Ort Bücher eingeladen und an einem anderen ausgeladen. Er war nur hier, weil die I-95 vollgeladen mit Fahrzeugen gewesen war, die darauf warteten, dass ein Abschleppwagen kam und das Wrack irgendeines bedauernswerten Zeitgenossen abtransportierte. Wahrscheinlich nachdem ein Rettungswagen den verunglückten Fahrer eingeladen und am nächsten Krankenhaus ausgeladen hatte.

Ein Nachtklopfer war jedoch nicht damit beschäftigt, ein- und auszuladen. Der ging einfach durch die Gegend und klopfte. Das war, hätte Tims Opa gesagt, das Schöne daran.

Tim schlief ein und wachte erst um Mitternacht wieder auf, als ein weiterer Güterzug vorüberrumpelte. Er ging auf die Toilette, und bevor er sich wieder ins Bett legte, nahm er das schief hängende Bild herunter und lehnte die Mannschaft aus grinsenden Männern so an die Wand, dass sie nicht mehr zu sehen war.
Das verdammte Ding machte ihn nervös.

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