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Rezensionen zu
Der von den Löwen träumte

Hanns-Josef Ortheil

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In Ortheils Buch geht es vordergründig um Hemingway, seine Frauen, seine Saufgelage und den Schmerz über eine Schreibblockade, die er mal mit dem einen, mal mit dem anderen zu betäuben sucht. Und es geht um den Kampf einer Fischerfamilie vor den Toren Venedigs um den sozialen Aufstieg. Vater Sergio, Journalist der örtlichen Klatschzeitung wird zuerst auf Hemingways Ankunft in der Lagunenstadt aufmerksam. Er bringt sich und seine Familie bei dem prominenten Schriftsteller »in Dienst« um ihn auszuhorchen, durch Artikel und Interviews aus dem Umfeld Hemigways, eigenen Nutzen zu ziehen. Seine Kinder, anfangs williger Teil des väterlichen Projekts, entwickeln sich schnell wieder raus aus dieser Vereinnahmung und finden ihren eigenen Weg. Martha erkennt schnell, dass ihr der soziale Aufstieg hier nicht gelingen wird, nutzt aber den Impuls, den Hemingway ihr bietet, ihren eigenen Weg zu finden. Paolo reagiert zunächst mit Rückzug. Für Sergio ist die Meta-Ebene zu hoch und für Elena zahlt sich die Rolle im Hintergrund am Ende aus. Für den Protagonisten Hemingway bleiben sie Boten, Handlanger und Schachfiguren auf seinem Brett. Hemingway interessiert sich nur für die adlige Adriana im altehrwürdigen Palazzo, nicht für die Fischer aus den sozialen Randgebieten. Ihr läuft er hinterher, ent- und verführt sie, benutzt ihren sozialen Stand und die Einfältigkeit ihrer Jugend für den Versuch sich aus seiner eigenen Misere zu ziehen. Das geht schief – für alle Beteiligten. Paolo, der sechszehnjährige Sohn der Familie durchschaut das falsche Spiel des prominenten Gastes schon, als der Vater sich noch an das Trittbrett eines längst abgefahrenen Zuges klammert. Er ist, der den alternden Hemingway zwang sich dem Leben zu stellen, statt mit jungen Mädchen durch die Bars zu ziehen. Paolo, der der sich entzieht, wird zum Katalysator Hemingways größten Erfolges und bleibt der moralische Sieger des Buches. Hemingway, der auf Kuba lebte, hatte eine besondere Liebe zu Venedig, dass er auf seinen Europa-Aufenthalten regelmäßig besuchte. Die Lagunenstadt mit ihrem maroden Charme lässt ihn das eigene Altern vergessen und das Leben und die Leichtigkeit des Seins spüren. Sein magisches Dreieck waren Harry’s Bar an der Piazza San Marco, das Gritti Palace Hotel und Cortina, die Bar. Für seinen Roman mietete sich Ortheil just in jene zauberhafte Locanda Cipriani auf Torcello ein, in der auch Hemingway 1948 wohnte. Er saß am Schreibtisch des Meisters, schlief in seinem Bett und sah den Campanile vor dem Fenster mit seinen Augen. Gut durchkomponierter Roman, in dem der Autor seine Distanz zu jeder Figur hält, dem dadurch jedoch italienische Sinnlichkeit fehlt. Der Autor nutzt Hemingway als schneidigen Aufhänger für seinen Roman und tut damit das, wozu seinem Protagonisten Sergio am Ende Mut und Entschlossenheit fehlen. Damit stellt sich der Autor eher hinter den gescheiterten Sergio als – wie seine Rezensenten meinen – den Gottvater Hemingway zu kopieren. Insgesamt bietet der Roman tiefgründigen Lesespass, Sommerlektüre mit Anspruch.

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Eher durch Zufall ist mir vor drei Jahren „Der Stift und das Papier“ von Hanns-Josef Ortheil in die Hände gefallen. Danach stand fest: Ich mag die unaufgeregte Erzählweise des Autors, der es schafft, präzise und bildlich zu beschreiben, was außen um seine und innen in seinen Protagonist*innen vorgeht. So ist es nicht verwunderlich, dass ich auch an „Die Mittelmeerreise“ Gefallen gefunden habe – ein weiteres autobiographisches Werk aus Ortheils Feder. Das Buch im Buch: Hanns-Josef Ortheil schreibt über Ernest Hemingway Im nächsten Buch, „Der von den Löwen träumte“, geht es nicht um Ortheil selbst, aber doch wieder um einen Autor: Ernest Hemingway. Insofern dreht es sich zumindest wieder um das Schreiben. Ein Sujet, das sich wie ein roter Faden durch Ortheils Schaffen zieht. Wahrscheinlich kann sich der Deutsche ganz gut in den US-Amerikaner hineinversetzen. Vielleicht faszinieren ihn Hemingways Verstrickungen während dessen Venedig-Aufenthalts, die Suche nach neuem Material und – am Ende fließen tatsächlich zwei Werke aus Hemingways Feder: der Roman „Über den Fluss und in die Wälder“ und die Novelle „Der alte Mann und das Meer“. Beide könnten unterschiedlicher kaum sein. Doch auf Anfang! Ernest Hemingway in Venedig Wir schreiben das Jahr 1948. Ernest Hemingway kommt in Venedig an. Mit dabei: seine vierte Frau Mary. Der Autor befindet sich in einer Krise. Der nächste Bucherfolg lässt auf sich warten. Dass der Autor mehr den Bars als den Buchstaben frönt, ist kein Geheimnis. Trotzdem will er es noch einmal versuchen. Die Lagunenstadt liefert hoffentlich die nötige Ruhe und doch ausreichend Inspiration und Stoff für eine spannende Erzählung. „Ich schreibe immer an einem Buch, ich lebe nicht, ohne daran zu schreiben. Die Frage ist nur, ob es ein gutes Schreiben ist und ob ich es präzise genug höre.“ Der Reporter Sergio Carini befindet sich ebenfalls in einer Krise. Die Tageszeitung „Il Gazzettino“, für die er schreibt, erwartet eine gute Story. Man hat die anonyme Nachricht erhalten, dass der weltberühmte Autor Ernest Hemingway überraschend in der Stadt gelandet ist. Jetzt soll Carini liefern. Doch wie soll er dem Autor nahekommen, ohne sich dabei aufzudrängen, ihm auf die Pelle zu rücken? Geht er zu vorsichtig vor, geht ihm die Geschichte durch die Lappen. Ist er hingegen zu forsch, verliert er genauso. Wie soll er bloß das Vertrauen des US-Amerikaners gewinnen? Hier kommt Paolo ins Spiel, der Sohn von Sergio. Der junge, zurückhaltende Fischer schlägt schnell ein unsichtbares Band zu Hemingway. Dabei beginnt die Bekanntschaft mit einer ganz praktischen Übereinkunft: Paolo wird Hemingway durch die Kanäle der Stadt schippern und dem Autor den Blickwinkel eines Einheimischen offenbaren. Schließlich ist Hemingway, anders als Mary, nicht hier, um die Sehenswürdigkeiten von Venedig zu bewundern. Er möchte nicht die großen Plätze, sondern die kleinen Seitenstraßen kennenlernen. Dabei macht er auch die Bekanntschaft mit der jungen Adriana Ivancich – sehr zum Unmut von Mary. Doch Ortheil lässt uns eher zwischen den Zeilen lesen, dass hier zwei Hemingways auftreten. Die Facetten des Autors spiegeln seine innere Angespanntheit wider und zeigen, wie sehr der Autor sich von vorangegangenen Erfolgen in die Enge getrieben fühlt und doch gleichzeitig den Ruhm und Rummel um seine Person durchaus genießt. Damit wir als Leser*innen das sehen, brauchen wir Paolo und Adriana, die aus Hemingway, jede*r auf seine und ihre Weise, einen anderen machen. Die Gesichter und Geschichten von Ernest Hemingway Die deutlichste Beschreibung (irgendwann muss auch Ortheil mal beschreiben – er kann nicht immer nur zeigen) finden wir wohl auf S. 91: „Ein Wichtigtuer war er auf keinen Fall, den Angeber dagegen hatte er durchaus manchmal drauf, einfach deshalb, weil er schlichte Sätze zu so elenden Verhältnissen wie denen des Krieges nicht ertrug. Angeberei war ein Mittel, sich an Worten zu besaufen und den Krieg zu ersticken, man verlieh sich eigene, selbst gemachte Orden, und man führte sie aus, indem man die Umgebung herunterredete.“ Sympathisch kommt Hemingway nicht herüber. Aber seine widersprüchliche Person gibt guten Romanstoff her. Dabei überlässt es Ortheil den Leser*innen selbst, ob sie sich auf das Private oder Handwerkliche des Schriftstellers stürzen oder einfach beides aus dem Buch mitnehmen. Es bleibt offen, wie viel Ortheil von sich selbst in Hemingway legt, wenn er zum Beispiel schreibt: „[…] Ich kehre hier ein und dort, höchstens die Accademia werde ich vielleicht regelmäßig besuchen.“ „Warum ausgerechnet die?“ „Um jeweils ein einziges gutes Bild genau zu studieren. Präzises Sehtraining ist eine gute Vorübung für präzises Schreiben.“ Unweigerlich kommt mir dabei auch Thomas Bernhard in den Kopf, und sein Werk „Alte Meister“, das im Kunsthistorischen Museum in Wien spielt. Offenbar haben Autor*innen stets mindestens ein weiteres Steckenpferd neben dem Schreiben. Sie genießen ausgewählte Werke der Malerei oder Musikstücke oder beides. Schließlich steckt auch in den anderen Künsten die Essenz dessen, was sie zu Papier bringen wollen: ein Stück Leben, gefiltert durch die Betrachtungsweise eines anderen oder einer anderen. Dem Lesen verweigern sich dennoch viele Autor*innen. Auch Bernhard war dafür bekannt, nichts von dem, was normalerweise unter „Literatur“ fällt, gerne zu lesen. Belletristik? Lieber nicht. Stattdessen las er lieber dicke Wälzer und Monumentalwerke von Philosophen, ich denke, als eine Art von Gehirnjogging. Ihm wäre es jedoch nicht eingefallen, ja, bestimmt auch aus einer gewissen Angeberei heraus, in anderen Werken zeitgenössischer Literatur zu blättern, geschweige denn sie zu lesen. Ein anderer Grund, sowohl für Bernhard als auch für Hemingway: Beide waren sehr in ihrem eigenen Gedankengebäude gefangen. Richard Cantwell, die Hauptfigur für den 1950 erscheinenden Roman, reflektiert das ganz gut. „Als solcher [Colonel der Infanterie in der amerikanischen Armee] hatte er den Krieg hinter sich, aber der Krieg steckte noch in ihm, und erinnerte sich jeden Tag an das, was er Furchtbares erlebt hatte. Wenn es stark in ihm aufstieg, begann er zu trinken, dann wurde es besser, und der Alkohol lenkte ihn an.“ Man begibt sich bei einer Rezension stets auf dünnes Eis, wenn Figuren aus dem Buch mit den Schreibenden gleichgesetzt werden, aber zumindest auf die Parallelen darf man ja doch hinweisen. Ernest Hemingway war Reporter und Kriegsberichterstatter während des Ersten Weltkrieges, aber eben nicht nur das. Ein kurzer Blick auf Wikipedia allein verrät: „zugleich Abenteurer, Hochseefischer und Großwildjäger, was sich in seinem Werk niederschlägt.“ In der Retrospektive lässt sich über die zwei Bücher sagen, für deren Plot die Venedigreise den Anstoß gegeben hat: Nur eins der Bücher wird positiv von Kritiker*innen aufgenommen. Und es ist nicht der Roman über den alternden Colonel, der mit der jungen Adriana eine (platonische) Beziehung eingeht, sondern die Novelle über den Fischer. Hier lässt Ortheil Paolo zu Wort kommen, warum er der Geschichte mit dem Colonel einen ganz anderen Plot geben würde, warum er auf Fischfang gehen solle: „Weil Fischen das Schönste, Beruhigendste und Beste für ihn ist. Es gewöhnt ihn wieder an die Natur. Es lässt ihm Zeit, sein Seelenheil wieder zu finden.“ – „Sein Seelenheil? Was soll das sein?“ – „Du weißt genau, was ich meine, frag nicht so scheinheilig. Es geht um das Seelenheil, um nichts anderes, und ein so schwierig wiederzufindendes Glück erwirbt man nicht dadurch, dass man mit jungen Frauen durch die Bars von Venedig flaniert.“ – „Sondern?!“ – „Sondern, indem man weit hinausfährt aufs Meer, weit weg von den Bars, weit weg vom Alkohol und den anderen Spielereien, mit denen man Menschen den Kopf verdreht.“ Und 1952 erscheint dann auch die Novelle über den Fischer, der am Ende aber doch nur das blanke Skelett eines riesigen Marlins mit in den Hafen bringt. Den Rest haben die Haie auf See gefressen. Die Geschichte „Der alte Mann und das Meer“ stellt Hemingway nicht mehr in Venedig fertig, aber er übermittelt nach Veröffentlichung ein Exemplar an Paolo – mit persönlicher Widmung: „Für Paolo – in Dankbarkeit und Freundschaft – von dem alten Mann, der sich aufs Meer hinausgewagt hat.“

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In seinem Roman „Der von den Löwen träumte“ schildert Hanns-Josef Ortheil sein Schreiben und erzählt von Hemingway in Venedig „Etwas aufschreiben? Etwas von dem, was Hemingway zu ihm gesagt hatte? Über das Schreiben? Über Gott? Über das Beten? Vielleicht war es gar keine schlechte Idee. An welche markanten Sätze erinnerte er sich denn? O, da gab es viele.“ Derartige Gedanken mögen im Kopf desjenigen schwirren, der ein Buch über Hemingway schreiben will. Er muss den berühmten amerikanischen Schriftsteller gekannt haben, gut gekannt. Vielleicht ein Freund, der wie Hemingway ein Schriftsteller ist. Doch der Freund, den Ortheil in „Der von den Löwen träumte“ Hemingway zugesellt, und der dies denkt, ist ein junger Fischer aus Venedig. Er ist sogar eine Hauptfigur des Romans. Die zweite ist Hemingway, der im Jahr 1948 die Lagunenstadt in Begleitung seiner vierten Ehefrau Mary besuchte. Auch sie taucht in Ortheils Version dieser biographischen Begebenheit auf, spielt allerdings nur eine kleine Rolle neben Paolo, der Hemingway bei den Erkundungen der Wasserstraßen Venedigs begleitet. Das Titelbild illustriert die Situation. Eine Flusslandschaft mit Boot, blätterlose Büsche und Bäume am Ufer, am Bildrand ein Gebäude. Hemingway, der im Herbst seines Venedig-Aufenthalts 49 Jahre zählt, sitzt im Bug eines kleinen Boots, er hält ein Gewehr. Im Heck steht ein junger Mann, er hält das Ruder. Die Hauptfiguren des Romans sind eindeutig männlich. Zwar kündigt der Klappentext Hemingways Liebe zu einer achtzehnjährigen Venezianerin an, doch diese bleibt wie alle Frauen des Buchs eher blass. Nicht die Liebe, sondern das Schreiben spielt die Hauptrolle in Ortheils Roman. Er ist eng verknüpft mit „Über den Fluss und in die Wälder“, dem Venedig-Roman Hemingways. In vielen Passagen schildert Ortheil, wie Schreiben funktioniert, was einen Schriftsteller inspiriert, wie und was er notiert, wie er denkt und vor allem fühlt. Ortheil analysiert sein Handwerk und offenbart dem Leser, wie (s)ein Schriftsteller schreibt. Am bekanntesten Werk Hemingways, der Erzählung „Der alte Mann und das Meer“, zeigt er, — nota bene mit notwendiger Phantasie‑, wie Werke entstehen (könnten). Eine fulminante Zusammenfassung der Erzählung fehlt nicht. Aus ihrem letzten Satz kreiert Ortheil den Titel seines Romans. Das Schreiben steht schon zu Beginn im Vordergrund. Auf den ersten Seiten lässt Ortheil Mary über Hemingways Schreibweise sinnieren und charakterisiert dadurch seine eigene. „Alles, was ihm auffiel, nahm er ernst, ging ihm nach, notierte seine Eindrücke, ließ sie sich setzen und machte aus ihnen nach einer Zeit der Klärung eine Geschichte (…).“ Noch vor Hemingway kommt der Leser in Venedig an und begegnet dort Sergio Carini, als Journalist ein Mann des Worts und die ideale Figur, um die Vorgeschichte Hemingways zu referieren. Carini plant ein Buch über den großen Meister. Aus diesem Grund nimmt er seinen Sohn Paolo mit ins Boot, der dieses fortan mit Hemingway teilt. Allerdings nach dessen Regeln, die auferlegte Diskretion führt nicht zu erwartbarer Distanz, sondern zu einem Vertrauen, aus dem Freundschaft entsteht. Hemingway bezieht mit Mary das Gritti und knüpft erste Kontakte. Er verhält sich wie andere Protagonisten in anderen Romanen Ortheils. Er erkundigt sich bei Einheimischen, wo sich gut und möglichst authentisch essen und trinken lässt, und begibt sich auf Entdeckungstour. Keinesfalls will er als Tourist erkannt werden, ein typisch Ortheil’scher Topos, und schon gar nicht als Schriftsteller-Star. Ortheils Hemingway überlässt seiner Frau das Sightseeing. Seine Museumspläne lassen eine gewisse Hybris spüren, bitte nur ein Bild und unbedingt etwas Venezianisches. Inkognito erkundet er Venedig, auf Nebenwegen durch kleine Gassen und Kanäle. Paolo führt ihn durch die verschlungene Lagunenstadt. Hemingway führt den Gehilfen im Gegenzug in die Geheimnisse der alkoholischen Genüsse und seiner Literatur ein. Um mit der Stadt und ihren Menschen vertraut zu werden, will er sie sensorisch erkunden, Gerüche und Geschmäcker gehören zum Geheimnis einer Gegend. Zu diesen „Momenten des Fußfassens“ zählen auch die heimlichen Fahrten mit dem Fischerboot. Das wachsende Vertrauen zwischen Paolo und dem Schriftsteller führt Hemingway zu Paolos Familie. Forciert wird dies durch einen Schachzug Martas, Paolos Schwester. Sie stößt in ihrer Vielseitigkeit nicht nur diese Handlungsebene an, sondern fungiert zugleich als Marys venezianische Gesellschafterin und als Adrianas English-Miss. Da ist sie, Adriana Ivancich, die Tochter aus einem noblen Palazzo, die mit Marta zur Schule ging und schon bald Hemingway auf die Jagd und in Bars begleiten wird. Adriana, die angekündigte „venezianische Verlockung“ Hemingways, das Vorbild für die Renata in „Über den Fluss und in die Wälder“, ist wie diese zu jung für ihrem amerikanischen Begleiter. Als Hemingway sie zum ersten Mal auf einer Brücke erblickt, erinnert sie ihn an die schönen schwarzhaarigen Venezianerinnen von Veronese und Tintoretto. Ortheil schildert seine Szenen mit wechselnden personalen Erzählern. Neben seinen beiden Hauptfiguren, Hemingway und Paolo, liegt diese Funktion auch bei Sergio oder Mary. Sergio spekuliert aus der Distanz über das Gemüt des Schriftstellers. Hemmt diesen „Etwas Psychisches. Eine bedrohliche Lähmung. Etwas, das im schlimmsten Fall einen schweren Zusammenbruch auslösen konnte.“? Ortheils detaillierte Beschreibungen erzeugen Atmosphäre. Sei es eine abendliche Fahrt über den Canal Grande, „Einige Zimmer in den Häusern zu beiden Seiten waren bereits erhellt. Das Licht war tiefgelb und füllte das Netzwerk der Räume wie flüssiger Honig.“ oder der Blick auf die Lagunenlandschaft, „Die sattgrünen Wiesen hatten weiche, pelzartige Ränder, und überall gruben sich helle Wasserrinnen durch die feuchtbraunen Äcker. Die großen Salzwiesen blinkten violett, und in der Ferne schimmerten die weiten Meerestiefen so hell, dass sie bis ins Weiße, Blendende übergingen. (…) Manchmal hinterließen sie kleine Wellen, sie zischten an den Ufern entlang oder schwappten, von den Windstößen getrieben, über die Wiesen und torkelten in ihre niedrigen Bettstellen.“ Allerdings fehlen auch nicht die gewohnten Ortheil’schen Ingredienzien, sei es das Einrichten eines Schreibplatzes oder penible Erläuterungen zu Speisen und Getränken, von der Zusammensetzung eines Montgomery bis zur fachgerechten Anleitung Austern zu öffnen. Zwischen Selbstverpflegung mit „guter Salami“ und Valpolicella kehrt er auch gerne in Harry’s Bar, Ciprianis Locanda auf Torcello und authentischen Privatküchen ein. Als weitere Zutaten finden sich neben Gondeln und Risotto Erinnerungen an Hemingways Kindheit und seine frühen Jahre. Durch die wechselnden Erzähler entsteht der Eindruck, daß nicht nur die Perspektiven wechseln, sondern auch die Identitäten. Umso mehr, als der Autor und seine Figuren große Schnittmengen in ihrem Denken und Schreiben zeigen. Das gilt nicht nur für den Schriftsteller Hemingway, sondern auch für den Journalisten Sergio, der ein Buch über den Venedig-Aufenthalt Hemingways schreiben will, sowie gegen Ende des Romans für Paolo. Im Denken und Handeln, beim Reden und Fühlen, ja sogar im Essen und Trinken sind die Figuren kaum voneinander abzugrenzen. Einzig bei einem Streit mit seiner Ehefrau Mary, meint man plötzlich einen raubeinigen Hemingway fluchen zu hören. Abgesehen von dieser Szene bleibt Mary blass, und auch die anderen Frauenfiguren in diesem Roman entwickeln wenig Persönlichkeit. Sie sind auf Rollen beschränkt. Adriana ist schön, Marta schlau und Elena Carini, Sergios Ehefrau und die Mutter von Marta und Paolo, kommt aus der Küche kaum heraus. Dem Schreiben als Hauptthema widmet sich Ortheil hingegen mit Leidenschaft. Wir erfahren, wie wichtig die Aufmerksamkeit fürs Detail ist. „Präzises Sehtraining ist eine gute Vorübung für präzises Schreiben“. Detailliert beschreibt Ortheil die Natur, Plätze und Fassaden, aber auch Innenräume. Einen besonderen Blick legt er auf die Malerei, die er nicht wegen ihrer Berühmtheit betrachtet, sondern als Angebot für Entdeckungen nimmt. All diese Wahrnehmungen notiert sich sein Schriftsteller. Die notierten Beobachtungen verbinden sich schließlich während des Schreibens an einem Roman mit der Fiktion. Diese Arbeitsweise, zu der Ortheil sich in Interviews und Büchern bekennt, schreibt er in seinem Roman Hemingway zu. Ortheil erlaubt sich Vermutungen, in welchen Schreibphasen und in welcher Verfassung Hemingways Venedig-Roman entstanden sein könnte, und lässt den jungen Paolo darüber sinnieren. „Ungeduldig und gereizt wie er (Hemingway) oft ist, war er seinen ersten Impulsen gefolgt und hatte nicht einmal daran gedacht, sie zu kaschieren oder gar zu verwandeln“. Auf den Vorwurf, daß Hemingway seine Begegnung mit Adriana für den Roman ausschlachte, erwidert dieser, „All das habe ich zusammen mit Adriana erlebt, und vieles von diesen Erlebnissen kann ich im Roman verwenden und beschreiben. (…) Ich schreibe nicht über sie, ich schreibe über Renata, und die ist eine andere Person“. Auf der letzten gemeinsamen Fahrt über die Lagune entwickelt Paolo die Idee zu einem ganz anderen Stoff, eine Erzählung von einem alten Mann und dem Meer. Ortheil erfindet also einen Fischerjungen, der Hemingway von seiner Schreibblockade befreit. Mehr als das, Paolo inspiriert ihn zu einer Erzählung, die zu seiner berühmtesten werden wird. Eine Fiktion, die den Schriftsteller wiederbelebt. „Der von den Löwen träumte“ gewährt, wenn auch zum Teil ästhetisierte wie idealisierte, Blicke auf Venedig und biographische Begebenheiten Hemingways, zugleich bietet der Roman Einblicke in das literarische Schreiben der Schriftsteller Ernest Hemingway und Hanns-Josef Ortheil. Das ist sein großes Plus. „Solange ich schreibe, brauche ich keine Abwechslung. Das Schreiben ersetzt alles, ich habe viele Jahre auf dieses Glück gewartet und werde es jetzt nicht leichtfertig verspielen.“

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