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Stanislas Dehaene »Lesen«

7 Dinge, die Sie über das Lesen noch nicht wussten


1. WuNDer DES LeSeNS: WaRuM kÖNnEn wIr AUcH dIesEn sAtZ sOFOrt vErSTehen? Unser Hirn hat gelernt, dass selbst so unterschiedliche Formen wie g und G denselben Laut repräsentieren können.

2. Man könnte meinen, es hänge von der Größe der Zeichen ab, wie leicht wir etwas lesen können: Kleine Zeichen sollten schwerer zu erfassen sein als große. Seltsamerweise ist das nicht der Fall. Denn je größer die Buchstaben eines Wortes gedruckt sind, desto mehr Platz beanspruchen sie auf der Retina – die Buchstaben wandern also an den Rand des Sehfeldes, wo sie nur schwer unterscheidbar sind.

3. Beim Lesen gleichen die Vorgänge in unserem Gehirn einem Wettstreit, in dem je nach Größe unseres Wortschatzes 50.000 bis 100.000 Dämonen miteinander wetteifern. Jeder vertritt genau ein Wort, das er laut herausschreit, wenn er glaubt, sein Wort sei aufgerufen.
Sobald ein Wort erscheint, wird es von allen Dämonen gleichzeitig geprüft.
Erscheint das Wort «Streifen«, so beginnt der dafür zuständige Dämon laut zu rufen. Doch sein Nachbar, der «Streife« zu sehen glaubt, erregt sich ebenfalls.
Streifen oder Streife? Nach kurzem Wettkampf muss der Vertreter von «Streife« nachgeben – sein Konkurrent findet eindeutig mehr Argumente zu seinen Gunsten. Schließlich ist das Wort anerkannt, und der Sieger kann dem Rest des Gehirns mitteilen, worum es sich handelt.

4. Die Schrift ist vor etwa 5.400 Jahren von den Babyloniern entwickelt worden, und das Alphabet ist gerade einmal 3.800 Jahre alt. Angesichts der Evolution sind das nur Augenblicke. Unsere Gene hatten nicht die Zeit, sich so zu wandeln, dass sie zum Lesen geeignete neuronale Schaltkreise hervorbringen konnten. Demnach vollziehen wir die Emotionen Nabokovs und die Theorie Einsteins mit einem Primatengehirn nach, das für das Überleben in der afrikanischen Savanne angelegt war. Umgekehrt ist erwiesen, dass hoch entwickelte Affen bestimmte Buchstaben erkennen können.

5. Unser Gehirn ist kein starres Organ, es ähnelt vielmehr einem Mechanik-Baukasten, mit dem jedes Kind das vom Hersteller vorgesehene Modell bauen kann, aber eben auch andere mehr oder weniger funktionale Maschinen. So unterhalten Natur und Kultur eng verzahnte Beziehungen. Unsere evolutionäre Geschichte definiert über unser genetisches Erbe eine teilweise modifizierbare Gehirnarchitektur, die das Erlernen neuer Kulturtechniken ermöglicht.

6. Wenn das Kind mit fünf oder sechs Jahren zu lesen beginnt, verfügt es über eine detaillierte Repräsentation der Laute seiner Sprache, einen Wortschatz von mehreren tausend Wörtern und beherrscht die wichtigsten Strukturen der Grammatik. Das alles ist dem Kind nicht bewusst, dennoch ist das Gehirn auf dieser Basis bereit, sich mit der Erfahrung der Schrift auseinander zu setzen.

7. Eindeutig, Lesen verbessert die Fähigkeiten unseres Gehirns. Auch wenn die Resultate bildgebender Verfahren noch genauer werden müssen, sie zeigen, dass jeder in der Schule verbrachte Tag und speziell der Lese-Erwerb eine schwindelerregende Menge von Synapsen entstehen lassen. Das Virus des Lesens wird uns über das Sehen eingeimpft, doch es greift sehr schnell auf die Sprachareale über, wo es unsere anfänglichen Fähigkeiten vervielfacht. Wer liest, wird buchstäblich verwandelt: Unser Gehirn ist nicht mehr dasselbe.