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SPECIAL zu David Peace

RAINING STONES

David Peace’ monumentaler Geschichtsroman »GB84«

Wir müssen uns David Peace als einen zornigen Menschen vorstellen. Einen Menschen von gut sechszehn Jahren, der in einer nordenglischen Punkband spielt und die Gagen an diejenigen weitergibt, die jede Unterstützung bitter nötig haben. Er tut, was er kann, um gegen die soeben von der Kette gelassenen Bluthunde des Kapitalismus anzukommen – losgelassen hat sie die britische Regierung. Wir befinden uns im März des Jahres 1984. Nahezu einhundertdreißigtausend Bergarbeiter werden in den kommenden dreiundfünfzig Wochen ihre Arbeit niederlegen. Das letzte große Aufbegehren eines kompletten Berufstandes. Der Bergbau – das identifikatorische und ökonomische Rückgrat der Region um Yorkshire, Kent und Sheffield – wird so nüchtern wie entschlossen unter den Aspekten der liberalisierten Privatwirtschaft neu strukturiert. Zwanzig Zechen sollen geschlossen, über zwanzigtausend Kumpel entlassen werden. Der kleine, profitable Rest der Kohleminen ist zur Privatisierung freigegeben. All dies geschieht, weil Margaret Thatcher sich nach einer so kompromisslos wie erfolgreich geführten Auseinandersetzung um die Falklandinseln vornimmt, auch nach innen mit aller kalkulierbaren Härte politische Ziele durchzuprügeln.

Nicht nur das Fortbestehen eines zutiefst britischen Wirtschaftszweiges steht daher auf dem Spiel, sondern auch eine zutiefst britische Wirtschaftsfigur: der Industriearbeiter – mit handwerklich erworbener Würde und gewerkschaftlich organisiertem Schutz. Damals beginnt in Großbritannien ein Prozess der alles durchformenden Deregulierung des ökonomischen Marktes. Heute existiert dort praktisch kein Bergbau mehr. Manche sagen, der Neoliberalismus habe das Unvermeidliche beschleunigt. Manch andere hingegen knöpfen das karierte Hemd hoch zu, binden die schwarzen Halbstiefel eng und haken sich bei den Streikposten ein. Arthur Scargill, als Chef der größten Bergarbeitergewerkschaft, jedenfalls ruft dazu auf. Genau zehn Jahre zuvor hat er sich im Arbeitskampf durchsetzen und den damaligen konservativen Premierminister in den Rücktritt treiben können. Doch hat sich mittlerweile Entscheidendes getan. Die Solidarität war einst die Zärtlichkeit der Völker. Hier aber unterstützt die Sowjetunion die britische Bergarbeitergewerkschaft finanziell, um zugleich der Regierung Thatcher jene Kohle zu verkaufen, die ihr durch den Streik fehlt. Grenzen lösen sich auf, Haltungen kommen abhanden. Nicht nur geht mit dem Neoliberalismus ein neues Gespenst durch Europa, auch lässt sich die eisige Premierministerin um keine Ausdauer der Welt in die Knie zwingen. Eher werden 1,6 Milliarden Pfund zur Destabilisierung und Bekämpfung des Streiks aufgebracht. Eher werden streikende Arbeiter systematisch kriminalisiert, wird das Recht auf Bewegungsfreiheit rigoros eingeschränkt, werden die Familien der Kumpel bedroht, Telefongespräche belauscht und Sozialleistungen eingefroren. Weite Teile der Medien suggerieren in mit Kalkül zusammengeschnittenen Fernsehbeiträgen eine Gewalteskalation seitens der Arbeiter, obgleich nicht selten ein Agent Provocateur den ersten Stein wirft. Hier und heute soll klargestellt werden, wer die erste Macht im Staat ist.

Den blutigen Höhepunkt erreicht der Streik bereits am 18. Juni 1984 mit dem »Battle of Orgreave«. Im Vorfeld dieses sich ins national-mythische Gedächtnis gesenkten Tages versuchen Streikende, eine Kohlelieferung für ein Stahlwerk zu blockieren, immer mehr Kumpel strömen herbei, bald sind es wohl sechstausend, die ihrerseits auf gut achttausend lederschwarze, häufig berittene Polizeibeamte treffen. Zwei Handgriffe ins digitale Bildarchiv unserer Zeit genügen, und jeden fühlenden Menschen packt der kalte Grusel ob der Wucht von Schlagstöcken und des Horrors in den Augen der Bergarbeiter. »Man kam sich vor wie im Bürgerkrieg«, wird David Peace als einer der Beobachter jener Tage später sagen. Doch weiß der Text hier mehr als der Autor. Ein fiktionaler Kumpel nimmt das Geschehen so wahr:

T-Shirts und Haut gegen Acrylglas und Leder – Wir hatten Pullover um unsere Hüften gebunden. Drückten die Gesichter gegen ihre Schilde – Knüppel senkten sich. Rippen und Schienbeine wurden im Gedränge getroffen. Rippen und Schienbeine – Scheiße. Ziegelsteine und Stöcke über unseren Köpfen. Ziegel und Stöcke – Verdammt. Es war wieder so weit. Und wie – Schwarz. Blau. Blutrot. Die Farben des Krieges – Dann gab die Polizeireihe nach. Der Boden bewegte sich – Wie das Ende der Welt – Hufe schmeckten Erde, Hufe bissen, kauten, fraßen Erde – Sie kamen, sie kamen, sie kamen – Der Krach allein. Stiefel und Steine. Fleisch und Knochen – Wir zogen los. Wir zogen los.

Peace hat als äußeres Gerüst seinen riesenhaften Roman in 53 Kapitel untergliedert, eines für jede Streikwoche. Diesen Kapiteln vorangestellt ist je eine Seite, auf der alternierend zwei streikende Arbeiter – Martin und Peter – zu Wort kommen. Einer wurde hier eben zitiert. Vielleicht sind diese kurzen und immer wieder unterbrochenen Passagen mit das Stärkste, was die britische Literatur – im Versuch, einen einzelnen Menschen durch dessen Bewusstseinsabbildung zu beschreiben – seit Sarah Kane hervorgebracht hat. Wie schon bei ihr, wird der Leser einer fiebrigen Intensität ausgesetzt, in einen Wahrnehmungsstrom getaucht und einer schier atemlosen Erwiderung des Erlebten überlassen. Selten kann man so flirrend an der Gefühlslage eines Einzelnen teilhaben. Erst hier kann man die Ohnmacht des Kumpels verstehen, seine Angst begreifen, seinen Hass – und das ist nicht gut – wachsen sehen. Dennoch bildet sich dem Leser auch eine Alltagswelt vor Augen ab, die einen rotzigen Charme beschreibt, die vom Drang erzählt, bestehen zu wollen und das Leben in seiner versteckten Güte zu erfahren. Wie dieses Leben zwischen Drangsal und Menschlichkeitsbewahrung ganz praktisch aussehen mag, kann man ähnlich gut in den frühen Filmen von Ken Loach sehen, bei denen man auch versteht, was geschieht, wenn ein Staat sich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen hat, wenn Verfall und Selbstbehauptung als tägliche Boten durch die Straßen ziehen.

Aber die Welt der Arbeiter ist nur der kleinere Teil des Romans, so wie auch die Welt der mächtigen, der historisch verbürgten Protagonisten – und das ist der wahre Kunstgriff des Autors – nur hintergründig die Szenerie umfängt. Im größeren Teil widmet sich Peace vielmehr einem fiktionalen Personal der zweiten Ebene: Mittelsmänner und Geheimdienstler, Schergen und Schläger. Auf dieser Erzählebene durchmengt sich die nacherzählte Realität zu einem tiefen und tristen, kaum Identifikationsfiguren anbietenden, Wahrnehmungsnebel, undurchschaubar wie die vom Kumpel verlassene Kohlemine. Wir begleiten Terry Winter, einen Aspirin schluckenden Gewerkschaftsfunktionär, völlig manipuliert von einer Regierungsagentin. Oder wir folgen Stephen Sweet, dem geldglatten Adlatus Thatchers, der nach einem geglückten Winkelzug gegen die Gewerkschaft in seinem Hotelzimmer Hayek zitierend onaniert. Wir erleben Neil Fontaine, dessen korrumpierten Handlanger aus der Arbeiterschicht. All diese Figuren durchleben ihre eigenen Rachearien, finden kaum Zugang zu einer eindeutigen Realität. Wir hören sie in kantenscharfen Sätzen sprechen, sehen sie in raschen Perspektivwechseln. Rede und Gedanke, Radiostimme und Musiktitel überlagern sich in diesem irrsinnig vorantreibenden Textrausch. Deutlich wird, wie uneinsehbar jede Gegenwart den Einzelnen überkommt, wenn nicht wenigstens eine unverrückbare Idee den Horizont in der Waage hält. So aber zerschinden sich die Figuren im Laufe des Romans immer mehr an einer verlorenen Suche nach dem rechten Handeln, versacken wie in einer übergroßen Abraumhalde Kohleschutts und steigen allesamt schwarz hervor. Schwarz von Taten und Untaten. Geschichte ist der Dreck, der bleibt. David Peace hat ihn aufgeschrieben.

Ronny Müller