Sie haben sich erfolgreich zum "Mein Buchentdecker"-Bereich angemeldet, aber Ihre Anmeldung noch nicht bestätigt. Bitte beachten Sie, dass der E-Mail-Versand bis zu 10 Minuten in Anspruch nehmen kann. Trotzdem keine E-Mail von uns erhalten? Klicken Sie hier, um sich erneut eine E-Mail zusenden zu lassen.

SPECIAL zu Rolf Bauerdick

Über den Zauber des Ostens, die Einsicht in Irrtümer und die Kunst der Verhüllung

Ein Gespräch mit Rolf Bauerdick über seinen Roman

Herr Bauerdick, Ihr Roman Wie die Madonna auf den Mond kam entführt die Leserinnen und Leser in eine ebenso unbekannte wie spannende Welt im Herzen Europas. Das fiktive Baia Luna ist zwar nur ein kleines Dorf in den Karpaten, dennoch findet sich darin, wenngleich gebrochen, die weite Welt wieder. Was hat Sie bewogen, Ihren Roman in so einem entlegenen Dorf spielen zu lassen?

Baia Luna ist ein überschaubarer Kosmos, der wie ein Spiegel funktioniert und so ein halbes Jahrhundert Weltgeschichte reflektiert. Freilich durch eine Brille aus Unwissenheit und Weltfremdheit. In dieser Verzerrung ist es möglich, die Geschichte des Kalten Krieges in einem ungewohnten Licht zu zeigen, beginnend mit dem Sputnikflug, dem Wettlauf um die Eroberung des Weltalls bis hin zum Fall des Eisernen Vorhangs 1989. Seit dem Mauerfall habe ich als Journalist und Fotograf über hundert Reportagereisen nach Mittel- und Osteuropa unternommen. Dabei habe ich die Metropolen gemieden und bin lieber zu den Menschen aufs Land gefahren. Das imaginäre Baia Luna ist ein typisches Dorf im rumänischen Siebenbürgen, in dem sich ungezählte reale Orte verdichten, die ich in den vergangenen zwanzig Jahren besucht habe. Das konfliktfreudige Völkergemisch aus Rumänen, Ungarn, deutschstämmigen Sachsen und Zigeunern lud geradezu ein, im Schattenreich des Sozialismus eine dramatische Geschichte zu entwickeln, voller Tragik, aber auch voller Komik.

Woher kommt Ihre Faszination für die Menschen in Osteuropa?

Schon bei meinen ersten Besuchen dort habe ich mich sofort zu Hause gefühlt. Und bei aller Erdenschwere – die Offenheit der Menschen ist wohltuend, wie auch ihr Humor, ihre Gastfreundschaft und ihre Herzlichkeit. Als Journalist haben mich immer die Menschen in den Hinterhöfen fasziniert, die nicht Geschichte machen, sondern sie erdulden. Als Fotograf sprechen mich Gesichter an, in denen das Leben seine Spur hinterlassen hat, ehrliche Gesichter, nicht glatt, satt und notorisch gelangweilt wie in den Wohlstandskulturen. Zwar wirkten die Menschen im Osten nach dem Zusammenbruch des Kommunismus oft müde und grau, wie aus der Zeit gefallen, doch sie waren auch geprägt vom Hunger nach Leben. Und das genau ist der Stoff, der Spannung birgt und den es zu erzählen lohnt.

Die Figuren in Wie die Madonna auf den Mond kam sind ungemein lebendig und plastisch. Sie könnten der Gedankenwelt von Gabriel García Márquez entsprungen sein. Oder einem Zigeunerfilm von Emir Kusturica.

Stimmt. Ich liebe den opulenten Bilderreichtum und die pralle Welthaltigkeit. Bei aller Sympathie für die Dramaturgie packender Thriller mag ich das Tragikomische, das Absurde und die Überzeichnung der Wirklichkeit. Allerdings, irreale magische Fantastereien interessieren mich nicht. Das Erzählte, wie abstrus auch immer, muss sich für mich im Spektrum des Möglichen aufhalten. Das Groteske passiert ja tatsächlich. Gerade im Osten habe ich immer wieder unglaubliche Menschen getroffen, die keine Literatenfantasie erfinden kann.

Seit fast zwanzig Jahren dokumentieren Sie das Leben der Roma. Es heißt, kein Fotograf sei den Zigeunern so nahe gekommen wie Sie. War das die Voraussetzung, eine so skurrile, aber auch wunderbare Romanfigur zu schaffen wie den Zigan Dimitru? Als Hüter der verwaisten Pfarrbücherei wird er in Baia Luna ein Schlauschwätzer geschimpft, doch ist er nicht eher ein weiser Narr?

Dimitru ist ein Schlitzohr, ein durchtriebener Schalk und ein Meister der Verstellung. Es war wirklich die pure Freude, ihn zu erfinden. Er ist die Quintessenz ungezählter Begegnungen mit den Roma, bei denen die Gesetze der Logik oft kopfstehen. Klug ist Dimitru in dem Sinn, dass er Einsicht in seine Irrtümer hat. Allerdings nur, um gleich in den nächsten Irrtum zu stürzen. Dimitru ist ein Mensch, der ständig das Ziel verfehlt. Er verschießt viele Kugeln, trifft aber nie ins Schwarze. Immer nur knapp daneben. Doch gerade deshalb weiß niemand besser als er, wo das Zentrum ist.

Dimitru glaubt an Engel und Teufel. Er nimmt das Dogma der leiblichen Aufnahme Marias in den Himmel wörtlich, um den Verbleib der Gottesmutter zu erforschen. Wie vermeiden Sie, dass er wie ein religiöser Eiferer daherkommt?

Dimitru ist ein freier Geist, kein Fundamentalist. Er will nicht glauben, sondern verstehen. Und wie Sokrates ahnt er, dass er im Grunde nichts weiß, je tiefer er bei seinen theologischen Studien in die Materie eindringt. Der Fundamentalist hingegen hört nur das Echo der eigenen Stimme und beruft sich auf einen Glauben, der Antworten, aber keine Fragen mehr kennt. Dimitru dagegen ist der ewig Suchende, der Erlösungsbedürftige, der weiß, dass er aus eigener Kraft in dieser Welt nie eine Antwort findet.

Wie die Madonna auf den Mond kam spielt im fiktiven Transmontanien vor dem Hintergrund des an Weihnachten 1989 hingerichteten rumänischen Staatschefs Nicolae Ceausescu. Dennoch betreibt der Roman mit dem Conducator ein Verwirrspiel. Man weiß nie: Was sind Fakten? Was ist Erfindung?

Das Leben des Ehepaars Ceausescu ist natürlich eine Fundgrube für Historiker. Mehr noch für Literaten. Dass ein Staatspräsident von Hofdichtern als Schatzkammer der Weisheit besungen wird oder als Titan, der selbst der Sonne trotzt, ist mit nackten Fakten der Geschichtsschreibung ja nicht zu begreifen. Daher geht es mir genauso wenig um das reale Rumänien wie um den realen Ceausescu. Transmontanien ist eine historische Folie und der Conducator eine Chiffre für eine Macht, die sich selbst ad absurdum führt. Diese Macht ist bizarr und idiotisch, aber, gestützt durch den Unterdrückungsapparat der staatlichen Sicherheit, eben auch extrem lebens-feindlich und gefährlich. Wer glaubt, mit unbeschädigter Biografie ein solches Wahnsystem durchlaufen zu können, ist im Grunde schon zu Lebzeiten tot. Gegen diesen schleichenden Tod, gegen das Verkümmern im Grau der eigenen Bedeutungslosigkeit wehrt sich Pavel Botev, der Held des Romans. Spät zwar, aber nicht zu spät, beginnt er, die Welt, die von den Mächtigen auf den Kopf gestellt wurde, wieder auf die Füße zu stellen.

Das ist eine Metapher, die in dem Roman eine zentrale Rolle spielt. Die Welt auf den Kopf stellen – ist das eine Chiffre für den Kampf um die eigene Freiheit?

In dem Ich-Erzähler Pavel vollzieht sich ein Bruch. Er taumelt durch sein Leben und ist nicht der Steuermann seines Schiffes. Dafür gibt es Gründe, die Pavel nicht zu verantworten hat. Er wächst auf in einem Klima aus Enge und Weltsehnsucht und bekommt mit, dass die »Goldene Epoche« des Sozialismus alle menschliche Kreativität vernichtet. Die stupiden Parteiparolen vom Aufbau öden ihn an, zugleich sind für ihn die Glaubensgewissheiten des Katholizismus kraftlos und verlogen. Doch weil in ihm noch der letzte Funke eines Feuers glüht, einer Widerstandskraft, die der Zigeuner Dimitru in ihm entfacht hat, macht sich Pavel auf den Weg in die Freiheit. Die jedoch ist ohne Gerechtigkeit nicht zu erlangen. In seinen Jugendjahren wurde Pavels Lehrerin Angela Barbulescu in den Tod getrieben. Damit das himmelschreiende Unrecht gesühnt werden kann, muss Pavel den Täter zur Hölle schicken. Er kann nur in der Welt ankommen, weil er aufhört, wie Pilatus seine Hände in Unschuld zu waschen. Doch es dauert ein halbes Menschenleben, bis er erkennt, dass der Kampf um Gerechtigkeit für seine Lehrerin nichts anderes ist als der Kampf um seine eigene Freiheit.

Welche Aufgabe hat Literatur für Sie – jenseits der Unterhaltung? Was erhoffen Sie sich vom Schreiben?

Natürlich wünsche ich mir als Erzähler, dass Leserinnen und Leser sagen: »Ich habe meine Zeit nicht vertan. Ich bin gern mit den Figuren mitgegangen, habe mit ihnen geweint und gelacht bei ihrem Ringen um ein gelungenes und geglücktes Leben. « Um diesen Kern kreist der ganze Roman, um die Frage nach Freiheit und Sinn, nach Schuld und Erlösung. Über die Antwort lässt sich selbstverständlich streiten, doch es gilt, die Frage wach zu halten. Beängstigend sind Menschen, die diese Fragen nicht mehr stellen. Sie haben sich, um ein Wort des Jesuiten Karl Rahners zu benutzen, zurückgekreuzt zum findigen Tier. Das klingt hart, doch unsere Gesellschaft steuert darauf zu, immer mehr anpassungsschlaue Typen zu produzieren, statt freie und seelenvolle Individuen. Die Frage ist für mich nicht, ob Literatur dem entgegensteuern kann, sondern wie.

Und wie sieht Ihre Antwort aus? Nicht als studierter Theologe und auch nicht als Journalist, sondern als erzählender Schriftsteller?

Mich fasziniert der Akt des Verhüllens. Etwa wenn am Karfreitag in den katholischen Kirchen das Antlitz des Gekreuzigten hinter einem violetten Tuch verborgen wird. Das Verborgene schafft eine ungeheure energetische Spannung. Die Rolle dieses Tuches erklärt für mich auch den Unterschied zwischen journalistischem Schreiben und meiner Idee vom literarischen Erzählen. Ein Journalist enthüllt. Er zieht das Tuch weg und deckt die Sachverhalte dahinter auf. Das Erzählen dagegen kann die Welt hinter dem Tuch durch die Kraft der Fantasie lebendig werden lassen, wie bei dem verschrobenen Dimitru, der seine Wahrheiten dadurch aufscheinen lässt, dass er sie vernebelt und verhüllt.

GENRE