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Rezensionen zu
Das andere Berlin

Robert Beachy

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€ 24,99 [D] inkl. MwSt. | € 25,70 [A] | CHF 34,50* (* empf. VK-Preis)

Homosexualität gibt es, seit es Menschen gibt. Die Auseinandersetzung jedoch damit und die Entstehung einer homosexuellen Identität, d.h. eines Bewusstseins, homosexuell zu sein und dies als von der Natur gegeben zu empfinden, ist eine Idee der Neuzeit, um genau zu sein des ausgehenden 19.-Jahrhunderts. Und diese Bewegung der Identifikation nimmt ihren Ausgang ausgerechnet in Berlin, der Hauptstadt Preußens und später des Deutschen Reichs. Hier wird, so die These Robert Beachys, Homosexualität erfunden. Mich hat das Buch, das ich gratis als Rezensionsexemplar ausgesucht habe, von Anfang an fasziniert. Ich wusste, dass in Berlin in den Zwanziger Jahren eine realtiv offen existierende homosexuelle Kultur gefunden werden konnte, aber Beachy geht noch weiter zurück und folgt der Frage, wie in Deutschland zwischen 1871 und 1933 Homosexualität allmählich wissenschaftlich betrachtet wurde und wie sich das Bild vom Sexperversling zur anders-orientierten Sexualität entwickelte. Dabei geht er nicht nur historisch vor, sondern arbeitet eben auch sozilogisch, juristisch und greift medizinische Diskussionen auf. Er wertet Akten und Quellmaterial aus und leitet mich als Leser durch diese Thesen. Sehr gut gefallen am Buch hat mir, dass Beachy es schafft, trotz eines streng wissenschaftlichen Vorgehens und eines sehr sachlich-forschenden Schreibansatz nie trocken zu klingen, sondern mich abzuholen und mir z.B. das Verständnis vom Begriff "Identität" zu vermitteln, das man benötigt, um seinen Thesen zu folgen. Ich hab das Buch ohne weiteres abends nach langen Arbeitstagen lesen und trotzdem alles nachvollziehen können. Das liegt auch an den gut ausgewählten und erzählten Beispielen, mit denen die Thesen unterstützt werden. Dieses Buch ist absolut empfehlenswert, wenn man sich für Geschichte oder Soziologie interessiert. Darüber hinaus hilft es dabei, ein Verständnis zu entwickeln für homosexuelle (Sub-)Kultur und die Frage nach dem Umgang der Mehrheitsbevölkerung mit Schwulen. Weniger mit Lesben, wie Beachy selbst betont, diese Geschichte muss noch wissenschaftlich untersucht werden - das ruft doch einfach nach Band 2. Alles in allem also totale Empfehlung von mir und vielen Dank an den Siedler-Verlag für dieses Buch :-)

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Dass ausgerechnet Deutschland und insbesondere Berlin zwischen 1867 und 1933 das Eldorado, ja das Gelobte Land für Homosexuelle war und dass die Homosexualität im Deutschland dieser Jahre gar „erfunden“ wurde, ist irgendwie schwer zu glauben, zumindest bis man diese hervorragende Analyse liest. Der in Seoul lehrende Historiker schreibt dabei allerdings mehr als nur ein spannendes Sachbuch zur „Erfindung“ der Homosexualität im Deutschen Lande, denn in „Das andere Berlin: Die Erfindung der Homosexualität. Eine deutsche Geschichte 1867 – 1933“ entfaltet der gebürtige Puerto Ricaner ein Zeitpanorama nicht nur der Stadt Berlin, sondern auch der deutschen Geistes- und Politikgeschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Als ich in der Vorschau des Verlages das Buch entdeckte, war ich schon etwas verwirrt. Schließlich steht da das „Erfindung“ im Titel und mit Ausnahme einiger weniger Hardliner würde heute niemand mehr bestreiten, dass Homosexualität eine angeborene Neigung ist. Bestimmt durch Genetik und Biologie, nicht durch Entscheidungen. Und dennoch spricht Beachy von „Erfindung“ und ist dabei, wie man schnell feststellen muss, wenn man ein wenig recherchiert, nicht der einzige: Eine Großzahl lesbisch-schwuler Soziologen und Philosophen der letzten Generationen (beispielsweise Mary McIntosh und Michel Foucault) sprechen von der „Erfindung“ der Homosexualität. Homosexualität als sexuelle Orientierung und Identität Damit meinen sie jedoch nicht, dass Frauen und Männer zu anderen Zeiten keinen gleichgeschlechtlichen Sex gehabt hätten. Auch Beachy stellt alsbald klar, was mit „Erfindung der Homosexualität“ gemeint ist: "Ein zentrales – wenn nicht das zentrale – Element, das die moderne Homosexualität charakterisiert, ist die Akzeptanz der erotischengleichgeschlechtlichen Anziehung als einen grundlegen Bestandteile der biologischen oder psychologischen Veranlagung des Individuums. Homosexualität wird demzufolge definiert und konstruiert im Rahmen der Debatte um den innenwohnenden Charakter der sexuellen Identität […]. Wie die Geschichte dieser Debatte weiter andeutet, ist die Vorstellung von einer (homo)sexuellen Persönlichkeit ein relativ neues Konzept." (16) Mit Erfindung ist folglich nichts anderes als die Schaffung einer per se homosexuellen Orientierung und Identität. Und eben jene Erfindung fand, laut Beachy, im Deutschland des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts statt. Sein Anliegen, die Erfindung der Homosexualität, „zu historisieren“ (17) geschieht in acht Kapiteln, beginnend im August 1897 mit dem Anwalt Karl Heinrich Ulrichs, der sozusagen als Erfinder der Homosexualität bezeichnet werden kann. Selbst homosexuell, entwickelte er das nötige Vokabular, um (moderne) sexuelle Identitäten zu beschreiben; er sprach zwar noch nicht von homosexuell oder schwul (beide Begriffe übrigens deutsche Erfindungen), sondern benutzte den Begriff „‚Urning‘ zur Bezeichnung der Identität jener Männer, die Angehörige ihres eigenen Geschlechts lieben“ (45). Auf einer Juristentagung hielt Ulrichs einen Vortrag über „Urning“ und rief dazu auf, das preußische Sodomiegesetz, bekannt vor allem unter „Paragraph 175“ nicht in das gesamtdeutsche Strafgesetz aufzunehmen. Leider vergebens. Obwohl Paragraph 175 schließlich ins Strafgesetzbuch aufgenommen wurde und homosexuelle Handlungen damit unter Strafe standen, entwickelte sich gerade in Berlin eine wahre Subkultur. Mehrere kleine Bars entstanden, mit ausschließlich homosexueller Klientel. Es kam auch zu Razzien in einigen dieser Bars, aber schlussendlich entschied man sich in den 1880er-Jahren zur Duldung jener Szene. Man schaffte ein „Homosexuellen-Dezernat“ bei der Polizei und es kam zu einer „Politik der bedingten Tolerierung“ (97) seitens der Polizei: "Mit dem geographischen Wachstum der Stadt war es weder kosteneffizient noch realistisch, jeden Park und alle öffentlichen Räume zu überwachen. Statt also aggressiv potenzielle illegale Aktivitäten zu unterbinden […], lautete die neue Devise nun, die homosexuelle Fraternisierung in gewissen Grenzen zu tolerieren." (97) So konnte die homosexuelle Subkultur in Berlin gedeihen und es entwickelten sich nicht nur immer mehr Bars und Clubs, sondern auch abendliche Veranstaltungen entstanden und fanden, nicht nur unter Homosexuellen, rege Beliebtheit. Doch trotz dieser Duldung und der bedingten Tolerierung kam es nicht zu einer gesellschaftlichen Anerkennung der Homosexualität als Identität und sexuelle Orientierung. Magnus Hirschfeld, bekannter deutscher Sexualforscher und Begründer der ersten Homosexuellen-Bewegung, setzte bei Ulrichs an und kämpfte ab 1897 mit Hilfe wissenschaftlicher Untersuchungen und Theorien nicht nur für die Anerkennung der homosexuellen Identität, sondern auch für die Streichung des Paragraphen 175 aus dem Strafgesetzbuch. Mit der Gründung des Wissenschaftlich-humanitären Komitees in eben jenem Jahr und der Gründung des Instituts für Sexualwissenschaft im Juli 1919 setzte er sich in Wissenschaft, Gesellschaft und Politik für die Rechte der Homosexuellen ein, erreichte auch erste Fortschritte, aber zu einem wirklichen Paradigmenwechsel in Politik und Gesellschaft kam es nicht. Zu Zeiten der Weimarer Republik gab es zwar durchaus positive Zeichen und alle Flaggen standen auf Strafrechtsreform, was alleine Hirschfeld und seinem Institut zu verdanken war, aber schließlich konnte sich der Strafrechtsausschuss des Reichstags nicht für eine Reform entscheiden. Auch wenn dies ein Rückschlag in der Homosexuellen-Bewegung war, ließ sich Hirschfeld nicht von seinem erklärten Ziel abbringen. Und auch die homosexuelle Subkultur in Berlin hatte sich stets weiter entwickelt und zog seit einigen Jahren Homosexuelle und auch Mitglieder der heutigen als LGBT bezeichneten Personengruppe aus ganz Europa und sogar Amerika an, aber es blieb letztlich bei der Duldung. Als die Nazis dann 1933 die Macht ergriffen, Hitler Reichskanzler wurde und im Juni desselben Jahres zur Bücherverbrennung durch die Nazis kam, musste Hirschfeld fliehen. Das Institut für Sexualwissenschaft in Berlin wurde geplündert und damit auch die Homosexuellen-Bewegung niedergetrampelt. An dieser Stelle endet auch Beachys historisierende Analyse; der Rest – also die Zeit zwischen 1933 und 1994, als es endlich zur Streichung des Paragraphen 175 kam – ist Geschichte. Was Beachys Buch so zu einem so exzellenten Buch macht, ist nicht nur die äußerst gelungene und reichlich dokumentierte Untersuchung – die noch viel mehr Aspekte umfasst, als die hier gegebene Skizze – ist der so unheimlich umfangreiche interdisziplinäre Blick. Beachy arbeitet nicht ausschließlich historisch-anthropologisch, sondern wirft, wie bereits gesagt, einen Blick auf die Geistes- und Ideengeschichte der entsprechenden Zeit, blickt auch auf die Rechtsgeschichte, arbeitet stellenweise linguistisch und erklärt ausführlichst die schwule Presse der Zeit. Dieses Buch ist weit mehr als ein gelungenes Sachbuch; von einer meisterhaften Darstellung und Dokumentation kann man sprechen, ohne zu übertreiben. Und am Ende bleibt nur ein Wunsch: Ein zweites Buch von Beachy über die homosexuellen Szene in Berlin während der Nazizeit, denn bekanntlich waren auch einige Nazigrößen, Beachy spricht es selbst an, homosexuell.

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