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SPECIAL zu Katherine Mansfield »Rosabels Tagtraum«

„Ich lebe, um zu schreiben.“

Katherine Mansfield (1888 - 1923)

Mondschein und Nachtigallengesang waren ihr verhasst – zumindest in der Literatur. Wer war Katherine Mansfield alias Kathleen Beauchamp, die von Virginia Woolf als "die beste aller Schriftstellerinnen" bezeichnet wurde?

Im NACHWORT von Ruth Schirmer zu „Rosabels Tagtraum“ (hier in gekürzter Fassung) erfährt man mehr über sie.


Wie hat sie wohl wirklich ausgesehen? Es gibt Familienbilder von einer kleinen Dicken mit runden Brillengläsern im Schulmädchenalter in Neuseeland und die Fotografie der fünfzehnjährigen Studentin in London, leicht zurückgelehnt, in weißer Bluse, die Hände vor den Knien verschränkt, apart; Virginia Woolf, nicht frei von Neid, rügte ihre groben Züge. Spätere Aufnahmen zeigen sie mit Ponyfransen und lebenshungrigen Augen, dem leichten Silberblick, den „gu gu eyes“, wie die Lawrences sagen, dann erscheint sie an einem Tisch mit einem kleinen Buddha im Hintergrund, und dann, schon krank, schmal, mit nach Luft schnappendem Mund; und in ihrem letzten Jahr in Sierre in der Schweiz, in der Julihitze warm angezogen, mit einem Hut aus strengen, runden Rüschen, in einem Korbstuhl sitzend, hat sie den Blick auf John Middleton Murry gerichtet.

Kathleen Beauchamp
Katherine Mansfield, geboren am 14. Oktober 1888, die eigentlich Kathleen Beauchamp hieß und ihren Nachnamen Mansfield der großmütterlichen Linie entnahm, hat sich vielfach gewandelt, im Aussehen, in der Lebenseinstellung. Erlebnisbesessen wollte sie mehrere Leben kosten, durchmachen, erfahren. „Experience“ ist das Wort, mit dem D.H. Lawrence die Freundin in Liebende Frauen kenntlich macht.

In England hat sie zuerst kleine Geschichten für das College Magazine geschrieben (Über Pat) und alle äußeren und inneren Möglichkeiten – auch die lesbischer Art – entdeckt; sie beginnt die lebenslange Freundschaft mit Ida Constance Baker, der L.M. ihres Tagebuchs; vielleicht ist sie auch der sie so beeindruckenden Verwandten, der Gräfin Elizabeth von Arnim, Verfasserin von Elizabeth und ihr Garten, begegnet.

Nach einem Jahr der Ausbildung kehrt sie nach Wellington zurück zu ihrem Vater, dem Präsidenten der Neuseeländischen Bank, einem der reichsten und ihr gegenüber schäbigsten Männer – zurück zu der kränkelnden Mutter und zu den Geschwistern, von denen ihr der kleine Bruder „Chummie“ am nächsten steht.

Abgeschnitten vom englischen Kulturboden ist sie todunglücklich. Das Herz, von dem sie schrieb, es habe ein abgeschlossenes Abteil, beschriftet „Träume“, tobt sich in empörten Ausbrüchen und Sehnsüchten in ihrem Tagebuch aus. Sie erzwingt ihre Rückkehr nach England, erhält zwei britische Pfund zum Leben, wohnt in London in einem Heim für Musikstudentinnen, denn sie spielt Cello und singt, und eines Tages erscheint sie in rot-weiß gestreifter Bluse und braunem Tweedrock im Aufenthaltsraum und sagt, kalt bis in die letzte Faser und völlig unbeteiligt: „Ich habe mich soeben verheiratet.“

Der Hut
Um der Erfahrung willen… fast zufällig. Mr. Bowden ist Musiklehrer in Cambridge. Nach der Hochzeitsnacht läuft sie ihm davon. Bald darauf erwartet sie (vermutlich von dem Bruder des Jugendfreundes Caesar) ein Kind, die Familie weiß nicht, von wem; man kennt ihre Bemerkung: „Ich wüßte gern, von wem Mrs. *** ihr Kind erwartet, von Mr. *** oder von seinem Regenschirm. Ich glaube, von seinem Regenschirm.“ Ihre Mutter, Annie Beauchamp, kommt nach England gereist. Katherine erwartet sie am Bahnhof zusammen mit Verwandten, ihrem Vormund und ihrer Freundin Ida Baker, die sie noch mit einem neuen Hut ausstaffiert hat. Katherine steht ein wenig abseits, als der „boat train“ einläuft. Die Mutter begrüßt ihre Verwandten und sagt zu ihrer Tochter, um deretwillen sie zwölftausend Meilen weit gereist ist, als erstes: „Um Gottes willen, was für einen Hut hast du auf, als wolltest du auf eine Beerdigung gehen!“

Daß ein Stückchen wildes Leben mit einer so bürgerlichen Pointe endet, geht ihr nach. Der Hut – allerdings der extravagante Hut –, dessen man sich in besonderen Situationen schämt, steht am Ende der Gartenparty – Symbol geworden – zwölf Jahre später. […]

Ihre Familie verfrachtet sie nach Bayern. Dort, in Bad Wörishofen, In einer deutschen Pension, schreibt sie sarkastische Skizzen, macht durch polnische Emigranten auch Bekanntschaft mit der russischen Literatur. Beim Hochhieven ihres Koffers auf einen Schrank erleidet sie eine Fehlgeburt, die sie unendlich bedauert.

Zwischen deutscher Pension und Londoner Boheme
Nach der vorübergehenden Rückkehr zu Mr. Bowden überläßt sie sich erneut der Londoner Boheme, „Drifting, drifting …“. Das Sich-treiben-lassen hat sie ersehnt von der ersten Schiffsreise an, nach dem Woher, Wohin hat sie nicht gefragt, hat nur ihrem Instinkt vertraut – und geht nachtwandlerisch sicher den Weg dahin, wo ihr Leben sich mit der Kunst trifft, nicht stecken bleibt, sondern Ausblick bietet.

Wir finden sie in der ersten Londoner Ausstellung 1911 vor den Bildern van Goghs wieder. Die Fabier-Zeitschrift The New Age, deren erste Spalten für George Bernard Shaw reserviert sind, bringt ihre zynischen Geschichten aus Deutschland, gewandt im Erfassen leiser Schwingungen, modern durch aufblitzenden Hohn. Später, als sie während des Krieges mit einer Wiederveröffentlichung von In einer deutschen Pension hätte Geld verdienen können, hat sie diese Skizzen als unreif abgelehnt.

Dann sendet sie das Manuskript von Die Frau an der Theke an die Zeitschrift Cosmic Rhythm, die jung und voller Elan in der ersten Nummer 1911 den ersten Picasso-Druck und dann die erste Derain-Zeichnung in England bringt. John Middleton Murry, noch Student in Oxford, redigiert sie. Der Romancier W.L. George lädt beide ein. Katherine fährt im taubengrauen Abendkleid mit einer roten Blume am Gürtel im Taxi vor.

Das „Music-Hall-Paar“
Sie begegnen sich wieder. Murry ist überrascht, wie bescheiden sie haust. Er wird in einen Schaukelstuhl plaziert, während sie Tee auf dem Boden serviert und man über Literatur spricht, wie es die Erzählung Psychologie wiedergibt. Der Oxford-Student bricht sein Studium ab, um nur noch als Kritiker zu arbeiten. An einem warmen Aprilabend 1912, während sie noch um den Brunnen von Piccadilly Circus gehen, sagt Katherine, da sie immer die Führende in menschlichen Beziehungen ist: „I have a suggestion to make…“, den Vorschlag, daß er zu ihr zieht. Murry nimmt an – ein Schicksal hat sich damit entschieden. Trotz Not und zahlloser Umzüge gedeiht ihrer beider Arbeit, wird Katherine weniger zynisch, nachdenklicher, sagt indes zu einer ihrer Freundinnen, Murry könne kein Würstchen braten, ohne religiöse Probleme zu wälzen.

Durch eine Veruntreuung seitens des Mitherausgebers von Rhythm in Schulden gestürzt, mußten sie um die nackte Existenz kämpfen. Täglich erscheinen sie, Katherine in viel zu knapper Samtjacke mit schreiend orangefarbenem Schal, und Murry, der „Bogey“ (Kobold), ein schöner, dunkelhaariger Mann, in einer Kneipe, wo sie Sandwiches essen und von der Wirtin, die die beiden für ein Music-Hall-Paar hält, einen Extradrink bekommen. Sie steppen aber keineswegs trällernd über die rühmlich-unrühmlichen Bretter; Katherine schreibt unbeirrt unter fünf verschiedenen Namen Geschichten und Buchkritiken weiter für Murrys Zeitschrift. […]. Ganz falsch war der Verdacht des Music-Hall-Hintergrunds besonders in Hinblick auf Katherines schmale Gestalt nicht, hatte sie doch nicht nur Bach auf dem Cello gespielt, sondern auch in einem Chor in Liverpool gesungen, kannte alle Music-Hall-Schlager und nannte auch ihre Katze nach einem solchen „Wingley“.

Aber zu diesem Zeitpunkt der Gemeinschaft von Murry und Katherine gab es noch keine Häuslichkeit, in der man Katzen hält. Katherine hatte allein in fünf Jahren einundzwanzig Adressen. Mit Murry zog sie von winziger Wohnung zu möbliertem Zimmer, von Cottage zu Villino, in England, in Südfrankreich, in der Schweiz. Nachdem sie ihren Steinbuddha in einem Garten hatte hocken lassen und ihr Flügel zur Konkursmasse gehörte, bestand ihrer beider Habe aus Büchern, Kleidern und einigen Kissen, mit denen sie die dürftigen Zimmer ausstattete und die sie umherwarf wie Bertha in Glück. […]

Freundschaften
Ihrer beider Arbeit und Leben verleiht die Freundschaft mit D.H. Lawrence und Frieda von Richthofen nicht immer ungetrübten Glanz. Als Katherine 1914 Trauzeugin bei Friedas zweiter Hochzeit ist – sie hatte ihren Mann, Professor Weekley, und ihre drei Kinder verlassen, um dem jungen Bergarbeitersohn D.H. Lawrence zu folgen –, da gab Frieda in plötzlicher Aufwallung Katherine ihren ersten Ehering – und Katherine hat ihn bis ans Ende getragen und auch versucht, zwischen Frieda und den Kindern zu vermitteln.

Eine andere, seltsam zwischen Neid und Anerkennung schwankende Bekanntschaft kam zwischen der bohemesüchtigen Katherine und Virginia Woolf zustande. Dem Stern von Bloomsbury aber war Katherine Mansfield in solchem Grade suspekt, daß Virginia Woolf all ihre intellektuelle Wohltemperiertheit vergaß und Katherine mit einer parfümierten Zibetkatze verglich, die nur herumstreune; auch reagierte sie empfindlich auf Katherines Kritik an Die Fahrt hinaus. Sprachen sie jedoch über Henry James, so äußerte sich Katherine so erhellend, daß das als Rivalin empfundene „Strichmädchen“ als klug und unergründlich eingestuft wurde.

Ob sie bei allem Wirbel innerer und äußerer Art in England heimisch werden konnte? Eine Tagebuchstelle über rote Geranien gibt die Antwort: „Aber warum wollen sie mich fühlen lassen, daß ich eine Fremde bin? Warum wollen sie jedesmal, wenn ich ihnen nahekomme, fragen: ‚Was tust du hier in einem Londoner Garten?' Sie brennen vor Stolz und Arroganz. Und ich bin die Kleine aus den Kolonien, die in einem Londoner Garten umherläuft […]“

La grande Passion
Manchmal wurde die geträumte Einbildung auch gefährlich für den Alltag, und J.M. Murry hat es nicht immer leicht gehabt mit Katherine, die von Augenblick zu Augenblick spontan ihren Regungen folgte. Hierher gehört die nun plötzlich entwickelte Leidenschaft für seinen schriftstellernden französischen Freund Francis Carco, der Murry und sie am Gare St. Lazare in Paris in Empfang genommen und bei dessen Begrüßung die Ausländerin gesagt hatte: „Je ne parle pas français.“ Während Murry als Korrespondent der Times Literary Supplement in Paris arbeitete und Paul Valéry für England entdeckte, begleitete Carco Katherine. Nach Beendigung von Murrys Beschäftigung in Paris kehrten sie beide im Februar 1914 wieder mittellos nach London zurück.

Noch nach Ausbruch des Krieges – Murry meldet sich freiwillig, während Lawrence von einer fernen Insel des Friedens phantasiert – empfängt Katherine die Briefe des französischen Offiziers Francis Carco, auf die sie sich auszurichten beginnt. Ihr Tagebuch ist voll davon. Murry, wegen einer angegriffenen Lunge zurückgestellt, arbeitet gleichmütig zu Hause, preßt Orangen aus, ißt wieder harte Eier aus der Hand… Katherines seelische Umschwünge vermag er nicht mehr aufzufangen; sie fiebert den französischen Liebeserklärungen entgegen, gibt ihrer als „grande passion“ deklarierten Erfahrungsneugier nach und reist 1915 – mitten im Krieg – auf den Kontinent, ins Abenteuer hinein. Ihre Kutschenfahrt mit Carco an dem uniformierten Heerzug vorbei, von Paris aufs Land, und dann in ihrer Bleibe das Reden, Reden, Reden – das Darüberhinaus, die gerade fünf schlagende Uhr, während sie sich umarmen, wird zum Stoff für Eine unbesonnene Reise.

„Halt mir den Kopf hoch, Katie“
Nach fünf Tagen kehrt Katherine nach London zurück zu Murry. Mit ihm verbindet sie der kärgliche Alltag, aber auch der Lebenseinsatz für die schriftstellerische Existenz. Dann tritt das Ereignis ein, das alle früheren Gefühlsabenteuer und Ambitionen hysterisch und klein erscheinen läßt. Leslie Heron Beauchamp, ihr Bruder Chummie, einundzwanzigjährig, gerade Offizier geworden, kommt 1915, um auf dem Kontinent zu seiner Einheit zu stoßen. Im September verbringt er noch ein paar Tage in der Acacia Road 5, St. John's Wood, Katherines erster Unterkunft, die als Heim zu bezeichnen ist, und im Gespräch mit ihm wird ihre ganze Kindheit wieder lebendig, die Menschen in Neuseeland, die Blumen dort, die Gartenbank, die wackelte. Ihr Bruder ist beim Abschied sicher, daß er wiederkommen wird. Im Oktober explodiert eine Granate in seiner Hand und zerreißt ihn. Seine letzten Worte sind: „Halt mir den Kopf hoch, Katie, mir fällt das Atmen so schwer.“

Katherine ist zutiefst getroffen, alle Erlebnissucht ist vorbei. Vor diesem Ereignis schämt man sich aller Einbildungen und phantastischer Rasereien. Der Wille zu schreiben kommt einem Vermächtnis gleich: “First, my darling, I've got things to do for both of us, and then I will come as quickly as I can.”

“Things to do” – ihre und Chummies Jugend in dem unentdeckten Land heraufbeschwören. „Ich will alles aufschreiben, alles, sogar wie der Wäschekorb quietschte.“ Aus dem Verlangen heraus, liebend zu bewahren, anderen etwas Einmaliges aufzuschließen, schreibt sie von nun an.

In Südfrankreich entsteht die lange Skizze Die Aloe, nach dem Baum benannt, der vor dem Elternhaus Chesney Wold, Karori, stand. Umgearbeitet wurde daraus Prélude (1918 von Leonard und Virginia Woolf in der Hogarth Press in einer Auflage von dreihundert Exemplaren gedruckt). Der Leser wird konfrontiert mit Gesprächen, Empfindungen, Gedanken von Menschen, die in locker komponierten Szenen an flach umrissenen Orten auftauchen und verblassen. Zwar bleibt noch immer die Desillusion der Liebe ein Thema, aber weniger vordergründig. Ihre Pointen sind ferner nicht auf Witz ausgerichtet, sondern weisen ins Symbolhafte; am auffälligsten im Licht- und Hoffnungszeichen, der Lampe, die in Eine unbesonnene Reise flackert, in der Gartenparty trüben Schein verbreitet und in Das Puppenhaus, einer ihrer letzten Geschichten, tröstet.

Das Studium des Lebens
Denn Katherine ist mittlerweile krank geworden. Nach zwei Lungenentzündungen erleidet sie mit dreißig Jahren einen Blutsturz. Am 19. Februar 1918: “bright red blood”. Vier Wochen später entsteht die Titelstory der Sammlung Glück; Beseligung, Jubel, Gnade, Glück – mit bitterem Ende. „Aber tief innen war noch immer der hell glühende Fleck, der kleine Funkenschauer, der von dort herrührte. Kaum zu ertragen. […]“

Im Oktober beschreibt sie in ihrem Tagebuch eine Schnecke, die, von einem Unkrautsamen irritiert, die Fühlhörner einzieht. Der Ausbruch in die Erfahrung ist ein Aufbruch in die Verschwendung ihrer Selbst geworden: „Self effacement“, damit sich dem anonymen Ich die reine Wahrheit, die Kunst entwinden kann. „Ich verliere mich an das Studium des Lebens und gebe mein Selbst auf. Dann finde ich Ruhe.“ […]

Es beginnt der Kampf mit der Kraftlosigkeit, mit dem Unvermögen, die über sie hereinbrechenden Einfälle festzuhalten. Impressionen von Blumen in Sanatoriumsgärten, von Warteräumen, Arztgesichtern, Menschen, Erinnerungen umflackern sie beständig. „Wir ersetzen uns, wir haben schreckliche Angst“, schreibt sie, zweiunddreißigjährig, an Murry. „Das kleine Boot treibt hinaus in den dunklen, fürchterlichen Schlund, und unser einziger Schrei ist der nach Flucht. […]

Und im Mai 1919: „Ich bitte wirklich nur um Zeit, alles zu schreiben. – Ich lebe, um zu schreiben. Da ist die schöne Welt (Gott, wie schön die Welt da draußen ist!), und ich tauche darin ein und bin frischer. Doch ist mir, als hätte mir jemand eine Aufgabe gestellt, die ich unbedingt erfüllen muß. Laß sie mich beenden – laß sie mich ohne Hast beenden –, daß ich alles so schön zurücklasse, wie ich nur kann…“ Der Neuseeland-Roman bleibt Chimäre.

„Liebe erträgt keine Trostlosigkeit“
Zu ihren Aufenthalten in Cornwall, an der Riviera, in der Schweiz begleitet sie Ida Baker, selten Murry, ihr Mann (seit 1918 auch vor dem Gesetz). J.M. Murry hat seit April 1919 die Redaktion des Athenaeum inne; zu seinem Stab gehören Aldous Huxley, zu seinen Mitarbeitern George Santayana, E. M. Forster, Bertrand Russell, Virginia Woolf. […] Die Briefe der fernen Katherine quälen Murry. Sie hat nicht vergessen, wie er sich abwendete, als sie hustete. Und ihr bleiben das Alleinsein, die Schmerzen, das Blut im Taschentuch. Ihr bleibt die geschärfte Selbstbeobachtung, das Horchen auf Geräusche in fremden Zimmern. „Meine Stimmungsumschwünge sind wirklich furchtbar.“ Sie kann unausstehlich sein. Sie schreibt die traurige Erzählung Die Vergangenheit eines verheirateten Mannes in Cornwall, dann übersetzt sie mit der Hilfe des Freundes S.S. Koteliansky Tschechows Briefe fürs Athenaeum ins Englische.

Sie habe wirklich keine Illusionen mehr, notiert sie. „Aber ich liebe. Und Liebe erträgt keine Trostlosigkeit, die Einöde beharrt darauf, zu blühen, und die Blüte beharrt darauf, sich nach dem Licht zu drehen.“ Sie reist an die Riviera. Bei San Remo in einer Casetta in Ospedaletti empfängt sie ihren Vater und reiche Verwandte. Es entsteht die Geschichte der einsamen Miss Brill, ferner Der Fremde mit zwei weiteren Porträts ihrer Eltern und vor allem: In der Bucht, Teil des geplanten Neuseeland-Romans.

Im Juli 1921 begleitet Murry sie ins Wallis, nach Montana. Im „Chalet des Sapins“ umgibt sie Friede. An ihrem dreiunddreißigsten Geburtstag stellt sie Die Gartenparty fertig. Zwei Wochen später vollendet sie Das Puppenhaus, dann arbeitet sie an Das Taubennest. In jenen Monaten im Wallis liegt sie viel, hustet, schreibt, wartet auf Post, führt Tagebuch über ihre Lektüre […), im dauernden Kampf gegen das Versagen der Kräfte bei gleichzeitig überwacher Sensibilität.

An Weihnachten 1921 und in den ersten Januartagen 1922 ist Murry bei ihr, geht skilaufen und kommt leuchtend vor Winterfreude in ihre Krankenstube zurück. Sie trägt ihren Ehering jetzt am Mittelfinger, und wenn sie Tee eingießt, gleiten die Ringe ihre Finger auf und ab. Abends spielen sie Cribbage, ein englisches Kartenspiel, und ihre Gedanken wandern zurück zu anderen Kartenspielen in ihrer Kindheit in Neuseeland, wo im Nebenzimmer Klavier geübt wurde. Sie träumt von ihrer Großmutter, der unvergessenen Frau mit dem sanften Mittelscheitel. In Die Seereise ist Fenella ihr eigenes, immer jung bleibendes Ebenbild geworden. […]

Vergebliche Sehnsucht
Dabei schneit es draußen, die Tage sind kalt, und sie sieht die Eiszapfen, wie sie im letzten Abendlicht opalfarben glitzern. Sie beobachtet die Vögel an der hingehängten Kokosnuß vor Murrys Balkon, sie beschreibt ausführlich das Piepsen eines seltenen Vögelchens und erwähnt es, wenn Wingley, die Katze, einen Satz macht. Dazwischen Notizen über Vollbrachtes und Nichtvollbrachtes. […] Dann wieder: Fiebermessen, Husten, Schonkost, Bauchschmerzen. Im Februar 1922 vollendet sie Die Fliege. Die Fliege, die zu Tode gequält wird – ihre vielleicht beste Erzählung.

Nach kurzer Rückkehr nach England mit der wie immer vergeblichen Sehnsucht nach einem Zuhause klammert sie sich an eine letzte Rettungschance auf psychotherapeutischem Weg, verfällt den Ideen des Kaukasiers Gurdjieff, der ein „Institut zur harmonischen Entwicklung des Menschen“ außer in Moskau, Berlin, Dresden nun auch in Fontainebleau unterhält.

Katherine überquert, gegen Murrys Willen, im Oktober 1922 zum letzten Mal den Kanal, reist nach Fontainebleau zu Gurdjieff, der sie erdnah, stallverbunden, Kuhmilch trinkend existieren läßt. Sie friert. Ihre russischen Vokabeln betreffen Feuer, Wärme, Streichholz, Kamin. Ihres Krankheitsgrades völlig gewärtig, schreibt sie: „Mit Gesundheit meine ich die Lebenskraft, ein volles, reifes, atmendes Leben zu leben in engem Zusammenhang mit allem, was ich liebe – der Erde und ihrer Wunder, dem Meer, der Sonne –, mit allem, woran wir denken, wenn wir von Außenwelt reden. […] Und dann möchte ich arbeiten. Woran? Ich möchte so gerne leben, um mit meinen Händen, meinem Gespür, meinem Kopf zu arbeiten. Ich möchte einen Garten, ein kleines Haus, eine Wiese, Tiere, Bücher, Musik. Und aus dem heraus, aus der Umgebung heraus möchte ich schreiben…“

Die letzte Geschichte
Katherines Betrachtungen ihrer selbst und der Natur sind auf anderer Ebene wie Gebete. Ein Mensch, der nicht jammert, nicht resigniert, immer noch Freude sucht, in die Sonne möchte wie eine Pflanze. Sie selbst gewinnt etwas Pflanzenhaftes; das Auslugen nach Stern und Schneeflocke, nach dem Wassertropfen, der Blume hat ein Maß an Allverbundenheit, das an Keats erinnert, der von sich sagte, und beschriebe er einen Apfel, so verwandele er sich in einen Apfel, spüre Frucht und Schale und Kern. So sagt Katherine, während sie Der Kanarienvogel schrieb, sei sie selbst die ganze Zeit über ein kleiner Vogel im Käfig gewesen; aber tief in ihr sang es. Und das ist das Wunderbare: Sie verweilt nicht beim Schatten, beim Tod, der mit schweren Atemzügen, den Blutspritzern, der Schwäche dauernd gegenwärtig ist – bei aller Not überwiegt das Klingen; so wie in dem einsamen Leben der alten Frau in Der Kanarienvogel, ihrer letzten Geschichte.

In Fontainebleau, wo man mit sechzig Personen an Weihnachten tafelte, bereitete man eine Theateraufführung zum russischen Neujahrstag am 13. Januar vor. An Silvester 1922 hatte Katherine eilends an Murry, ihren „Bogey“, geschrieben, er möge am 8., spätestens 9. Januar kommen; und er reiste zu ihr, wie schon so oft, und kam pünktlich an.

Während am Abend unten der Tanz beginnen sollte und er sie die Treppe hinaufbrachte, erlitt sie einen Blutsturz. Am 9. Januar 1923 spätabends war ihr Leben zu Ende. Aber der Glanz, den sie über ihre Geschichten getupft hat, bleibt. Die kleine Lampe, die schon die Großmutter in der Bucht angezündet hat und die im Puppenhaus auf dem Eßzimmertisch steht, sie brennt.

Ruth Schirmer

Textauszug aus
Katherine Mansfield: Rosabels Tagtraum