Yrsa Sigurdardóttir: Schnee

Die eisigen Weiten Islands – sagenhaft schön und gnadenlos tödlich.

Bestsellerautorin YRSA entführt uns in eine Welt, in der nichts ist, wie es scheint.
Was zwang vier Freunde, sich mitten im harten Winter ins isländische Hochland zu begeben, in Dunkelheit und Schneesturm? Ein Rettungsteam findet in der abgeschiedenen Gegend auf der Suche nach den Vermissten nur ihre Kleidung. Woher kommt die rätselhafte Stimme, die in der einsam gelegenen Radarstation in Stokksnes erklingt? Und was hat es mit dem jahrzehntealten Kinderschuh auf sich, der bei einem Hausverkauf gefunden wird?
Was ist Einbildung, was Realität?

Angesiedelt in der grandiosen isländischen Landschaft, beschreibt die Ikone des skandinavischen Thrillers Yrsa Sigurdardóttir, wie uns das Gehirn in Ausnahmesituationen täuschen kann.

»Wie ein Geysir, der ausbricht. Zuerst scheint alles ruhig, dann beginnt es zu brodeln, dann zu kochen, und schließlich brechen die Wände ein, und die Hölle bricht los.« Morgunbladid

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Die Frau auf der Treppe sah ganz anders aus, als Kolbeinn sie sich am Telefon vorgestellt hatte. Die tiefe Stimme passte nicht zu ihrer schlanken Figur und ihrer freundlichen Ausstrahlung. Er hatte eine viel verlebtere Person erwartet, mit Zigarette im Mundwinkel und einem Wodka-Flachmann in der Jackentasche. Die Frau, die vor seiner Haustür stand, trank bestimmt lieber Spinat-Smoothies als Alkohol und rauchte garantiert nicht. Als sie ihren Namen sagte, bestand jedoch kein Zweifel, dass es sich um die Frau handelte, die ihn angerufen hatte.
»Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Ich hatte erst jetzt was in der Stadt zu erledigen.« Sie gab ihm einen schweren, ausgebeulten Pappkarton, wahrscheinlich voller Bücher.
»Wir haben ihn, wie gesagt, auf dem Dachboden gefunden. Hinter einem Stapel alter Dämmplatten. Deshalb haben Sie ihn bestimmt übersehen, als Sie das Haus leergeräumt haben.«
Kolbeinn entschuldigte sich dafür, dass sein Bruder und er den Dachboden nicht genauer durchforstet hatten. Die Frau nahm es ihm nicht übel und entgegnete, das sei doch kein Problem. Sie hätte selbst ein Fahrrad im Fahrradkeller vergessen, als ihr Mann und sie aus ihrer alten Wohnung ins Haus seines Vaters gezogen seien. So was passiere jedem mal.
Der Karton war ganz eingestaubt, und Kolbeinn stellte ihn ab. Auf der Vorder- und Rückseite prangte der Schriftzug einer Margarinenmarke, die nicht mehr auf dem Markt war oder die er jedenfalls noch nie im Laden gesehen hatte. Der Karton musste vor Jahrzehnten gepackt worden sein.

Plötzlich fiel der Frau noch etwas ein. »Ach ja, ich weiß nicht, ob Sie das interessiert, aber den wollte ich nicht wegschmeißen.« Sie zog eine kleine durchsichtige Plastiktüte mit einem braunen undefinierbaren Gegenstand aus ihrer Anoraktasche und hielt sie ihm hin.
»Das ist ein Schuh. Wir haben ihn im Herbst gefunden, als wir für unsere Terrasse im Garten ein Loch ausgehoben haben. Der gehörte bestimmt Ihnen oder Ihrem Bruder.«
Wenn man genau hinsah, konnte man in der Plastiktüte einen Schuh ausmachen, und zwar einen braunen Schnürschuh aus Leder für Kleinkinder. Wobei nicht erkennbar war, ob es sich um seine ursprüngliche Farbe handelte, vielleicht war er mal schneeweiß gewesen. Die Schürriemen hatten sich jedenfalls verfärbt und waren jetzt braun wie die Erde, in der er gelegen hatte.
Unabhängig von der Farbe galt für den Schuh dasselbe wie für die Margarinenmarke: Kolbeinn hatte ihn noch nie gesehen. Was nicht viel besagte, denn er hätte einem Kind von höchstens drei oder vier Jahren gepasst, und Kolbeinn erinnerte sich an nichts aus dieser Zeit. Womöglich hatte der Schuh tatsächlich ihm gehört, jedenfalls bestimmt jemandem aus der Familie oder einem Kind, das bei ihnen zu Besuch gewesen war. Seine Eltern hatten das Haus gebaut, und der Schuh hatte ja wohl nicht auf dem Grundstück gelegen, als sie es übernahmen.

Kolbeinn hob den Kopf und blickte der Frau ins Gesicht. »Danke, das ist ja witzig.« Er hatte den Eindruck, dass sie enttäuscht war, weil er nichts weiter zu diesem antiken Fund zu sagen wusste. Vielleicht hatte sie eine spannende Geschichte darüber erwartet, wie der Schuh verloren gegangen war, aber die gab es nicht. Kolbeinn bemühte sich, noch etwas Freundliches hinzuzufügen.
»Der wurde bestimmt lange gesucht. Damals hatten wir noch nicht so viele Klamotten und Schuhe.« Er drehte die Plastiktüte in der Hand und musterte den Kinderschuh.
»Wie ist der bloß in den Boden gekommen? Als mein Bruder und ich aufwuchsen, war der Garten längst bepflanzt.«
Die Frau nickte.
»Ja, schon seltsam. Andererseits auch nicht, wir haben ihn nämlich direkt neben dem Fahnenmast gefunden. Wahrscheinlich ist er in das Loch für das Fundament gefallen, und niemand hat es bemerkt.« Sie warf ihm einen leicht panischen Blick zu.
»Wir haben den Fahnenmast abgebaut. Ich hoffe, das ist für Sie in Ordnung.«
Er grinste.
»Ja, klar. Das Haus gehört jetzt Ihnen, und Sie können tun und lassen, was Sie wollen. Der Fahnenmast war nicht besonders beliebt, zumindest nicht bei meiner Mutter. Sie hat mir mal erzählt, dass sie nur ein einziges Mal geflaggt haben, und zwar auf halbmast. Aus welchem Anlass, weiß ich nicht, aber sie meinte, sie hätte meinen Vater hundertmal gebeten, ihn abzubauen.«
Die Frau wirkte erleichtert.
»Wenn er ihn selbst aufgestellt hat, verstehe ich gut, dass er ihn nicht wieder abbauen wollte. Wir brauchten einen kleinen Kran, um das Fundament zu entfernen, ein Ölfass mit Zement.«
Das überraschte Kolbeinn nicht. Sein Vater war bekannt dafür gewesen, keine halben Sachen zu machen, sowohl auf See als auch an Land. Wenn er einen Fahnenmast aufstellte, dann würde dieser Mast alle vorstellbaren Unwetter überstehen – und auch alle unvorstellbaren.

Sie plauderten noch ein wenig über dies und das. Er fragte sie, wie es ihr in Höfn gefalle, und sie sagte, sie sei sehr zufrieden. Dann fragte sie ihn, ob er vorhabe, noch mal in den Osten zu ziehen, und er antwortete, das könne er sich nicht vorstellen. Er sei längst zum Städter geworden, er sei ja schon als Kind nach Reykjavík gezogen, nach der Scheidung seiner Eltern.
Dann gingen ihnen die Gesprächsthemen aus. Ihre Wege hatten sich nur gekreuzt, weil sein Bruder und er dem Ehepaar das Haus ihres Vaters verkauft hatten. Während der Abwicklung hatten sie die Käufer kein einziges Mal getroffen und alle Formalitäten einem Immobilienmakler in Höfn überlassen. Möglicherweise wäre der Verkauf schneller über die Bühne gegangen, wenn sie sich intensiver darum gekümmert hätten, aber sie hatten es beide nicht eilig gehabt. Ihr Vater war recht wohlhabend gewesen, und es hatte keine Dringlichkeit bestanden, das Haus und die Wertgegenstände zu veräußern. Bei der Abwicklung hatten sie lediglich dem Verkauf zugestimmt und die Verträge unterzeichnet. Ihr Vater war tot, und ihre Mutter besaß keine Anteile mehr an dem Haus. Was allerdings nicht viel geändert hätte, denn sie konnte wegen ihrer fortgeschrittenen Demenz kaum noch etwas machen. Sie hätte noch nicht einmal gewusst, wie sie den Stift halten sollte, um den Kaufvertrag zu unterzeichnen, falls sie überhaupt noch ihren Namen schreiben konnte.
Nach einer kurzen, verlegenen Pause fragte Kolbeinn, ob er ihr einen Kaffee anbieten könne, aber die Frau lehnte dankend ab und sagte, sie habe eine lange Fahrt vor sich und müsse los, solange es noch hell sei. Er bedankte sich für den Karton und den Schuh, und dann verabschiedeten sie sich.

Kolbeinn blickte der Frau hinterher und winkte ihr aus der Türöffnung noch einmal zu, als sie ins Auto stieg. Dann zog er die Haustür zu, die Plastiktüte noch immer in der Hand. Es war nett von ihr gewesen, den Schuh nicht einfach wegzuwerfen, aber im Grunde war es nur eine Frage der Zeit, wann er es selbst tun würde. Er machte sich nicht viel aus altem Krempel, und ein Kinderschuh, der jahrelang im Erdboden gelegen hatte, gehörte eindeutig in diese Kategorie.
Vielleicht konnte sein Bruder etwas damit anfangen, vielleicht war es ja sein Schuh gewesen. Sie hatten beide nicht viel aus dem Nachlass behalten, weil ihnen die Gegenstände und Möbel ihres Vaters nicht besonders wichtig waren. Nachdem sie mit ihrer Mutter nach Reykjavík gezogen waren, hatten sie nur gelegentlich Kontakt zu ihm gehabt und verbanden mit diesen Dingen kaum Erinnerungen. Das war ihnen klar geworden, als sie zusammen in den Osten gefahren waren, um das Haus leerzuräumen. Deshalb hatten sie auch entschieden, es zu verkaufen und den meisten Hausrat zu entsorgen.
Sie hatten ungefähr genauso viel behalten wie diese eine Kiste und nun diesen Kinderschuh.

Kolbeinn fischte den Schuh aus der Plastiktüte. Das eingetrocknete Leder verströmte einen modrigen Geruch nach Erde. Der Schuh war hart und die Schnürriemen steif, fast so, als wäre es der Abguss eines Schuhs. Kolbeinn drehte ihn hin und her, aber er kam ihm nicht bekannt vor. Erst als er in das Schuhinnere schaute, kam ihm eine Erinnerung an seine Kindheit.
Oberhalb der Ferse ließ sich ein Stoffschildchen erahnen, und mit genau solchen Schildchen hatte seine Mutter alle ihre Kleidungsstücke bis weit in die Teenagerzeit gekennzeichnet. Darauf standen ihre Namen, damit nichts verloren ging, wenn sie mal etwas vergaßen oder liegenließen.
Der Schuh gehörte also wahrscheinlich seinem Bruder oder ihm. Kolbeinn kratzte an dem Schildchen herum, in der Hoffnung, dass die roten aufgestickten Buchstaben zum Vorschein kämen, aber vergeblich. Dabei schabte der Schnürsenkel über den Schuh, und die ursprüngliche Farbe des Leders blitzte auf.

Kolbeinn zuckte zusammen. Wenn ihn nicht alles täuschte, war der Schuh rosa. Völlig ausgeschlossen, dass er seinem Bruder oder ihm gehört hatte. Auch wenn Kinder heutzutage nicht mehr unbedingt farblich nach Geschlecht eingekleidet wurden, war das in der Generation seiner Eltern noch anders gewesen. Besonders bei seinem Vater. Er hätte seinen Söhnen niemals rosafarbene Schuhe gekauft, zumal er wesentlich älter und noch altmodischer gewesen war als ihre Mutter.
Aber warum hatte seine Mutter die Schuhe eines fremden Mädchens markiert? Es war so gut wie ausgeschlossen, dass das jemand anders gewesen sein könnte. Seine Mutter war die Einzige, die Kleidung auf diese Weise kennzeichnete – andere Mütter schrieben, wenn überhaupt, mit Filzstift die Namen hinein. Das wusste Kolbeinn noch, weil sein Bruder und er in der Schule deswegen gehänselt wurden. Andere Mütter hatten etwas Besseres mit ihrer Zeit anzufangen, als die Namen ihrer Kinder auf winzige Stoffstreifen zu sticken.
Kolbeinns Neugier war geweckt. Er beschloss, die Erde von dem Schildchen abzuwaschen, vielleicht konnte man dann den Namen lesen.

Während er den Schuh im Spülbecken bearbeitete, wurde das Wasser immer bräunlicher. Seine Finger waren schon fast taub, als er endlich meinte, einen Teil der Schrift zu erkennen.
Der erste Buchstabe war eindeutig ein S. Dann kam entweder ein A, ein E oder ein O. Danach ein L, gefolgt von zwei undefinierbaren Buchstaben und am Ende wahrscheinlich ein R. Er brauchte nicht lange, um auf passende Frauennamen mit sechs Buchstaben zu stoßen, die mit S anfingen und mit R aufhörten. Im Namensverzeichnis im Internet standen nur zwei: Salvör und Sólvör.
Kolbeinn musterte den Schuh.

Salvör.

Der Name sagte ihm etwas. Doch trotz aller Bemühungen entglitt ihm die Erinnerung immer wieder, wenn er sie herauf beschwor, so als wolle er Staub zu fassen bekommen.
Kolbeinn legte den Schuh auf die Abtropffläche und sah zu, wie das braune Wasser im Abfluss versickerte. Er hatte ein merkwürdiges Gefühl und versuchte alles zu verdrängen, was mit dem Namen zusammenhing. Wenn man sich nicht auf eine Erinnerung versteift, taucht sie manchmal von selbst wieder auf, wie ein Kind, das sich erst für einen interessiert, wenn man es einfach ignoriert.

In diesem Moment klingelte Kolbeinns Handy. Es war die Pflegerin aus dem Heim seiner Mutter. Sie beschwor ihn, sofort zu kommen, seine Mutter habe vermutlich einen Herzinfarkt gehabt, und es sei unklar, wie es weitergehe.
Das Leben seiner Mutter war schon lange nicht mehr annähernd so, wie man es sich als gesunder Mensch wünschte, und in den letzten Monaten war es stetig bergab gegangen. Trotzdem hatte Kolbeinn einen solchen Anruf auf keinen Fall gewollt. Er stammelte etwas, während er um Fassung rang, und sagte dann, er sei schon unterwegs.
»Informieren Sie Ihren Bruder?« Als Kolbeinn bejahte, fügte die Pflegerin noch hinzu: »Und Ihre Schwester. Ihre Mutter möchte unbedingt, dass sie kommt. Man kann sie zwar schwer verstehen, aber seit dem Infarkt wiederholt sie das immer wieder. Bitte informieren Sie also auch Ihre Schwester.«
»Meine Schwester?«
»Ja.« Die Krankenschwester stutzte. »Salvör. Sie möchte ihre Tochter Salvör sehen.«

Hochspannung mit James-Bond-Stimme Dietmar Wunder

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Die SPIEGEL-Bestseller-Autorin:

Yrsa Sigurdardóttir
© Silla Pals

Yrsa Sigurdardóttir

Yrsa Sigurdardóttir, geboren 1963, ist eine vielfach ausgezeichnete Bestsellerautorin, deren Spannungsromane in über 30 Ländern erscheinen. Sie zählt zu den »besten Kriminalautoren der Welt« (Times). Sigurdardóttir lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Reykjavík. Sie debütierte 2005 mit »Das letzte Ritual«, einer Folge von Kriminalromanen um die Rechtsanwältin Dóra Gudmundsdóttir. DNA ist Start einer neuen Serie um die Psychologin Freyja und Kommissar Huldar von der Kripo Reykjavik.

Übersetzt wurde "Schnee" von Tina Flecken.