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Rezensionen zu
Sie werden in den Tränen ihrer Mütter ertrinken

Johannes Anyuru

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Verstörend

Von: Myriade

31.10.2021

Wollte ich dieses Buch mit einem Wort beschreiben, so würde ich „verstörend“ wählen. Ich habe lange gebraucht um hineinzufinden, aber dann hat mich die gleichzeitig harte und lyrische Sprache völlig überschwemmt und die Handlung eben ziemlich verstört. Ein schizophrenes Mädchen aus Belgien verliebt sich als 14-jährige in einen Moslem und konvertiert zum Islam. Sie trampt nach Schweden wo sie an einem islamistischen Attentat teilnimmt. All das geschieht verzerrt durch die Nebel ihrer Krankheit. Sie weiß weder wer sie ist noch warum sie was tut. Sie überlebt und wird in den Hochsicherheitstrakt einer schwedischen psychiatrischen Klinik eingeliefert. Dort besucht sie ein Schriftsteller, dessen Bücher ihr gefallen haben. Und so kommt der zweite Ich-Erzähler ins Spiel, ein Moslem, Schwede mit nordafrikanischen Wurzeln, der überlegt mit Frau und Tochter nach Kanada auszuwandern. Diesem Mann übergibt das Mädchen einen von ihr geschriebenen Text, in dem sie beschreibt, dass sie aus der Zukunft kommt. Eine Zukunft, in der Schweden zu einer Gesellschaft geworden ist, in der Muslime, die den „Bürgervertrag“ nicht unterzeichnen, als „Schwedenfeinde“ stigmatisiert und in einem eigenen Wohnviertel untergebracht werden. Es gibt verschiedene Stufen der Diskriminierung, die zu verschiedenen Arten der Unterbringung führen. Eine schaurige dystopische Geschichte, die im Laufe der Geschehnisse den Ich-Erzähler zusehends beeinflusst. Es wird die Theorie aufgestellt, dass das Mädchen in einem Foltergefängnis namens al-Mima in der jordanischen Wüste gewesen sein soll. Ob es dieses Gefängnis gibt, ob es eine Fiktion oder ein durch Abu Ghraib inspirierter Ort ist, kann ich nicht sagen. Jedenfalls ist die Beschreibung dieses Orts einer der Punkte in dem Roman, an dem sich eine reale und eine mystische Welt überschneiden und zwar auf eine Art, die den Leser*innen die Orientierung erschwert, eigentlich unmöglich macht. „Dort, in der jordanischen Wüste, an einem Ort auf der Grenze zwischen Technologie und Theologie, war das Mädchen in der Klinik in diesen seltsamen Zustand ohne Kontakt zur Außenwelt geraten, in dem sie sich befunden hatte, als man sie nach Belgien zurückgebracht hatte.“ S 161 Die Schicksale des Autors und des Mädchens beginnen sich zu berühren. Die erschreckenden Beschreibungen einer in der Zukunft liegenden islamophoben, gewalttätigen schwedischen Gesellschaft aus der das Mädchen behauptet zu kommen, die Pläne des Autors, nach Kanada auszuwandern. Immer mehr drängt sich die Frage auf, ob man Moslem und Schwede sein kann, ob der Islam und seine Gläubigen in einer westlichen Gesellschaft eine positive Zukunft haben können. Verwirrend an diesem Roman ist, dass er nicht chronologisch erzählt wird und es nicht sofort klar ist, wer gerade in Ich-Form erzählt: das Mädchen oder der Autor. Es ist auch oft unklar, ob man sich gerade in der realen Welt, in der phantasierten Dystopie des Mädchens oder in einer mystischen Parallelwelt befindet. Sehr schwer zu lesen ist dieser Text, sprachlich und inhaltlich anspruchsvoll und ganz bestimmt kein Unterhaltungsroman. Aber er wirkt nach. Ich habe den Roman schon vor einer Weile ausgelesen mich aber noch nicht wirklich davon gelöst. Johannes Anyuru, geboren 1979, ist ein sehr interessanter Autor, Sohn einer Schwedin und eines Uganders, debütierte er 2003 mit der Gedichtsammlung Det är bara gudarna som är nya ( Nur die Götter sind neu). Es folgten weitere Gedichtsammlungen und das Buch, das ich gelesen habe, ist sein zweiter Roman, der 2017 erschienen ist. Anyuru arbeitete auch an Theaterstücken mit und beschäftigte sich mit Poesie in Klangform. Er wird als Vertreter der schwedischen Einwandererliteratur betrachtet, obwohl er in Schweden aufgewachsen ist. Ein Wanderer zwischen Kulturen dürfte der mehrfach preisgekrönte Autor sein, der 2007 zum Islam konvertierte. Auf jeden Fall keiner, der versucht, den Erwartungen seiner potentiellen Leserschaft gerecht zu werden

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Fadenspiele

Von: Ingeborg Rosen

05.07.2021

Besonders gefallen hat das Motiv des Fadenspiels, im Roman zweimal gespielt, jeweils von zwei Personen - das Spiel, bei dem sich mit jeder Bewegung das Bild, die Darstellung komplett ändert. Und das erscheint programmatisch für den gesamten Roman einerseits und die gesamte Darstellungsweise, den Duktus des Romans andererseits. Die Handlung ist im Klappentext nachzulesen, aber wie im Fadenspiel sind die Anfangs- und Endpunkte nicht definitiv auszumachen, scheinen die Veränderungen/Entwicklungen zufällig, und selten - von der Eingangsszene im Comicladen abgesehen - tragen in einer ‚Episode’, einer Handlungseinheit, mehr als zwei Personen die Handlung weiter. Sie findet sowohl in der Jetztzeit als auch in der Vergangenheit und Zukunft statt. Mit all diesen Mitteln wird ein düsteres, islamophobes Bild sowohl der aktuellen Lage Schwedens als auch der in 15 Jahren gezeichnet, wer den „Mitbürgervertrag“ nicht unterschreibt gilt als „Schwedenfeind“, wird gedemütigt, drangsaliert, letztendlich getötet. Der Autor der Rahmenhandlung, zunächst geneigt, das Manuskript als Zwangsvorstellung einer Traumatisierten zu sehen, verstrickt sich zunehmend im ‚Fadenspiel’ der Handlung und wird immer tiefer hineingezogen. Dem Leser wird ohne Zweifel einiges abverlangt, umso mehr, weil die Handlung ohne Kapitelüberschriften oder ähnliche ‚Hinweise’ fortschreitet. Aber die Mühe lohnt sich, es gibt „Licht vor uns“…

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Am Anfang steht ein Anschlag, der anders enden wird, als geplant: Drei junge Attentäter*innen wollen einen Comicbuchladen in Göteborg in die Luft sprengen. Zwei Männer und eine junge Frau mischen sich zunächst unter die Anwesenden, die dort zu einer Veranstaltung zusammengekommen sind. Sie ist diejenige, die alles filmen und online stellen soll, doch ihr kommen plötzlich Zweifel. Statt die Besucher des Ladens umzubringen, erschießt sie ihre Mittäter. Ungefähr zwei Jahre später treffen wir die junge Frau wieder: Sie befindet sich nun in einer Psychiatrie. Ein Schriftsteller besucht sie, sie wollte ihn sehen und mit ihm reden, denn seine Texte haben sie angesprochen. Man ist versucht, etwas des Autors Johannes Anyuru in ihm zu sehen. Die junge Frau überreicht ihm ein Manuskript, das sie geschrieben hat. Darin erzählt sie von einer Zukunft, aus der sie, so ist sie überzeugt, hierhergekommen ist, eine düstere Zukunft, ungefähr 15 Jahre entfernt, islamophob und fremdenfeindlich, eine Zukunft, in der alle „Schwedenfeinde“ letztlich getötet werden. Sie nennt sich Nour und sie erzählt von einer Kindheit, die es auch deshalb nicht gegeben haben kann, da sie, so erzählt man dem Autor, eine Schwedin namens Annika sei, die zum Islam konvertiert ist, doch sie beteuert, niemanden aus dieser, angeblich ihrer schwedischen Familie, zu kennen. „Sie werden in den Tränen ihrer Mütter ertrinken“ – der Titel mag erst einmal abschrecken, klingt er doch durchaus etwas schwülstig und kitschig. Doch es ist ein Zitat aus dem teils poetisch geschriebenen Roman, und es fügt sich passend ein. Erzählt wird einerseits aus der Perspektive des Autors, andererseits lesen wir die umfangreichen Aufzeichnungen Nours, dies sozusagen gemeinsam mit dem Autor. Der Roman ist ebenso sehr seine Geschichte wie ihre. Nach und nach erfahren wir mehr über ihn, darüber, wie er sich gegen seinen Willen hineinziehen lässt in die Welt der jungen Frau, darüber, wie er das Erlebte mit seiner Frau einzuordnen versucht, wie es langsam seine Sicht auf die Dinge verändert. Es ist auch eine Geschichte über sein Leben als Muslim in Schweden, eine Auseinandersetzung mit dem Islam und Terror im Namen des Islam und über die ganz persönlichen und sehr konkreten Auswirkungen all dessen auf das Leben des Autors. Anyurus Roman ist ein komplexes Buch. Im Roman wird die Begegnung mit Nour zum konkreten Auslöser einer Veränderung im Leben des Autors, denn obwohl er die Aufzeichnungen der jungen Frau als Hirngespinst einer Kranken abtun will, gelingt das nicht und er gerät selbst in einen Strudel aus Gedanken und Ängsten. Als Leserin fragt man sich unentwegt, was es mit dem Manuskript eigentlich auf sich hat. Ist es tatsächlich lediglich Ausdruck der Psychose seiner Verfasserin? Wie passt die Zukunft, von der sie schreibt, in ihre Vergangenheit? Was bedeutet all das im Kontext des Romans? „Sie werden in den Tränen ihrer Mütter ertrinken“ behandelt sein Thema aus einer für uns eher ungewohnten Perspektive so mutig wie differenziert. Wer klare und eindeutige Antworten sucht, der wird mit dem Roman wohl seine Probleme haben. Anyurus Roman verwirrt und möchte verwirren, verliert dabei jedoch nie seine Grundspannung und schert sich nicht um Leseerwartungen. Ein forderndes Buch, dessen Lektüre sich lohnt.

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