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Rezensionen zu
Neujahr

Juli Zeh

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€ 20,00 [D] inkl. MwSt. | € 20,60 [A] | CHF 27,90* (* empf. VK-Preis)

VORSICHT SPOILER!!! "Neujahr" : Der Roman einer Überforderung, eines Traumas und einfach sehr gute Literatur Ein Familienvater, zwei Kinder, Erinnerungen, ein Urlaub auf Lanzarote. Die Geschichte und der Rahmen sind einfach in Juli Zehs neuem Roman „Neujahr". Es mag nicht übertrieben sein, dieses Buch als eines der persönlichsten und besten von Juli Zeh zu bezeichnen. Ein Roman den man in einem Zug liest ohne absetzen zu können. Der Protagonist Henning erklimmt mit seinem Fahrrad einen Berg, die Hitze, die Erinnerungen und Gedanken flirren durch seinen Kopf, sein Körper pulsiert, gebiert irgendwann sein Innerstes aus der Vergangenheit zum Vorschein. Juli Zeh beschreibt diese Bergfahrt sehr sinnlich, Gerüche alle Art werden evoziert, Ziegenherden am Wegesrand, vorbeifahrende Autos, ein unwirklich scheinender Hirte, der schon ahnen lässt dass etwas von jenseits der Gegenwart heraufdräut. Das ES, diffuse Angstzustände und Ahnungen aus der Vergangenheit, die weit mehr sind als ein auf das Freudsche ES reduzierte Unbewusste, holt Henning immer wieder ein und nimmt ihm den Atem. Seine Gedanken wandern zur jüngeren Vergangenheit, ein Restaurant Besuch mit Frau und Kindern in einem spanischen Restaurant am Tag zuvor. Seine Frau Theresa die er plötzlich hocherotisch mit einem französischen Gast eng umschlungen im Tanz sieht, - eine Szene, die später entscheidend seine Kindheitserinnerungen triggern soll. Dann sind wir wieder ganz mit Henning auf seinem Fahrrad, schwitzen mit, nähern uns langsam dem Gipfel des Berges. Und wieder schweift die Erinnerung ab, sie wandert zu den Großeltern seiner Kinder: Rolf und Marlies kommen zu Besuch aus Rom, pflügen in ganzer Egozentrik und Selbstverliebtheit durch die junge Familie, halten den schönen Schein einer gelungenen Enkel-Großeltern-Beziehung fest, um diesen dann zuhause in Rom fotografisch auf die Kommode zu bannen. Er fühlt sich an seine eigene Kindheit erinnert, als Trennungskind, überforderter älterer Bruder einer kleinen Schwester neben einer ebenfalls überforderten Mutter. Und wieder treten wir mit Henning zusammen in die Pedale seines Fahrrads, erleben zusammen mit ihm eine unfassbare Wut aufsteigen. Und dann erreicht Henning den Gipfel des Berges und ein alleinstehendes Haus. Er wird kurz bewusstlos, sein Unbewusstes meldet sich mit einer lange vergessenen Geschichte aus seiner Kindheit zu Wort. Henning kennt dieses Haus. Drei Tage haben ihn hier damals allein mit seiner kleinen Schwester Luna ans Haus gefesselt, die Eltern waren unter dramatischen Umständen verschwunden, - nicht der Mörder aber der Verführer war diesmal der Gärtner. Henning hatte ihn in flagranti mit seiner Mutter ertappt. Und dann entfaltet sich vor seinem inneren Auge das ganze Drama dieses Ausgeliefertseins, die Unfähigkeit sich allein zu versorgen, seine kleine Schwester zu versorgen, die Ordnung beizubehalten. Die Beschreibung der Abhängigkeit und Hilflosigkeit der kleinen Schwester ist so plastisch dass es einem die Tränen in die Augen treibt. Alles ist ans Licht gekommen, es ist Neujahr. Zum Glück endet dieser Roman nicht mit einem platten Happy end, das ES hört nicht plötzlich auf, Henning zu quälen. Nein, viel weiser und reifer ist das Ende: Henning will und muss die Beziehung zu seiner Schwester Luna, die bislang immer die Kleine und Hilfsbedürftige blieb bis ins Erwachsenenalter, neu definieren. Er muss ihr seine Helfer Rolle aufkündigen. Er weist ihr die Tür. Und gerade die letzten beiden Seiten des Romans, in dem dieser langsame Abschied beschrieben wird, ist Juli Zeh unglaublich gut gelungen. Feine literarische dicht gewebte Atmosphäre, kristallklar und langsam. Juli Zeh ist mit diesem Roman ein brillantes Stück Literatur gelungen.

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Albtraum auf Lanzarote

Von: ulistuttgart

02.02.2019

Henning verbringt mit seiner Frau Theresa und seinen beiden Kindern im Kindergartenalter (2 und 4 Jahre) seinen Weihnachtsurlaub auf Lanzarote. Am Neujahrstag beschließt er für sich mit dem geliehenen Mountainbike eine Radtour zu machen. Während der Anstrengung des Fahrens und dem Kampf gegen den Wind, kommen ihm so manche Gedanken und Erinnerungen in den Sinn. Seine Frau und er arbeiten Teilzeit, damit sich beide um die Kinder kümmern können. Theresa arbeitet viel von zu Hause und zieht sich deshalb gerne in ihr Home Office zurück. Henning arbeitet praktisch genau so viel wie vor den Kindern und verdient das Gehalt der Teilzeitkraft. Dafür darf er sich dann in seiner „Freizeit“ sehr intensiv um seine Kinder kümmern. Er fühlt sich ausgelaugt und ist unzufrieden mit seinem Dasein. Zu allem Überfluss plagen ihn auch noch Angstzustände und Panikattacken. Das alles und noch viel mehr geht ihm beim Fahrradfahren am Neujahrstag durch den Kopf. Erster-Erster … Das Buch von Juli Zeh ist klasse. Erstmal die Wahnsinns Beschreibungen von Lanzarote. Jedes Haus und jede Pflanze wird beschrieben. Die Landschaft mit Palmen, Kakteen und Bougainvilleen. Da ich Lanzarote sehr liebe, sehe ich all die Dinge vor mir und weiß genau an welchem Ort sich Henning und seine Familie gerade befinden (Puerto del Carmen, Playa Blanca …). Das alles wird von der Autorin sehr detailliert beschrieben. Auch die Panikattacken von Henning erläutert sie sehr anschaulich. Genau wird dargestellt wann „ES“ (so bezeichnet er seine Angstzustände) auftaucht und wie es sich auswirkt. „ Es beginnt mit einem Brennen im Zwerchfell, wie eine Mischung aus Lampenfieber und Flugangst. Sein Herz fängt an zu rasen, dann zu stolpern. Hennings Körper und Geist geraten außer Kontrolle. Manchmal weckt ES ihn mitten in der Nacht. Er fährt dann aus dem Schlaf und bekommt keine Luft …“ – einfach grandios erzählt. Die Doppelbelastung von Arbeit, Kinder und Haushalt belasten ihn sehr. Er kann nichts zu Ende bringen, hat für nichts richtig Zeit … Auch im Urlaub kann er nicht abschalten. Henning versucht sich beim Radfahren zu entspannen. Dort ist er mit sich selbst alleine. „Eine schmale Schneise zwischen Beruf und Familie.“ Erster-Erster Seine Gedanken rasen durch seinen Kopf … Und plötzlich kommt Henning alles so bekannt vor. Es fühlt sich für ihn an, als ob er schon einmal dort war … Erinnerungen kommen bruchstückhaft auf … Und dann wird es schrecklich. Seine Flashbacks sind unfassbar. Das Erlebte ist erschreckend, Wahnsinn, Horror … Fazit: Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass dies mein erster Roman von Juli Zeh ist. Und ich bin begeistert. Begeistert von Schreibstil, den detaillierten, eindrucksvollen Beschreibungen und dem tiefsinnigen Thema. Sicher wegen seiner Intensität und Tiefenpsychologie nicht für Jedermann der passende Lesestoff, aber ich bin restlos begeistert. 5 Sterne !!!

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Hier schliesst sich ein Kreis - ich lese das Verschwinden der Eltern als Metapher für das Verschwinden des Staates als verlässliches Regelwerk. Dies ist fester Bestandteil der ostdeutschen Lebenserfahrung meiner Generation. Hennings am 5. Februar 2016 einsetzende posttraumatische Belastungsstörung schlägt die Brücke zu den 1980ern, als Gundermann in der DDR-Endphase dichtete: "Der Wohnblock liegt am Abend Wie ein böses Tier Wo sie zu Hause sind Der Sprechfunk ruft nach ihnen Doch sie bleiben hier Der Wohnblock spuckt sie in Den kalten Wind Wo sie zu Hause sind Ab und zu nur sieht noch Einer frierend hin" Mit "Neujahr" fängt Juli Zeh dieses Gefühl ein und zeigt leider seine Aktualität auch und gerade in den "alten" Ländern - und dass in den 1980ern das "Fliehen in die warmen Länder" auch keine Lösung war! Vielen Dank dafür

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Henning hatte von großen weißen Villen geträumt, gereicht hat es nur für einen Urlaub in einer schmalen Ferienwohnung, dem 'Scheibenhaus'. An Silvester hofft er auf einen romantischen Abend, aber seine Frau Theresa flirtet heftig mit einem anderen. Mit einer Fahrradtour auf den Berg von Fémes muss Henning sich am nächsten Morgen Luft verschaffen. Untrainiert bricht er am Gipfel zusammen, gleitet er in einen Dämmerzustand zwischen Traum und Realität und erinnert sich an die große Tragödie, die er als Kind hier erlebt hat. An dieser Stelle zerfällt auch das Buch in zwei Teile. Henning erinnert sich an ein frühkindliches Drama, die Eltern waren wie vom Erdboden verschwunden und er kämpfte verzweifelt um das Leben seiner Schwester. Der Roman ist spannend erzählt, aber die Verbindung der beiden Erzählstränge ist ausgesprochen holprig. Das Dé­jà-vu wirkt bemüht, das kindliche Trauma als Erklärung für spätere Panikattacken ein wenig zu simpel.

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Ich bin noch nach der Lektüre völlig begeistert von der Art und Weise, wie die Autorin hier die Bedeutung frühkindlicher Erfahrungen für die Psyche / die Persönlichkeit eines Menschen in die Geschichte eingebaut hat. Ich habe mir des Öfteren während der Lektüre gedacht, dass entweder die Autorin selbst solche Erfahrungen gemacht haben oder zumindest sich mit Betroffenen unterhalten haben muss. Die Schilderungen von Hennings Gefühlswelt kommt so glaubhaft rüber, dass man ihm als Leser alles abnimmt. Die Tiefe der Geschichte, die sie so erzeugt, stellen so manche Psychothriller in den Schatten. Wirklich wahnsinnig gut. Auch das Erlebnis der Bergtour, die Henning absolviert, ist so bildhaft und real beschrieben, dass mir völlig klar war, dass Juli Zeh auch das entweder selbst erlebt oder durch Fachleute tiefgehend recherchiert hat. Auch die Schwierigkeit einer Beziehung mit psychisch kranken/traumatisierten Menschen wird hier gut dargestellt. Hennings Frau Theresa versucht zwar aufrichtig, ihren Mann zu unterstützen, doch es will ihr nicht gelingen und sie schmeißt hin. Das hört sich zwar fies an, aber nachdem ich selbst lange krank war kann ich das heute, wo es mir wieder gut geht, nachvollziehen. Gerade wenn Kinder im Spiel sind, ist es unglaublich schwierig für den Partner, eine solche Störung aufzufangen. Der Schreibstil ist derart gefühlvoll und intensiv, dass er mich stellenweise wirklich umgehauen hat. Ich habe das Buch mit vielen Klebezettelchen markiert, weil ich mir einige der Stellen noch herausschreiben möchte. Der Spannungsbogen während der verschiedenen Stationen der Reise sucht seinesgleichen und zieht den Leser tief in das Leben von Protagonist Henning hinein. Trotz des geringen Umfangs hat es mir bei der Geschichte an nichts gefehlt, denn ich habe Hennings komplettes Leben verfolgen können, von der Kindheit bis in die Gegenwart. Dadurch konnte ich seine persönliche Entwicklung verfolgen, was zwar beklemmend, aber sehr intensiv war. Die Intensität hat mich stellenweise an "Mein Ein und Alles" von Gabriel Tallent erinnert. Fazit: Wer ein intensives Leseerlebnis sucht und den psychische Krankheiten oder eine krasse Kindheit nicht triggern, ist hier absolut gut beraten.

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„Wenn er versucht, falsche Gedanken zu vermeiden, rennt er wie ein gehetztes Reh durch den eigenen Kopf.“ (Originalzitat, Seite 33) Inhalt: Ohne seine Frau Theresa vorher zu fragen, hat Henning spontan ein kleines Ferienhaus auf Lanzarote gemietet, zwei Wochen über Weihnachten und Neujahr. Das Ehepaar hat zwei Kinder, den vierjährigen Jonas und die zwei Jahre jüngere Bibbi. Eine moderne Familie, beide haben gute Jobs mit Teilzeit-Anwesenheitspflicht, teilen sich Kinderbetreuung und Haushalt. Doch kurz nach Bibbis Geburt begannen bei Henning die heftigen Panikattacken und die Angststörung bestimmt seither sein Leben, das ihn ohnedies oft überfordert. An diesem Neujahrsmorgen in Lanzarote nimmt er sich vor, sich auch wieder Zeit für sich selbst zu nehmen und schwingt sich auf sein Leihrad: sein Ziel ist das hoch über dem Meer gelegene Bergdorf Femés, zu erreichen über eine herausfordernd steile Straße. Erschöpft erreicht er sein Ziel und plötzlich überfällt ihn die Erinnerung an ein schreckliches Ereignis, das er bisher verdrängt hatte, denn vor vielen Jahren hatte er genau hier mit seinen Eltern und seiner Schwester Luna Urlaub gemacht. Thema und Genre: Dieser Roman handelt von den psychischen Auswirkungen einer gravierenden Erfahrung in der Kindheit und vom Tabuthema Angststörung. Thema sind auch moderne Familienstrukturen zwischen Karriere, Job und Kindererziehung und der Druck, funktionieren zu müssen. Charaktere: Hauptprotagonist ist Henning, ein Mann, von dem erwartet wird, in vielen Rollen gleichzeitig perfekt zu funktionieren: als liebender Ehemann und Vollzeitvater, erfolgreicher Mitarbeiter eines Sachbuchverlages. Auch seine jüngere Schwester Luna kommt immer wieder Hilfe suchend zu ihm und er fühlt sich für sie verantwortlich, genau wie damals, als seine Eltern von ihm erwarteten, als „großer Junge“ auf seine Schwester aufzupassen, obwohl er damals selbst erst vier Jahre alt gewesen war. Handlung und Schreibstil: Juli Zeh ist eine herausragende Schriftstellerin, die mit der Sprache spielt und der es perfekt gelingt, einerseits ruhig schildernd zu erzählen, um dann andererseits wieder sprachgewaltige, beklemmende Bilder vor den Augen der Leser entstehen zu lassen. Der Weihnachtsurlaub auf Lanzarote und die Gedanken, die sich Henning über seine aktuelle Lebenssituation macht, bilden nur die Rahmenhandlung. Die Haupthandlung findet in der Vergangenheit statt, es sind die dramatischen Ereignisse seiner frühen Kindheit, an die sich Henning plötzlich wieder erinnert, chronologisch, wie in einem Film. Fazit: Ein beklemmender Roman, sehr packend erzählt. Auf nur 200 Seiten enthüllt sich dem Leser langsam und eindringlich eine spannende Geschichte aus der Vergangenheit, die erklärt, warum die Gegenwart ist, wie sie ist. Ein Buch, das noch lange in den Gedanken des Lesers bleibt.

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Inhalt: Juli Zeh nimmt uns in ihrem Roman "Neujahr", der 2018 erschien, mit auf einen Familienurlaub auf Lanzarote, der für den Protagonisten zu einer Reise in die Vergangenheit wird. Meine Meinung: Zuerst: Ich habe erst dieses Jahr (2018) Juli Zeh für mich entdeckt, als ich ihren Roman "Unterleuten" gelesen habe. Schon bei Unterleuten ging es mir so, dass ich das Buch nicht in einem Stück lesen konnte. Ich musste zwischendrin Pausen einlegen, das Buch eine Weile Ruhen lassen, dann konnte ich erst weiter lesen. Ich dachte bei Unterleuten, dass das an der Dicke des Buches läge - aber bei Neujahr ging es mir genauso. Juli Zeh ist für mich keine Autorin, die man einfach mal so zwischendurch in einem Aufwasch lesen kann. Juli Zeh ist langsam, aber beständig. "Neujahr" gefällt mir vom Setting her sehr gut. Lanzarote. Ganz speziell ein einsames Haus bei Lanzarote. Ein Haus, dass bei dem Protagonisten eine Welle von verdrängten Erinnerungen hervorruft. Das mit dem Gedächtnis ist ja immer so eine Sache. Es ist sehr gut darin schlechte Erinnerungen so weit zu verdrängen, dass wir uns wirklich nicht mehr daran erinnern. Erst durch eine gewisse Kombination aus Umwelteinflüssen kommen diese verborgenen Erinnerungen erst wieder hoch. Dieses Phänomen zeigt sich auch besonders häufig bei Soldaten, die sich an besonders schwere Dige aus dem Krieg nicht mehr erinnern. Dies wir zum Beispiel in dem Film "Walz with Bashir" von Ari Folman thematisiert. Ähnlich ist es in dem Roman von Juli Zeh. Hier ist es allerdings kein Trauma aus dem Krieg, sondern eines aus der Kindheit. Es ist sehr interessant zu lesen, wie immer mehr Details herauskommen und trotzdem weiß man die ganze Zeit nicht welche Erinnerungen wirklich stimmen. Im Laufe des Buches wird einiges klarer und der Protagonist verändert sich auch dadurch, dass ihm so vieles wieder einfällt. Vor allem diese Entwicklung hat mich fasziniert. Ich denke, dass Buch ist sehr geeignet für jeden, der mit den Büchern von Jui Zeh gut zurecht kommt. Als Einstieg in ihre Literatur würde ich es aber nicht unbedingt empfehlen. Ich hätte mir an manchen Stellen noch mehr gewünscht und vor allem das Ende kam mir einfach zu abrupt. Es sind noch Fragen offen, die ich gerne geklärt gehabt hätte. Trotzdem ist "Neujahr" ein lesenswerter Roman!

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Trauma

Von: Constanze Matthes

08.12.2018

Lanzarote: Die trockene und karge Vulkaninsel im Atlantik mit ihren schwarzen Stränden und Bergmassiven ist Ziel vieler Touristen. Henning, seine Frau Theresa und die beiden gemeinsamen Kinder Jonas und Bibbi zieht es ebenfalls auf das spanische Eiland. Die Familie verbringt die Tage des Jahreswechsels auf der kanarischen Insel. Doch für den jungen Mann wird es alles andere als ein erholsamer Urlaub, weil diese Reise in die Ferne nicht nur die Disharmonie des Paares offenlegt. Er wird während einer Radtour hinauf in die Berge konfrontiert mit einer düsteren Episode aus seiner Kindheit, an die er sich bis zu jenem Tag nicht erinnert. All das geschieht zu Neujahr, dem besonderen Tag, der dem neuen Roman von Juli Zeh auch seinen Namen gibt. Nach einer feuchtfröhlichen Silvesterfeier schwingt sich Henning auf das Rad. Allerdings bemerkt er früh, dass er sich für die Tour nur ungenügend vorbereitet hat. Weder hat er an Wasser gedacht, noch dass das Rad eigentlich viel zu schwer für eine Bergetappe ist. Von der billigen Radlerhose ganz zu schweigen. Allerdings bleibt es in diesem ersten Teil des Romans nicht dabei, dass der Erzähler nur den beschwerlichen Aufstieg schildert. Sehr komplex wird der Charakter des Helden und seine Rollen als Mann, Vater, großer Bruder, Sohn und Angestellter geschildert. Es ist ein psychologisches Porträt, das es in sich hat. Denn Henning ist nicht nur ein an sich Zweifelnder, ein mit sich Ringender, der überfordert zu sein scheint, in seinem Anspruch, in allen Bereichen zu funktionieren. Er verdient weniger als seine Frau, seine Aufgaben im Verlag, in dem er halbtags arbeitet, erfüllt er nicht mehr zufriedenstellend, er kümmert sich um Haushalt und die Kinder. Doch darüber hinaus quälen ihn fürchterliche Angst-Attacken, im Roman nach freudscher Manier „ES“ genannt, die sich körperlich wie seelisch zeigen. Was der mögliche, vor allem unbewusste Grund dieses Leidens ist, wird in einem zweiten Teil geschildert, der sich aus jenen verlorenen gegangenen Erinnerungen speist. Auslöser ist Hennings Besuch eines Künstlerhauses hoch oben auf dem Berg. Es sind Dinge, die ihm das Gefühl geben, hier schon einmal gewesen zu sein. Allen voran bemalte Steine, die er von seiner Mutter kennt. Er findet sich wieder an einem Zeitpunkt in der Kindheit, als ein Urlaub auf Lanzarote in eben jenem Haus ein nahezu fürchterliches Ende nahm, er mit seiner kleinen Schwester Luna für eine gewisse Zeit allein auf sich gestellt war. Zwei Kinder, die nach Nahrung und Wasser suchen, die Angst haben vor den unzähligen Spinnen an der Hauswand, der tiefen Zisterne, wobei der ältere Bruder die Verantwortung für seine kleine Schwester übernehmen muss. Es ist dieser Rückblick, der sehr an den Nerven zehrt, der spannend ist, eine ungeheure Sogwirkung entfaltet, aber fast wieder zu ausführlich wirkt und aus einer Kinder-Perspektive heraus erzählt wird, die keine richtige ist. Dieser Part und die Komplexität des ersten Teils, der Beobachtungen, Gedanken und Erinnerungen vereint, sind allerdings die beiden einzigen Besonderheiten, die ich als überaus gelungen empfand. Es gibt Seiten des auch symbolisch sehr aufgeladenen Romans, die mich indes in der Annahme bestärkten, dass Juli Zeh mit ihrem neuen Werk unter ihren Möglichkeiten geblieben ist. Denn bereits noch einigen Seiten wollte ich dieses schmale Buch wieder zuklappen und enttäuscht zur Seite legen. Vor allem die Sprache erschien mir wie flüchtig aufs Papier geworfen. Dabei bin ich durchaus ein Freund von kurzen, klaren Sätzen. Doch auch in diesen kann der Leser Poesie und Sprachgewandheit finden, in diesem Buch wird er danach indes lange vergeblich suchen. Zudem entstehen Fragen, die ungeklärt bleiben, an denen es beim Leser liegt, Antworten zu finden. Das kann eine schöne Lektüre-Aufgabe sein und zu regen Diskussionen führen, muss es aber nicht. Vor allem dann nicht, wenn sich Zweifel an der Logik auftun. Kann man sich mit einem Schlag in solch einer Genauig- und Ausführlichkeit an ein Trauma aus der Kindheit erinnern? Was hat es mit dieser ominösen SMS auf sich, die er von seiner Frau erhält und die es bei der Rückkehr nicht mehr gibt? Auch der Schluss am Ende des dritten Teils, der nach der Rückkehr vom Ankommen der Familie erzählt, ließ mich unbefriedigt und recht ratlos zurück wegen seiner resoluten und abrupten Weise. „Neujahr“ ist nicht der erste Roman der vielfach preisgekrönten Autorin, dessen Handlung auf Lanzarote spielt. Schon in ihrem 2012 erschienenem Werk „Nullzeit“ (Schöffling) siedelt Zeh das Geschehen auf der Kanaren-Insel an. Ist dieses neuere Werk vielleicht schon zu dieser Zeit nebenbei entstanden, eine Art Zwilling, der nun auf den Markt drängte, um nach dem großen Erfolg mit „Unterleuten“ Anschluss zu haben, um die noch bestehende Begeisterung zu nutzen? Dieser Roman über einen an sich zweifelnden Mann in der modernen Gesellschaft und ein unbewusstes Kindheitstrauma, das tief verborgen war und nun wie die Magma eines Vulkans hinaufsteigt, vereint zwar zwei sehr interessante Themen, vermag es allerdings nicht, vollkommen zu überzeugen. Was mich auch schmerzt, weil ich Zeh und ihr mannigfaltiges Schaffen sehr schätze.

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