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SPECIAL zu Richard Lange »Angel Baby«

Tijuanasaurus Rex

von Richard Lange

Der Autor (Cisco-Kid) mit Verwandten bei einem Besuch in Tijuana. © privat


Tijuana erstreckt sich entlang der Linie, an der Mexiko und die USA aufeinanderstoßen wie zwei tektonische Platten. Aus diesem Zusammentreffen
ergibt sich eine Art seismischer Instabilität, und die Stadt wird unablässig von den verschiedensten Beben erschüttert, seien es Drogenmorde oder politische Skandale. Doch die Geschäfte gehen weiter ihren gewohnten Gang – denn so ist das nun einmal mit Geschäften – und nehmen kaum Notiz von der Vielzahl kleinerer Unglücke, die wie durch ein Wunder niemals eine große Katastrophe ergeben.

Die Stadt besteht aus zwei Millionen hart arbeitenden Menschen, 7.000 Straßenhunden und massenweise lärmenden schwarzen Raben. Streng genommen liegt sie in Mexiko, 20 Minuten südlich der Innenstadt von San Diego und drei Stunden von L. A. entfernt, aber sie ist eine Grenzstadt, vielleicht sogar die
prototypische Grenzstadt, und als solche weder mexikanisch noch amerikanisch.

Tijuana ist nicht Mexiko“, sagen die Leute, und sie haben recht damit, aber ein Vorort von San Diego ist es auch nicht. Es ist nicht einmal eine merkwürdige Mischung der beiden. Nein, wie alle großen Städte – Los Angeles, New York, Paris – ist auch Tijuana vollkommen einzigartig und hat einen Charakter, der es von jedem anderen Ort auf der Welt unterscheidet. Tijuana hat seine eigene Kultur, seine eigene Sprache, seine eigenen Träume und Albträume.

Die Stadt war nichts als ein verschlafenes Kaff, bis während der Prohibition Hollywood und die Mafia für Drinks und Glücksspiele hinfuhren. Später wurde es dann zum Tummelplatz für in San Diego stationierte Soldaten, der all die Verdorbenheit bot, die sich ein achtzehnjähriger Seemann nur wünschen konnte. Ab den fünfziger Jahren wagten sich auch normale Touristen in Scharen über die Grenze, auf der Suche nach scharf gewürztem Essen, billigen Margaritas und Mitbringseln für die Daheimgebliebenen – das konnte zum Beispiel ein übergroßer Sombrero sein, ein Silberring, der einem nach einer Woche den Finger grün färbte, oder ein lebensgroßer Gipsschädel mit Nazi-Stahlhelm.

Heute ist Tijuana nicht mehr das Touristenmekka, das es einmal war, aber dank der vielen ausländischen Fabriken, die sich hier ansiedelten, um von billigen Arbeitskräften zu profitieren, ist es immer noch eine der am schnellsten wachsenden Städte Mexikos. Diese maquiladoras locken Arbeiter aus dem ganzen Land an. Außerdem gibt es eine beträchtliche Zahl vorübergehender Bewohner, die entweder auf ihre Gelegenheit warten, sich über die Grenze in die USA zu schleichen, oder gerade von dort ausgewiesen wurden.

Diese zusammengewürfelte Metropole fasziniert mich schon seit Langem. Ich habe in Kurzgeschichten über sie geschrieben, und ein Teil meines neuen Romans Angel Baby spielt ebenfalls dort. Ein paar meiner Besuche sind in unscharfen Schwarz-Weiß-Fotos dokumentiert, die von unterschiedlichen Straßenfotografen geschossen wurden. Auf diesen Bildern sitze ich auf Wagen hinter verschiedenen traurig dreinblickenden Eseln, die angemalt wurden, um wie Zebras auszusehen.

Auf dem ältesten Foto bin ich acht Jahre alt. Geschossen wurde es während eines Familienausflugs. Wir waren gerade mal lange genug dort, um Mittag zu essen und etwas zu shoppen, aber die Bettelkinder, die grellbunt gestrichenen Nachtklubs und die ausgefallen kostümierten mariachi machten dauerhaft Eindruck auf mich. In meiner Erinnerung ist der Tag als etwas unheimlicher Strudel aus lauter Musik, blendender Sonne, merkwürdigen Gerüchen und Stimmen mit Kommandoton gespeichert.

Später wurden meine College-Kumpels und ich vor allem von den Stripperinnen und den Strömen von Alkohol angezogen wie Motten von flackerndem Neonlicht. Scherzhaft hieß es damals, wer groß genug war, um über den Tresen zu schauen, konnte auch einen Drink bestellen, und wir fuhren von L. A. aus hin, um lange, schmutzige Nächte damit zu verbringen, Bier und Tequila zu vernichten und von einer Lasterhöhle zur nächsten zu stolpern.

Eine unserer liebsten war das Unicornio, wo Transsexuelle tanzten. Dort brachten wir gern jemanden hin, der zum ersten Mal in der Stadt war, lehnten uns zurück und sahen genüsslich zu, wie er langsam begriff, was da gespielt wurde – oder besser noch, wie er es nicht begriff. Damals konnte einem die Stadt wie der Wilde Westen vorkommen. Alles konnte passieren, und darauf hofften wir auch. Leute wurden von tauben Barmädchen abgezogen, wurden in den Knast geworfen, weil sie in Gassen pissten, und bekamen Ärger an der Grenze, weil sie versuchten, Feuerwerkskörper, Klappmesser und Quaaludes zu schmuggeln, und wir erzählen noch heute davon.

Das letzte Mal war ich im Januar 2012 dort. Ich war gerade dabei, letzte Hand an das Manuskript von Angel Baby zu legen, und fuhr hin, um zu sehen, ob die Stadt sich seit meinem letzten Besuch vor ein paar Jahren auf irgendeine Weise verändert hatte, die sich in meinem Buch wiederfinden müsste. Außerdem wollte ich zum Hunderennen und im Rotlichtviertel eine Imbissbude ausprobieren, von der ich gehört hatte und deren Spezialität Tacos mit Hühnerhälsen waren. Recherche eben. Ich stellte mein Auto in San Ysidro ab und überquerte die Grenze auf einer brandneuen Fußgängerbrücke – Teil eines gewaltigen Bauprojekts, das die Zahl der Fahrspuren und Kontrollstationen am Übergang erhöht und dem Department of Homeland Security mehr Büroräume verschafft. Im Buch hatte ich für die dort spielenden Szenen den alten Grenzübergang beschrieben, entsprechend meiner Erinnerungen daran. Bis zur Veröffentlichung des Buchs würde die Gegend sich stark verändert haben, also musste ich einiges überarbeiten.

Als ich die Avenida Revolución erreichte, das Herz des Touristenviertels, zeigten sich schnell weitere Veränderungen. Ich wusste, dass der Tourismus aufgrund der schlechten Publicity durch Drogenkriminalität und korrupte Polizei stark eingebrochen war, war aber doch überrascht, der einzige Gringo auf der Straße zu sein. Und überhaupt einer der wenigen Fußgänger – nicht einmal Mexikaner waren zu sehen. Zwar musste ich über die Jahre bereits mit ansehen, wie einige meiner liebsten Lokale verschwanden oder durch neue Geschäfte ersetzt wurden, aber diesmal erkannte ich das Viertel kaum noch wieder.

Die meisten Restaurants waren geschlossen, und ihre ehemals überfüllten Terrassen im Obergeschoss waren mit Graffiti-bedeckten Sperrholzplatten vernagelt worden. Auch die meisten Souvenirgeschäfte waren verschwunden, und die bunten Farben der Ware in denen, die es noch gab, wirkten jetzt bettlerisch und verzweifelt. Die Stripklubs hatte man entkernt und in Apotheken umgewandelt, und dieselben schmierigen Werber, die einen früher dazu überreden wollten, sich die Mädchen anzusehen, standen jetzt in schmuddeligen weißen Kitteln auf dem Bürgersteig und vertickten Billigviagra und Vicodin. Es gab ein neues Kasino, aber niemand schien dort besonders viel Spaß zu haben.

Ich war verwirrt. Das war nicht mehr das Tijuana, von dem ich während all der Jahre geträumt und geschrieben hatte. Ich fragte mich, ob die Veränderungen so langsam vor sich gegangen waren, dass ich sie erst jetzt zu einem Gesamtbild zusammensetzen konnte, so wie bei einer Tante, die man nur ab und zu sieht, ohne je irgendetwas Neues an ihr zu bemerken, bis sie eines Tages genau im richtigen Licht steht und man innerlich ausruft: „Junge, ist die alt geworden!“ Vielleicht war ich bei den letzten Malen aber auch nur zu sehr damit beschäftigt, in der Stadt zu sein, um sie wirklich zu sehen. Oder ich habe die Veränderung absichtlich übersehen, mit der selektiven Blindheit der Nostalgie.

Was die Erklärung auch sein mag, als ich am alten Jai Alai Fronton Palace angekommen war – geschlossen seit 1998 –, brauchte ich einen Drink. Ich suchte Unterschlupf in einer cantina namens Dandy del Sur, einer finsteren, spelunkigen Überlebenden des alten Tijuana, und bestellte einen billigen Tequila.

Ich schreibe aus mehreren Gründen. Vor allem natürlich, weil ich es kann. Schreiben ist die einzige angeborene Begabung, die ich habe, weswegen ich dabei das Gefühl habe, erfüllt zu sein und zu tun, wozu ich bestimmt bin. Ein anderer Grund ist, dass mir manchmal jemand Geld für das gibt, was ich schreibe, und ich dieses Geld zum Leben brauche. Und dann ist da noch der Umstand, dass ich mich selbst lieber mag, wie ich auf dem Papier erscheine, als wie ich im Alltag bin. Das Schriftsteller-Ich ist schlauer, weiser, gütiger, lustiger und viel interessanter.

Ein weiterer Antrieb ist, dass mir das Schreiben erlaubt, meine liebsten Städte, Straßen und Gebäude in der Zeit einzufrieren und so die Entwicklung meines persönlichen Universums stillzustellen, indem ich eine Art Sammelbuch der Orte anlege, die mir gefallen haben. An diesem Tag in Tijuana jedoch brütete ich über meinen Drink gebeugt über der Einsicht, dass die Welt sich in Wahrheit schneller veränderte, als ich sie jemals festschreiben könnte, und dass jeder Ort dieser Welt schon ein anderer würde, bevor ich die Details über ihn niederschreiben könnte. Ein deprimierender Gedanke.

Die Besitzerin der cantina, eine alte Frau mit einer großen, blonden Perücke, saß am Ende des Tresens. Verblasste Fotografien, auf denen sie mit verschiedenen Leuten posierte, hingen aufgereiht an den Wänden. Auf den Bildern war sie noch jünger, und wenn ich die anderen Leute darauf hätte erkennen müssen, tat ich es jedenfalls nicht. Ich bestellte noch einen Tequila und prostete ihr zu. Sie hatte Glück, diese Schachtel voll Erinnerungen zu besitzen, diesen Wirbel im Fluss der Zeit, wo sie ihr Schicksal mit Stil und in Würde erwarten konnte, umgeben von bekannten Gesichtern und geisterhaften Lächeln.

Mir dagegen war ein weniger schöner Weg bestimmt, ein Rennen, das ich nicht gewinnen konnte: der Versuch, Menschen und Orte und Gefühle in Worte zu zwängen, die sich mit aller Gewalt dagegen sträubten. Manchmal kam es mir vor wie eine edle Aufgabe, manchmal, wie an diesem Tag im Dandy del Sur, fand ich es einfach nur töricht.

Doch es zählt immer nur, was man als Nächstes tut. Ich leerte meinen Drink, nickte der Alten zum Abschied zu und stürzte mich wieder in den Strom. Ich fand diesen Tacostand in der zona rosa und sah den Stricherinnen dabei zu, wie sie versuchten, sich Kunden zu angeln, während ich frittierte Hühnerhälse aß. Dann hatte ich ein paar Mal Glück auf der Hunderennbahn und sah einen Blinden Akkordeon spielen. Bei Sonnenuntergang überquerte ich die Brücke zurück in die USA, gerade als die Obdachlosen, die im Flussbett leben, sich um ihre Lagerfeuer versammelten.

Und am nächsten Vormittag nahm ich Notizbuch und Bleistift und fing an zu schreiben. Das Gefühl der Sinnlosigkeit hallte noch nach, aber irgendjemand musste diesen bewölkten Januarnachmittag im neuen Tijuana einfangen, oder es wenigstens versuchen. Inzwischen waren dort bereits ein paar neue Babys auf die Welt gekommen, eine alte Frau hatte beschlossen, ihr Haus rosa zu streichen, und einer der Straßenhunde war von einem Auto überfahren worden. Die Stadt war schon wieder dabei, sich zu verändern, während ich meine Notizen machte, und ich würde schnell arbeiten müssen, um alles aufzuschreiben.