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Rezensionen zu
Ferne Gestade

Abdulrazak Gurnah

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Saleh Omar kommt als Asylsuchender aus Sansibar nach London. Latif Mahmud, ebenfalls aus Sansibar, hat in der DDR studiert und ist auch nach London geflohen. In ihrer Heimat waren ihre Lebenswege eng verflochten, die Familien verfeindet. Nun tasten sie sich gemeinsam durch die Vergangenheit, auf der Suche nach Wahrheit. Kolonialismus, Rassismus, Entwurzelung sind die Themen in diesem Roman. Was passiert mit Menschen, die von klein auf ihre Minderwertigkeit eingebläut bekamen von den angeblich über ihnen stehenden weißen Besetzern? Was passiert in einem Land, das erst komplett unselbständig gemacht und dann sich selbst überlassen wurde? Gurnah erzählt anhand der beiden Familien eine Geschichte von Verzweiflung, Hass und Rache, von Willkür, Duldungsfähigkeit und Vergebung. Aber vor allem erzählt er von universellen Werten, unabhängig von Hautfarbe und kulturellen Unterschieden, und macht damit immer wieder deutlich: Wir sind alle Menschen, auf Augenhöhe, die lieben, ihre Familien schützen und in Frieden leben möchten. Ein melancholischer, leiser Roman, der den Leser mitnimmt auf Omars Reise und dabei immer wieder über Denkmuster stolpern lässt, der hochpolitisch ist, ohne erhobenen Zeigefinger und beeindruckt durch seine Poesie.

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Abdulrazak Gurnah erzählt in „Ferne Gestade“, wie die Zeit die Erinnerung zerstückelt und ein Duft sie wieder zusammenfügt. Wie entsteht Erinnerung? Verändert sie sich mit den Jahren? Und was erweckt sie wieder? Abhängig von der Wahrnehmung und der Verarbeitung entsteht im Laufe der Zeit ein autobiographisches Gedächtnis, an dem unsere Phantasie auf nicht unbeträchtliche Weise beteiligt ist. So kann es geschehen, daß zwei Menschen auf gemeinsam Erlebtes oft unterschiedlich zurückblicken. Diese Konstellation liegt auch dem Roman „Ferne Gestade“ des 2021 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten Abdulrazak Gurnah zugrunde. Der Roman wurde 2001 erstmals in Großbritannien veröffentlicht, ein Jahr später erschien er in der Übersetzung von Thomas Brückner in Deutschland und wurde nun in revidierter Übersetzung neu aufgelegt. Gurnah kam als Flüchtling aus Sansibar nach England, wo er seitdem lebt. Dieses Schicksal teilt er mit seinen Protagonisten. Der jüngere, Latif Mahmud, war bei der Ankunft wie der Autor kaum erwachsen und wurde ebenso wie dieser Literaturprofessor an einer englischen Universität. Der ältere, Saleh Omar, verlässt Sansibar als alter Mann. Existentielle Verluste und die politischen Zustände haben ihn aus der Heimat vertrieben. Mit Omars Ankunft in Gatwick beginnt der Roman, der wechselweise aus der Perspektive der beiden Protagonisten erzählt wird. Wir begleiten den 65-jährigen, der unter falschem Namen und Verbergung seiner Sprachkenntnisse, im Büro der Einwanderungsbehörde befragt wird. Gerade eben aus einem Unrechtsregime entflohen, erfährt Omar erneut Willkür. Der Beamte konfisziert seinen einzigen Besitz, ein Mahagoniekästchen mit Weihrauch, dessen Duft ihn wie die Proust‘sche Madeleine in die Vergangenheit versetzt. „Ich meinte, im schweren Körper dieses Duftes den Geruch meiner Träume von diesen fernen Gestaden ausmachen zu können.“ In der Folge bleibt er Widrigkeiten ausgesetzt, die schauerlichen Unterkünften, bedrohliche Mitbewohner, tumbe Vermieter und das Fehlen einer Perspektive erträgt er allerdings mit zweckdienlichem Sarkasmus. Vertrauen fasst er einzig zu seiner Betreuerin, die die Verbindung zu Latif, einem Dolmetscher für den vermeintlich Sprachlosen herstellt. Doch bevor die beiden Hauptpersonen des Romans zusammentreffen, deckt Omar seine Lüge auf und verzögert die Begegnung mit Latif, den er aus seinem Leben in Sansibar kennt. Diese spannungssteigernde Retardierung zeigt sich auch in der Erzählweise. Denn wie einst Scheherazade in 1001 Nacht, die der Roman mehrfach zitiert, biegt Gurnah in zahlreiche Nebengeschichten ab, die er fabulierend ausschmückt, ohne den Weg zurück zu verpassen. Sie ranken sich um die Passagen der beiden Ich-Erzähler, die in das „Land der Erinnerung“ zurückblenden. So entsteht ein beinahe mythisches Beziehungsgeflecht zwischen den beiden Figuren, die, wie sich allmählich herausstellt, durch tragische Weise aneinandergebunden sind. Man taucht tief ein in die Verhältnisse des im Umbruch befindlichen Sansibars. Die Moderne kündigt sich an, aber noch gibt es Figuren wie aus 1001 Nacht, geschäftstüchtige Händler und hinterlistige Schurken, schöne Frauen, noch schönere Knaben, geheimnisvolle Ebenholztischchen und hohe Tonkrüge, in denen versteckt sich manches Geheimnis erlauschen lässt. Trotz aller in der Vergangenheit begründeten Gegensätzlichkeit verbindet den Literaturwissenschaftler Latif und Omar, der durch die aufgelösten Bibliotheken der englischen Besatzer zum Leser wurde, eine Gemeinsamkeit, die Liebe zur Literatur. In vielfältigen Anspielungen ruft Gurnah Werke der Weltliteratur auf, neben Homer, der Bibel und dem Koran, Dante, Pepys, Shakespeare und Proust, winkt sogar der zur Erscheinungszeit des Romans äußerst populäre englische Autor Douglas Adams mit dem Handtuch. Latif und Omar entleihen ihren Code der Eingeweihten jedoch einer älteren bis heute berühmten Figur der englischen Literatur, dem Schreiber Bartleby. Dass der berühmte Satz von Melvilles Figur, „I would prefer not to“, zwei Lesern aus fernen Gestaden gefällt, während die eingeborene Engländerin ihn nicht einmal kennt, könnte man als Treppenwitz dieses Romans bezeichnen. „Ferne Gestade“ erzählt von Erinnerung und Sehnsucht, von Afrika und Europa, zeigt den chauvinistischen Blick der Europäer ebenso wie die Diskriminierung im Ursprungsland seiner Figuren. All dies gelingt Abdulrazak Gurnah mit Fabulierlust, präzisen Beobachtungen und feinem Humor.

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Nachdem sich der deutsche Literaturbetrieb im vergangenen Jahr nach der Verkündung des Literaturnobelpreises ausgiebig die Augen gerieben hat – Wer war denn nun schon wieder dieser Abdulrazak Gurnah? Nie gehört! – , sämtliche Bestände an übersetzten Werken desselben aus den Antiquariaten weggekauft waren – kein einziger Titel war aktuell lieferbar – , machte sich allmählich die Überzeugung breit, dass es vielleicht doch den Richtigen getroffen hat, dass da mehr als ein Kontinentproporz oder ein Originalitätswettrennen bei der Wahl der viel gescholtenen Schwedischen Akademie in Stockholm im Spiel war. Hin und wieder wurde noch an dem ersten neu aufgelegten Roman, Das verlorene Paradies (Original Paradiese, 1994, Shortlist Booker Prize) herumgemäkelt (von mir nicht). Jetzt dürfte aber spätestens mit Ferne Gestade (Original: By the sea, 2001, Longlist Booker Prize) klar sein, dass Abdulrazak Gurnah den Nobelpreis völlig verdient für seine literarische Qualität zugesprochen bekommen hat. Der 1948 auf Sansibar/Tansania, damals britisches Protektorat, geborene Gurnah thematisiert erneut die Auswirkungen von Kolonialismus und Migration, verhandelt sie aber anders als in seinem historischen Roman Paradise auf sehr moderne, komplexe und vielschichtige Art und Weise. Die Rahmenhandlung, von der die Erinnerungen und Erzählungen immer wieder bis ins Jahr 1960 zurückschweifen, als die unglückselige Geschichte ihren Anfang nahm, ist im Hier und Jetzt des ausgehenden 20. Jahrhunderts angesiedelt. Ein sich bereits im Rentenalter befindender Afrikaner, der sich Rajab Shabaan nennt, eigentlich aber Saleh Omar heißt, ersucht am Londoner Flughafen Gatwick um Asyl. Im spärlichen Gepäck befindet sich ein fein gearbeitetes Mahagonikästchen mit einem Rest wunderbar duftendem Weihrauch, dem Ud-al—qamari, dem Holz der Khmer. Dieses Kästchen, das all die Traditionen und kulturellen Werte der ostafrikanischen Region, aus der es und sein Besitzer stammen, zu symbolisieren scheint, wird ihm dort auf dem Flughafen entwendet. Ein Bild, das für sich spricht. Sansibar Dort in Ostafrika hat eine gewisse Globalisierung zumindest in den Küstenregionen eine lange Tradition. Seit Jahrhunderten besteht eine starke Verbindung nach Südostasien und besonders nach Indien. Der Monsun bestimmte die Reiserichtung, wehte damals im Winter die Händler gen Südwesten und im Sommer zurück und brachte schon immer eine gewisse Durchmischung der Bevölkerung hervor. Im 15./16. Jahrhundert kamen dann die Portugiesen als Kolonisatoren, bevor sie 1698 vom Sultanat Oman vertrieben wurden. Sansibar wurde eine Provinz Omans und lange Zeit ein Zentrum des arabischen Sklavenhandels. Im 19. Jahrhundert wurde die Küstenregion Teil von Deutsch-Ostafrika (1885), Sansibar zu britischem Protektorat (1890). 1963 wurde die Insel als Sultanat unabhängig, dieses aber bereits wenige Wochen später durch eine Revolution gestürzt. Die arabische Elite wurde verjagt oder getötet und eine Volksrepublik gegründet, die sich bereits ein Jahr später an Tansania anschloss. Diese historischen Entwicklungen bilden den Hintergrund für die Geschichte zweier Familien, die auf unglückselige Weise miteinander verbunden sind. Eine davon ist die von Saleh Omar. Dieser macht aus dem kleinen Halwa-Laden seines Vaters nach dessen Tod ein florierendes Möbelgeschäft durch das er zu einigem Reichtum gelangt. Die andere ist die von Rajab Shabaan (dem echten). Über Hussein, einen recht windigen Typen aus Bahrein, sind die beiden Familien verbunden, aber auch weitläufig verwandt. Dieser Hussein leiht sich Geld von Saleh Omar und bietet ihm als Garantie einen Schuldschein über das Haus von Rajab Shabaan. Was als reine Formalität dargestellt wird, wird Ursache einer erbitterten Familienfehde, denn Hussein verführt nicht nur den ältesten Sohn von Rajab und nimmt ihn mit nach Bahrein, sondern bezahlt auch nie seine Schulden an Saleh, so dass dieser irgendwann das Haus der Familie einfordert. Ein Schritt, der für ihn zum Verhängnis wird. Asyl Als alter Mann in England angekommen, verweigert er, der fließend Englisch spricht, die Auskunft. Das wurde ihm so geraten. Der Dolmetscher, der ihm daraufhin zugeteilt wird, ist niemand anderes als Latif Mahmud, der jüngere Sohn von Rajab Shabaan, der dem ihm nun gegenüberstehenden Saleh das ganze Elend seiner Familie und auch sein eigenes Schicksal vorwirft. Dieses führte ihn über ein Studium in der DDR nach England, wo er nun als Literaturdozent arbeitet. Eine recht komplexe Geschichte, wie man nun bereits ahnt, die noch interessanter dadurch wird, dass Abdulrazak Gurnah in Ferne Gestade beide Hauptprotagonisten, Saleh und Latif, zu Wort kommen lässt. Und ihre Sicht auf die Geschichte ist sehr unterschiedlich. Diese Unzuverlässigkeit in der Narration ist sehr reizvoll und überrascht die Leser:innen immer wieder. Auch spielerische, in die Geschichte eingestreute intertextuelle Verweise, zum Beispiel immer wieder auf Herman Melvilles „Bartleby der Schreiber“ und seinen berühmten Satz „I would prefer not to.“, bindet der Autor in seinen wirklich glänzend konstruierten Roman ein. So ist Ferne Gestade ein komplexer, vielschichtiger Text, der die Auswirkungen der Kolonisation in Afrika, die Vernichtung kultureller Traditionen durch die Kolonisatoren, aber auch die Schwierigkeiten der unabhängigen Neustaaten mit tragisch verknüpften Familiengeschichten und modernen Migrationsgeschichten verbindet. Ein toller Roman, der neugierig macht auf den im September erscheinenden neuesten Roman des Nobelpreisträgers, Nachleben.

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[TW: Flucht, Folter] "Sobald ich im Wohnheim angelangt war, nahm mir eine Frau in dem Büro meinen Pass Ab und gab  mir stattdessen eine Identitätskarte. Das machte mich unruhig. Dieser Gedanke, dass sie mir vom Moment meiner Einreise an Misstrauen."  S. 214 Abdulrazak Gurnah erzählt die Geschichte zweier Emigranten aus Sansibar. Saleh Omar, der eine Mahagonischachtel mit Weihrauch seinen Wertvollsten Besitz nennt und sich plötzlich aus seiner Rolle als Ehemann und Vater gerissen und in die des unerwünschten Asylsuchenden gedrängt sieht, und Latif Mahmud, einem Beamten der über die DDR aus Sansibar geflogen ist. Bei ihrer Begegnung in London entrollt sich ihrer beider Vergangenheit die untrennbar miteinander verwoben scheint. Die Themen sind Flucht/Migration, Exil, Fremdsein sowie Liebe und Verrat. Auch die Kollonialgeschichte hat einen wichtigen Anteil an der Handlung. Mir hat besonders folgendes Zitat gefallen. Es stammt aus einer Unterhaltung zwischen Saleh, der sich mit einer bekannten unterhält. Diese erzählt ihm folgendes :" Sie meinen nicht: Warum Kenia und nicht irgendein anders Land. Weil es auf diese Art keinen Unterschied machte, ob es sich nun um Kenia handelte oder irgendein anderes Land. Wir waren Europäer. Wir konnten uns in der Welt niederlassen, wo immer wir es wünschten. Sie meinen: warum entschlossen wir uns, nach Kenia auszuwandern und anderen Menschen das wegzunehmen, was ihnen gehörte, es fortan als unser Eigentum zu bezeichnen und uns mit Falschheit und Gewalt zu bereichern. Sogar zu kämpfen und zu Schäden für das, was uns nicht Zustand. [...] Nun, weil wir in einer Zeit lebten, in der wir davon überzeugt waren, dass wir auf all das ein Recht hatten, ein Anrecht auf Orte und Gegenden, an denen nur Leute mit dunkler Haut und Kraushaar lebten." Teil 3, Latif S  217 Nach und nach zerlegt Gurnah in seinem Roman die Werkzeuge der Kollonialisten, die Fremdenfeindlichkeit Europas und die Folgen für die Unterdrückten Völker die bis heute andauern. Eine riesen Empfehlung meinerseits. Danke an den penguin_verlag und das bloggerportal für dieses tolle Rezensionsexemplar

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