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SPECIAL zu »Winter Family« von Clifford Jackman

Der amerikanische Bürgerkrieg gilt als eines der dunkelsten Kapitel der US-Geschichte. Er währte von 1861 bis 1865 und kostete über 700.000 Menschenleben. Obwohl es vordergründig um die Sklavenfrage ging, gründete der Krieg vor allem in dem wirtschaftlichen Gefälle zwischen dem industriellen Norden und dem ländlichen Süden. Diese Tragödie ist nicht zuletzt ein zivilisatorisches Scheitern: Politik und Industrie regieren den Menschen, die Werte von Freiheit und Moral verwischen in unserer Welt der modernen kapitalistischen Gesellschaften mehr und mehr. Hiervon legt der Bürgerkrieg ein erschütterndes erstes Zeugnis ab. Darum verwundert es nicht, dass Clifford Jackman sein Romandebüt Winter Family, in dem er den blutigen Weg einer Outlaw-Bande schildert, als apokalyptischen Western versteht, als literarisches Äquivalent der Visionen Quentin Tarantinos oder der Coen Brothers.
In meiner Jugend habe ich mich für Western nicht groß begeistern können – und Sie sicher auch nicht, wenn man bedenkt, wie wenige Westernfilme und -romane es gibt. In letzter Zeit scheint der Western jedoch eine gesteigerte Aufmerksamkeit zu erfahren. Dazu habe ich folgende Theorie:

Mein Interesse an Western wurde durch Cormac McCarthys Die Abendröte im Westen geweckt. In diesem Roman schließt sich ein namenloser Junge einer wilden Bande von Söldnern an, die Indianer massakriert, um das Kopfgeld für deren Skalps zu kassieren. Die Söldner werden von einer finsteren Gestalt begleitet, einem großen, dicken und haarlosen Mann mit scheinbar übernatürlichen Kräften, der als »der Richter« bekannt ist. Der belesene, gebildete Richter hängt einer komplexen Philosophie an, die sinnlose Gewalt feiert. Er und die übrigen Antihelden aus Die Abendröte im Westen machen aus ihrer Verachtung für die Moral der »zivilisierten Gesellschaft« keinen Hehl und behaupten, einem alternativen Lebensentwurf zu folgen.

Die Abendröte im Westen ist ein gutes Beispiel für das, was ich als »apokalyptischen Western« bezeichnen möchte. Die Bösewichter sind nicht unzivilisiert (weder die Indianer noch die Gesetzlosen), sondern antizivilisiert. Sie haben sich bewusst gegen eine hoch entwickelte Gesellschaft entschieden. Im apokalyptischen Western geht es nicht um eine Welt ohne Gesetze, sondern um die Dichotomie zwischen Zivilisation und Wildnis. Es ist der Kampf zweier gleichstarker Kräfte sowohl um Macht als auch um Moral. Der Leser (oder Zuschauer) erhält den Eindruck, dass die im Entstehen begriffene Zivilisation diesen Kampf verlieren und zerstört werden könnte. Und, mehr noch, dass sie es womöglich gar nicht verdient hat zu gewinnen. In Die Abendröte im Westen wird dieses Misstrauen gegenüber der Zivilisation beispielsweise durch das Kopfgeld symbolisiert, das die Regierungsbehörden auf Indianerskalps aussetzen. Solche Elemente (gepaart mit einem hohen Maß an Gewaltdarstellungen) verleihen diesen Werken eine, wie ich finde, apokalyptische oder postapokalyptische Anmutung.

Ich meine, auch der moderne Leser hegt ähnliche Vorbehalte gegen Technologie und Fortschritt. Wir zerstören unseren Planeten, eine Entwicklung, die trotz bester Absichten und neuester Erkenntnisse in allen Wissenschaftsdisziplinen scheinbar unaufhaltsam ist. Warum schreitet diese Zerstörung umso schneller voran, je reicher, freier und gebildeter wir sind? Warum weiß jeder, was zu tun ist, aber niemand tut es? Wie kann so etwas wie die Ölpest im Golf von Mexiko geschehen? Manchmal kommt mir unsere Gesellschaft wie eine Kutsche vor, deren Pferde durchgegangen sind und die direkt auf einen Abgrund zusteuert.

Kein Genre verkörpert den Kampf zwischen Natur und Zivilisation (oder die Differenzen zwischen der modernen westlichen Zivilisation und den Zivilisationen, auf die die Europäer in der »Neuen Welt« stießen) deutlicher als der Western. Der Western gestattet uns die Frage, was wir tun würden, wenn wir die Uhr zurückdrehen könnten. Würden wir uns noch einmal für unseren modernen Lebensstil mit Krankenversicherung und Kultur, aber auch mit dem vielen Müll, dem Fast Food, der Internetpornografie, den Atomwaffen und dem religiösen Fanatismus entscheiden? Oder würden wir darauf verzichten?

Die postapokalyptische Fiktion zeigt uns die potenziellen Gräuel einer zusammenbrechenden Zivilisation. Der apokalyptische Western untersucht die Ursprünge einer solchen Entwicklung und stellt die Frage, ob wir den Stein überhaupt ins Rollen bringen sollen. Er deutet an, dass alle unsere Bemühungen sinnlos waren und wir am Ende wieder dort landen, wo wir angefangen haben. Und dass uns nichts bleibt außer dem Lachen des Richters – der nach all der Zeit immer noch auf uns wartet.

Clifford Jackman
Aus dem Amerikanischen von Kristof Kurz