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Rezensionen zu
Der Trompeter von Sankt Petersburg

Christian Neef

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Weiße Nächte an der Newa

Von: Michael Kuhl

13.06.2019

Als die Gemeinde Potschappel im Döhlener Becken 1921 ihre Unabhängigkeit verlor, war Oskar Böhme schon lange nicht mehr Bewohner der kleinen Stadt im freien Tal. Potschappel, als Tor im Plauenschen Grund am Fuße Dresdens gelegen, war nie eine bedeutende Stadt. Ob Potschappel viele berühmte Töchter und Söhne kommen und gehen sah, wissen wir nicht. Wahrscheinlich nicht. Immerhin wissen wir, dass Oskar Böhme in Potschappel geboren war, aufwuchs und nach dem Studium am Leipziger Konservatorium vom roten Königreich ins zaristische Russland zog. Freilich trieb Böhme die Karriere in den Osten. An die Newa um genau zu sein. In Peters große Stadt, wo seit vielen, vielen Jahre im besten Sinne deutsch gesprochen wird. Böhme begibt sich in exquisite Gesellschaft. Diese erwartet ihn nicht unbedingt, erfreut sich aber seines Könnens. Böhme ist Musiker und in dem, was er tut, nicht von schlechten Eltern. Bereits sein Vater spielte Trompete und Musik gehörte freilich ins Haus. Deutsche Trompeter sind Exportschlager zu dieser Zeit und der Zar weiß sehr wohl, dass es lohnt, Summen in seine Theater zu investieren. Investieren, das Schlagwort der Zeit. Überall in Europa und der Welt. Und bald bricht Krieg aus in Europa und der Welt und eine große Investition – die größte vielleicht für Russland und das junge Jahrhundert – fährt im Schlafwagen Richtung Peters große Stadt. 1917 endet zwar nicht Oskar Böhmes goldene Zeit. Die der deutschen Bevölkerung an der Newa gewiss. Bis Böhme 1935 das gleiche Schicksal ereilt, wie seinerzeit unliebsame Untertanen, wird noch so manche weiße Nacht von Petersburg bis Orenburg die Sonne nie untergehen lassen. Petersburg – Petrograd – Leningrad. Christian Neef schmettert breite Töne aus weicher Kehle, wenn er vom Glanze großer Namen bedächtig schreibt. Historisch stichhaltig widmet sich Neef auf 370 Seiten zuzüglich Anhängen dem Leben des Musikers und Komponisten Oskar Böhme. Böhme, Pate einer Musikergeneration und Musterbild der Deutschen an der Newa. Ehrenbürger in Peters großer Stadt und Verbannter des NKWD. Neef greift Böhmes Leben auf, um Vergangenes gegenwärtig zu verhandeln. Sein beruflicher Hintergrund tritt deutlich hervor, was dem Buch Tiefe und Verständlichkeit verleiht, aber auch Langen abverlangt. Als belletristisches Sachbuch ist ‚Der Trompeter von Sankt Petersburg‘ die kleine Geschichte in der großen. Mit zahlreichen Abbildungen illustriert, hat Neef ein Buch vorgelegt, dass journalistisch wie geschichtswissenschaftlich als gutes Werkstück brilliert. ‚Der Trompeter von Sankt Petersburg‘ belegt als Fachliteratur für breites Publikum geschrieben – für Hobbyhistoriker und geneigte Russlandfreunde – wie Historisches gut aufgearbeitet und sprachlich luzide sein Papier auf jeden Fall wert ist, auf dem es gedruckt. Mein Fazit: Prädikat sehr gut als historischer Reiseführer und Opernguide für weiße Nächte an der Newa. Herbstliteratur mit Gesellschaft als Anschauungsobjekt in unruhige Zeiten. In Zeiten, in denen insbesondere die Kunst nie über den Dingen steht. In Potschappel und Petersburg und sonst wo auf hoher See und vor Gericht.

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Oskar Böhme ist Trompeter. Er wächst Ende des 19. Jahrhunderts in einer deutschen Musikerfamilie auf. Bei den Bayreuther Festspielen 1892 wird er dort mit seinem Bruder Willi bejubelt. Mit nur 27 Jahren ist er ein im In- und Ausland bekannter Musiker. Er beginnt mit ersten Kompositionen und vor allem sucht er nach einer künstlerischen Heimat. Nicht alle begabten Jungmusiker können innerhalb Deutschlands eine Anstellung finden. Oskar Böhme versucht 1892 sein Glück in der aufstrebenden Metropole St. Petersburg. Die Stadt an der Newa beherbergte über zwei Jahrhunderte hinweg viele Deutsche. Durch die russischen Zaren angeworben, kamen Handwerker, Künstler, Ärzte und viele Intellektuelle nach St. Petersburg. Viele nahmen wie Oskar Böhme die russische Staatsbürgerschaft an. Das blühende kulturelle und auch wirtschaftliche Treiben der um die Jahrhundertwende schon Millionenstadt nahm durch die Revolution 1917 ein jähes Ende. Der langjährige Spiegel-Korrespondent in Moskau Christian Neef hat ein beeindruckendes Zeitdokument der Deutschen in St. Petersburg verfasst, das so manche Bildungslücke zu schließen vermag. Dafür hat er umfangreiche Recherchen nicht nur an der russischen Nationalbibliothek in St. Petersburg unternommen, er hatte auch Zugang zu Dokumenten des russischen Geheimdienstes. Neben der tragischen Biographie des Musikers Oskar Böhme beschreibt Neef drei weitere Familien, deren Schicksal mit dem Untergang des Zarenreiches einen tragischen Verlauf nahm: die Apotheker-Dynastie Poehl, den Kalenderfabrikanten Otto Kirchner und die Siedlerfamilie von Peter Amann. Geschickt verschränkt Neef die vier Lebensgeschichten seiner Protagonisten, die stellvertretend für viele Tausend andere Menschen stehen könnten. Spannend geschrieben, bietet die Lektüre mehr als eine Nacherzählung der dunklen Stalin-Ära. Sie bringt gerade heute ins Bewusstsein, wie wenig Unterdrückung und Terror zur Entwicklung eines Staates beitragen können. Innerhalb weniger Jahre wird eine blühende Stadt ihrer kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Elite beraubt. Der Autor hebt am Ende hervor, dass Russland selbst die Rehabilitierung der vielen unschuldigen Opfer des Terrors in die Hand genommen hat. Viel zu wenig weiß man gerade in unserem Land über diese Millionen Toten, die Opfer einer Willkürherrschaft wurden – zu einer Zeit, in der in Deutschland Hitler an die Macht kam.

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