Sie haben sich erfolgreich zum "Mein Buchentdecker"-Bereich angemeldet, aber Ihre Anmeldung noch nicht bestätigt. Bitte beachten Sie, dass der E-Mail-Versand bis zu 10 Minuten in Anspruch nehmen kann. Trotzdem keine E-Mail von uns erhalten? Klicken Sie hier, um sich erneut eine E-Mail zusenden zu lassen.

Rezensionen zu
Gehen, ging, gegangen

Jenny Erpenbeck

(10)
(8)
(1)
(1)
(0)
€ 22,00 [D] inkl. MwSt. | € 22,70 [A] | CHF 30,50* (* empf. VK-Preis)

"Oft war es so, dass er am Beginn eines Projektes nicht wusste, was ihn vorantrieb, so als hätten seine Gedanken ein von ihm unabhängiges Leben und ihren eigenen Willen und warteten nur darauf, von ihm endlich gedacht zu werden, als existiere eine Untersuchung, die er erst anstellen würde, bereits, bevor er sie machte, und als sei auch der Weg quer durch das, was er wusste, sah, was ihm begegnete oder zustieß, in Wahrheit immer schon da, um von ihm, war er nur endlich so weit, begangen zu werden. ... Über das sprechen, was Zeit eigentlich ist, kann er wahrscheinlich am besten mit denen, die aus ihr hinausgefallen sind." Der emeritierte Professor der Humboldt Universität, Richard, Fachgebiet Alte Sprachen, aber auch Philosophie, lebt allein in einem Haus an einem See, irgendwo im früheren Ostteil der Stadt Berlin. Ich stelle mir vor, Richtung Müggelsee. Sein Leben lang hat er sich mit philosophischen Fragen beschäftigt und in seinem Kopf über Sinn und Zweck der menschlichen Existenz nachgegrübelt, durchaus in einem auf Intellekt gegründeten Sicherheitsabstand von dieser. Dass dabei auch seine eigenen menschlichen Beziehungen vielleicht eher distanziert blieben, wird immer dann klar, wenn er von seiner vor fünf Jahren verstorbenen Ehefrau und seiner Geliebten berichtet. In dem See, auf den er von seinem Haus blickt, war im Sommer jemand ertrunken, deshalb ist das ganze Jahr niemand darin schwimmen gegangen. Der See bleibt still und ungenutzt, ein beunruhigender Anblick. Der Tote im See ist vielleicht einer der Gründe dafür, dass Richard so besonders die Endlichkeit seiner Existenz und deren Leere, nach der Pensionierung, bewusst wird. All die Zeit, mit der er nicht mehr wirklich etwas anzufangen weiß. Also ein Projekt muss her. Ja, und vielleicht ist es wahr, dass die Dinge, die wir entdecken sollen, die Rätsel, die wir im Leben zu lösen haben, immer schon gelöst da sind, auf uns wartend, damit auch wir die Lösung begreifen können. Richard wurde pensioniert etwa zum gleichen Zeitpunkt, als die Flüchtlinge sich auf den Weg machten gen Berlin, um dort sichtbar zu werden, um dann ein Zeltlager am Oranienplatz aufzuschlagen, in der Hoffnung, damit den Staat Deutschland dazu zu bringen, ihre Situation wahrzunehmen und möglicherweise zum Besseren zu wenden. All das interessiert Richard nur peripher. Er ist ein stiller Mensch, der in seinen Gedanken lebt, auch in seinen Erinnerungen und seit der Pensionierung, allein, auch ein wenig aus der Zeit gefallen ist. Irgendwann nimmt er die Flüchtlinge aber wahr, in den Nachrichten, und etwas an ihnen zieht ihn stark genug an, so dass er sich eines Tages aufmacht zum Oranienplatz. Das hat mit Zeit zu tun. Er setzt sich zwei Stunden auf eine Bank und beobachtet das Treiben im Camp. Währenddessen kann der Leser beobachten, wie in Richards Denken Verbindungen geknüpft werden, Synapsen miteinander reagieren und er am Ende irgendwann zu dem Schluss kommt, dass er ein neues Projekt hat, ein Forschungsprojekt zum Thema Vergänglichkeit und Zeit, und dass die Flüchtlinge am Oranienplatz genau die Richtigen sind, um Fragen zu beantworten, die diese Thematik erhellen können, die damit vielleicht auch noch einmal neu den Sinn des Lebens deutlich machen, oder nicht. Denn sie sind aus der Zeit hinaus gefallen und gleichzeitig in ihr eingesperrt. Ihr Leben ist on hold. Eine Situation, die ihm nicht unvertraut ist. Hat er doch in der DDR gelebt und erfahren, dass ein Staat sich innerhalb weniger Wochen komplett auflösen kann. Dass alles das, worauf wir gerade noch unsere Identität gründen, sich in Nichts auflösen kann. Wenn einem das im eigenen Leben nicht widerfährt, ist das ein Glück, kein angeborenes Recht. Zwei Wochen liest er und stellt einen Fragenkatalog zusammen. Als er dann am Oranienplatz ankommt, um seine Fragen an den Mann zu bringen, ist das Camp gerade aufgelöst worden, die verschiedenen Menschen wurden auf verschiedene Orte in der Stadt, am Stadtrand verteilt, die Gemeinschaft dabei aufgelöst. Richard findet eine Gruppe von ihnen wieder, in einem leerstehenden Altersheim gar nicht weit von seinem Haus und dem See entfernt. Er geht hin und beginnt seine Interviews. Peu à peu erfährt er immer mehr Lebensgeschichten, Umstände, Gründe, warum sich junge, afrikanische Männer auf den verzweifelten Weg nach Europa machen. Richard ist ganz und gar kein politischer Mensch. Er nähert sich den Flüchtlingen nicht, weil er ihre Situation verändern möchte. Naiv geht er auf sie zu, weil er ein Projekt hat, von dem er glaubt, dass sie ihm bei der Erforschung helfen können. Dass diese Forschungsarbeit letztendlich dazu führt, dass auch sein Leben sich vollkommen verändert, ist vielleicht nicht ganz überraschend für den Leser und beweist den Satz, den Richard irgendwann denkt: "Es ist wichtig, dass er die richtigen Fragen stellt. Und die richtigen Fragen sind nicht unbedingt die Fragen, die man ausspricht." Was mir an dem Buch gefallen hat, sind diese Dinge: dass es im Grunde eine Art Poetologie mitliefert. Es ist ein Buch über die Zeit und die Vergänglichkeit, vor allem die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens. Man kann während der Lektüre Richards Gedanken- und Entwicklungsgang fast 1 : 1 mitverfolgen und damit die Entstehung dieses Buches. Denn letztlich hat es in seinem Zentrum Richards Projekt, das ihm nicht die Fragen unbedingt beantwortet, die er laut stellt, sondern viele, die er nicht stellt. Am Ende hat er im Grunde ein neues Leben. Am Ende hat er Beziehungen in einer Intensität, die für ihn neu ist. Am Ende hat er auch gelernt, wer seine Freunde sind. Wie kurz ist unsere Zeit nur und wie privilegiert sind jene, die sie selbstbestimmt hier gestalten önnen und dürfen. Wenige sind es, vergleichsweise, die dieses Privileg genießen. In dem Buch trifft man auf so viele, die vom Leben herum geworfen werden. Richard reflektiert all dies, der Wissenschaftler, der Denker, der Belesene. Er sieht in den jungen Afrikanern nicht die normalen Klischees, sondern Charaktere aus Sagen, aus der Literatur, der Geschichte, sie regen ihn dazu an, seine philosophischen Konzepte zu ergänzen und zu überdenken. Von Anfang an versteht er ihre Geschichten in einer menschlichen Allgemeingültigkeit, gerade weil er auf eine Art naiv an sie herantritt. Er hat keine vorgefasste Meinung, keinen politischen Standpunkt. Er ist einfach als neugieriger Mensch, getrieben vom Interesse an der Lösung seiner Forschungsfrage, auf sie als Menschen, von denen er annahm, sie könnten ihm helfen, zugegangen. Da ist soviel Verwunderung, offensichtliches Überraschtsein über die Lebenssituation der Männer, aber auch über den Umgang der deutschen Bürokratie mit Mord und Totschlag. Man kann ja alles verwalten. Man kann, bürokratisch genug, ein ganzes Leben in den Staub einer Aktenlandschaft hinein verwalten. Da bleibt keine Lebendigkeit mehr übrig. Diese Unschuld, könnte man beinahe sagen, erhält er sich die ganze Zeit. Auch als er so viele der Geschichten der Männer kennt, ihnen Schritt für Schritt näher kommt, spulen in seinem Kopf niemals Vorurteile ab. Seine Reaktionen sind immer genuin und souverän. Wenn einer der Männer aufs Amt geht, begleitet er ihn. Er regt sich auf, wenn dort etwas ungerechtes geschieht. Er hilft, wenn er kann. Er drängt sich nicht auf. Wenn einer der Afrikaner ihn einen Unterstützer nennt, scheint das Richard beinahe zu irritieren, denn er sieht sich selbst nicht als Unterstützer. Weshalb sein Umgang mit den Männern respektvoll und auf Augenhöhe geschehen kann. Er sieht sie nicht als Opfer. Ihm ist bewusst, wie leicht er selbst in einer derart machtlosen Lebenssituation hätte landen können. Dass es niemandes Verdienst ist, wenn er die Mittel hat, sein Leben im Griff zu haben. Man kann die Situation anderer Menschen ja niemals beurteilen. Gestern sah ich mit einer Freundin den Film I Am Not Your Negroe, über James Baldwin und sein nicht vollendetes Buchprojekt über den Mord an seinen Freunden Medgar Evers, Malcolm X und Martin Luther King. Es ist ein Film über den Rassismus in den USA. Ich sah ihn aber als Film über Rassismus im allgemeinen. Die Weigerung, sich mit dem Leben jener auseinanderzusetzen, denen es durch unsere Privilegien schlecht geht. Denn wenn wir uns damit auseinandersetzten, müssten wir unsere Privilegien fahren lassen. Alles ist mit allem verbunden. Die, denen wir es schlecht ergehen lassen, formen unser Land mit. Gerade wird Europa weniger von den Europäern, als von jenen geformt, denen wir den Tod an Europas Grenzen verordnen. So wie Amerika geformt wurde und wird von den Schwarzen, die es diskriminiert. Man kann die Situation anderer Menschen niemals beurteilen. Ich habe keine Ahnung, was es heißt, auf einem Schlauchboot von Afrika nach Italien zu fahren, oder ein fünfzehnjähriges Mädchen zu sein, das von ihren Nachbarn und Mitschülern angespuckt wird, weil sie keine nach Hautfarbe getrennte Schule, sondern eine für alle Kinder besuchen möchte. Ich habe keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn die eigene Familie vor den eigenen Augen massakriert wird. Aber viele von denen, die in Deutschland stranden, wissen sehr genau, wie sich das anfühlt. Jenny Erpenbeck gibt Menschen eine Stimme und eine Geschichte, die hier oft nur bürokratische Manövriermasse sind. Richard beobachtet und kommentiert das Ganze, trocken und präzise. Wenn mich dieses Buch eines gelehrt hat, nein, es hat mich vieles gelehrt, aber eines ragt heraus: Erlaube Dir kein Urteil über jemand anderen. Du hast keine Ahnung! Konzentriere dich auf die wichtigen Fragen. Habe die Geduld, mit ihnen zu sein. Warte auf die Antworten. Für mich ist Gehen Ging Gegangen ein perfektes Leseerlebnis gewesen. Denn Jenny Erpenbeck schafft es, aktuelle politische und gesellschaftliche Geschehnisse in eine spannende und nicht konstruierte, sehr intelligente Geschichte zu verpacken. Das stand 2015 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Ich hätte mich gefreut, wenn sie ihn gewonnen hätte. Natürlich ist dieser Richard wie so eine ideale Gestalt, aber auch das hat mir am Buch gefallen: dass es ein wenig träumt. Abgesehen davon kenne ich so viele Menschen, die seit dem Beginn der Flüchtlingskrise ihr Leben verändert haben, gar nicht so anders als Richard, dass ich die Geschichte nicht als unrealistisch empfinden kann. (c) Susanne Becker

Lesen Sie weiter

Immer noch müssen Menschen aus ihrem Heimatland fliehen. Oft kommen sie nach Deutschland, in den Medien wird breit davon berichtet. Wir alle haben eine vage Vorstellung (soweit das überhaupt möglich ist) davon, wie es diesen Menschen auf ihrer Flucht ergangen ist und nun in Deutschland ergeht. Schnell werden Meinungen gebildet, ohne vielleicht jemals persönlichen Kontakt zu Geflüchteten aufgenommen zu haben. Dass aber genau diese Beschäftigung mit den konkreten Menschen und deren Schicksalen gewinnbringender ist als reiner Medienkonsum, erfährt auch Richard, der Protagonist in Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen (Knaus Verlag) – ein neuer Beitrag in unserer Reihe Fluchtliteratur. Richard ist ein emeritierter Professor für Alte Sprachen, der am Rand von Berlin wohnt. Sozialisiert wurde er in der DDR, die Wende geistert immer noch in seinem Kopf herum. Seine Frau ist vor fünf Jahren verstorben, Kinder hat er keine. Frisch aus dem Unidienst entlassen, hat Richard nun alle Zeit der Welt. Diese zu füllen, fällt ihm allerdings schwer. Seine Aufgabe, Studierende zu unterrichten, fällt nun weg. Er fühlt sich nutzlos und langweilt sich. Als er eines Tages rein zufällig das Camp der Geflüchteten auf dem Oranienplatz sieht, wird er hellhörig und beginnt, sich für die Lage der jungen Männer aus Afrika zu interessieren. Eigentlich ist es kaum zu glauben, dass ein Akademiker vorher so gut wie gar nichts von der Geflüchtetenthematik mitbekommen hat. Anscheinend hatte Richard zuvor nur Augen für sein Fach. Naja. Richard recherchiert nun also und besucht die Geflüchteten, nachdem der Oranienplatz geräumt wurde, in ihrer neuen Notunterkunft, einem alten Altersheim ganz in der Nähe von Richards Haus. Der ehemalige Professor interviewt die Männer einzeln, hört sich ihre Geschichten an und freundet sich schließlich mit mehreren der Afrikaner an. Mit einigen feiert er sogar zusammen Weihnachten. Die Schicksale der einzelnen Männer gehen wirklich unter die Haut, sowohl deren Vorgeschichten als auch die schrecklichen Erzählungen von den Bootsüberfahrten von Nordafrika nach Italien. Hinzu kommen die Probleme der Geflüchteten in Deutschland. Awad, der in Ghana geboren wurde und vor seiner Flucht bei seinem Vater in Libyen wohnte, ist einer der von Richard befragten Männer: "Der Krieg zerstört alles, sagt Awad: die Familie, die Freunde, den Ort, an dem man gelebt hat, die Arbeit, den Alltag. Wenn man ein Fremder wird, sagt Awad, hat man keine Wahl mehr." Richard hört sich alles an und setzt das Gehörte immer wieder in Verbindung zur Auflösung der DDR. Wie für die Geflüchteten, die in Deutschland ankommen, war auch für die Bewohner*innen der neuen Bundesländer von heute auf morgen alles anders und oft fremd. Ich mochte diesen Vergleich in seinem Grundgedanken sehr gern beim Lesen, im Nachhinein wird er mir allerdings zu oft herangezogen. Sicherlich ist das Gefühl der Fremdheit vergleichbar und es gab auch zahlreiche Geflüchtete, die illegal von Ost nach West umgesiedelt sind. In Gehen, ging, gegangen scheint es mir aber so, als hätte Richard die Wende noch immer nicht verkraftet und würde die Geflüchteten als eine Art Therapieform benutzen, um intensiver über seine eigene Vergangenheit nachdenken zu können. Hier liegt für mich ein Manko des Romans. "Und dann sitzt Awad einen Moment lang einfach nur da, ohne etwas zu sagen, und blickt auf das unechte Holzfurnier auf der Tischplatte. Auch dieser Tisch stand vielleicht 25 Jahre zuvor in einem Büro der Volkssolidarität oder im Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft […]." Richard startet seine Recherchen sehr vorurteilsbehaftet und kann sich durch persönlichen Kontakt immer mehr in die Geflüchteten hineinversetzen. Hier macht er eine vorbildhafte Entwicklung durch, er baut Vorurteile ab und schafft Vertrauen zu dem ihm Fremden. "Und auch jetzt war so ein Moment, in dem er [Richard] sich daran erinnerte, dass der Blick eines Menschen ebensogut war wie der eines andern. Im Sehen gab es kein Recht und kein Unrecht." Bei allem Interesse für die Geflüchteten bleibt Richard dabei oft bei sich. Es geht immer wieder um die Bewältigung seiner Vergangenheit, seien es die Wende, seine Eheprobleme oder der Tod seiner Frau. Wir haben es hier mit einer privilegierten, weißen Helferperspektive zu tun. Mir hat sich beim Lesen die Frage gestellt, ob es überhaupt möglich ist, ganz uneigennützig zu helfen. Oder helfen wir auch immer, um uns selbst besser zu fühlen? Oder auch um uns selbst herauszufordern? Um uns selbst weiterzuentwickeln? Wo hören die eigenen Bedürfnisse auf, wo fangen die des hilfebedürftigen Menschen an? In diesem Sinne könnte Richards Egozentrik auch als Anspielung auf diese Fragen gelesen werden. Trotz einiger Irritationen habe ich Gehen, ging, gegangen sehr gern gelesen, nicht zuletzt auch aufgrund der klaren und durchdachten Sprache, die mich durch den Roman gezogen hat. Dies war mein erstes Buch von Erpenbeck, aber schon allein aus diesem Grund bestimmt nicht das letzte. Die Autorin schafft es, die derzeitige Situation der Geflüchteten einzufangen, reale Ereignisse aufzugreifen und diese dann in eine fiktive Rahmenhandlung zu stellen. Dabei spielt sie vor allem mit Vorurteilen gegenüber Geflüchteten, wie sie wohl in vielen Köpfen umherspuken. Der Roman bringt diese voreiligen Schlüsse zur Sprache und löst sie nach und nach auf, ohne dabei unglaubwürdig zu wirken. Die Darstellung dieses Denkprozesses, veranschaulicht in der Figur Richard, ist für mich die große Stärke des Romans. Gehen, ging, gegangen ist ein hochaktueller und wichtiger Roman, der uns zeigt, wie wichtig es ist, sowohl bei der Geflüchtetenthematik als auch in anderen zwischenmenschlichen Situationen, nicht vorschnell zu urteilen, sondern sich dem Gegenüber, sei er*sie auch noch so fremd, anzunähern.

Lesen Sie weiter

Image 1 of 1 Nun könnte man meinen, es ginge in dem Roman um Deutschunterricht, um Konjugationen, sicherlich am Rande ,aber eigentlich sind die Unterrichtsstunden im Heim und in einer Volkshochschule im Hintergrund präsent und Richard , ein berenteter Professor, hatte sich darin auch versucht , einen ehrenamtlichen Konversationskurs zu geben , aber eigentlich geht es um Umzüge, Aufenthaltsstatus und Demos und auch um ein Grundstück in Afrika und natürlich im Flüchtlinge. Es ist aber auch die Geschichte von einem See auf dessen Boden eine Leiche liegt , direkt vor Richards Haus und die Geschichte von zwei weniger wichtigen Einbrüchen und den Kampf einer Gruppe von Afrikanern um ihren Platz in Berlin. Zunächst vom Oranienplatz geräumt und in ein Heim gesteckt noch im Innenstadtbereich und dann nach mehreren Verzögerungen wegen Windpockengefahr nach Spandau verlegt, begleitet Richard die Gruppe mit seinen Besuchen und Fragen und bringt sich mit seiner Unterstützung selbstverständlich und immer privater ein. Richard ist von da ab stark beschäftigt , obwohl er nicht vereinsamt ist, und sorgt dafür ,dass auch andere für die Flüchtlinge aktiv werden, die ihm Stück für Stück aus ihrem Leben und von ihrem Weg von Afrika über Italien nach Deutschland erzählen. Der Professor vergisst dabei beinahe seinen Seneca und fühlt sich aber dann manchmal den Flüchtlingen seltsam nahe, gerade auch wegen seines Faches der Altphilologie, die ja auch eigentlich internationaler ist, als es manchen erscheinen mag. Jenny Erpenbeck beschreibt Richard einfühlsam und so, dass auch sein Zustand klarer wird, sein Altern , seine Veränderungen nach dem Tod seiner Frau und wie der Platz neben ihm immer noch unbesetzt geblieben ist. Ein ungemein emotionaler Roman, geschrieben lebendig , manchmal stockend und kurz angebunden und überraschend genau und verstehend. Nun ist der Roman bereits im letzten Jahr erschienen und alle wissen , dass inzwischen noch viel mehr Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, aber trotzdem ist der Roman auch bei veränderter Situation wichtig, zumal es sich um hervorragende Literatur handelt und nicht nur um eine aufrüttelnde Reportage . Das Thema an sich hat noch an Brisanz zugenommen und die allgemeine Problematik ist noch sichtbarer geworden . Das Leid der Flüchtlinge ist dabei gleich geblieben. Jenny Erpenbeck wurde 1967 in Berlin geboren , veröffentlichte ihre erste Novelle 1999, dann folgten mehrere Romane und dazu dann auch Schriftstellerpreise Joseph-breitbach preis und 2015 den Independent Foreign Fiction Prize. Bild : Knaus-Verlag Image 1 of 1 Nun könnte man meinen, es ginge in dem Roman um Deutschunterricht, um Konjugationen, sicherlich am Rande ,aber eigentlich sind die Unterrichtsstunden im Heim und in einer Volkshochschule im Hintergrund präsent und Richard , ein berenteter Professor, hatte sich darin auch versucht , einen ehrenamtlichen Konversationskurs zu geben , aber eigentlich geht es um Umzüge, Aufenthaltsstatus und Demos und auch um ein Grundstück in Afrika und natürlich im Flüchtlinge. Es ist aber auch die Geschichte von einem See auf dessen Boden eine Leiche liegt , direkt vor Richards Haus und die Geschichte von zwei weniger wichtigen Einbrüchen und den Kampf einer Gruppe von Afrikanern um ihren Platz in Berlin. Zunächst vom Oranienplatz geräumt und in ein Heim gesteckt noch im Innenstadtbereich und dann nach mehreren Verzögerungen wegen Windpockengefahr nach Spandau verlegt, begleitet Richard die Gruppe mit seinen Besuchen und Fragen und bringt sich mit seiner Unterstützung selbstverständlich und immer privater ein. Richard ist von da ab stark beschäftigt , obwohl er nicht vereinsamt ist, und sorgt dafür ,dass auch andere für die Flüchtlinge aktiv werden, die ihm Stück für Stück aus ihrem Leben und von ihrem Weg von Afrika über Italien nach Deutschland erzählen. Der Professor vergisst dabei beinahe seinen Seneca und fühlt sich aber dann manchmal den Flüchtlingen seltsam nahe, gerade auch wegen seines Faches der Altphilologie, die ja auch eigentlich internationaler ist, als es manchen erscheinen mag. Jenny Erpenbeck beschreibt Richard einfühlsam und so, dass auch sein Zustand klarer wird, sein Altern , seine Veränderungen nach dem Tod seiner Frau und wie der Platz neben ihm immer noch unbesetzt geblieben ist. Ein ungemein emotionaler Roman, geschrieben lebendig , manchmal stockend und kurz angebunden und überraschend genau und verstehend. Nun ist der Roman bereits im letzten Jahr erschienen und alle wissen , dass inzwischen noch viel mehr Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, aber trotzdem ist der Roman auch bei veränderter Situation wichtig, zumal es sich um hervorragende Literatur handelt und nicht nur um eine aufrüttelnde Reportage . Das Thema an sich hat noch an Brisanz zugenommen und die allgemeine Problematik ist noch sichtbarer geworden . Das Leid der Flüchtlinge ist dabei gleich geblieben. Jenny Erpenbeck wurde 1967 in Berlin geboren , veröffentlichte ihre erste Novelle 1999, dann folgten mehrere Romane und dazu dann auch Schriftstellerpreise Joseph-breitbach preis und 2015 den Independent Foreign Fiction Prize. Bild : Knaus-Verlag

Lesen Sie weiter

Richard ist ein emeritierter Professor. Seine Universitätskarriere liegt hinter ihm, seine Frau ist bereits gestorben, Kinder hat er keine. Was tun mit all der Zeit? Als er eines Tages auf dem Oranienplatz Asylsuchenden begegnet, macht er diese zu seinem neuen Projekt. Er fragt sie, was sie dazu veranlasst hat, in Deutschland Asyl zu suchen. Und bekommt ergreifende Geschichten erzählt. „Gehen, ging, gegangen“ ist ein Roman, der die Schicksale einzelner Flüchtlinge zu seinem Inhalt macht, außerdem den Irrsinn von Dublin II aufzeigt und den Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit vor Augen führt. Bruchstückhaft erzählen die Flüchtlinge, von dem Grauen, das sie erlebt haben. Dabei verändert sich Richards Sichtweise auf sein eigenes Leben – und auf die Welt, wie er sie kennt. „Wie oft wohl muss einer das, was er weiß, noch einmal lernen, wieder und wieder entdecken, wie viele Verkleidungen abreißen, bis er die Dinge wirklich versteht bis auf die Knochen? Reicht überhaupt eine Lebenszeit dafür aus? Seine – oder die eines anderen?“ S. 177 Jenny Erpendecks Schreibstil ist außergewöhnlich. Manche Sätze sind kurz und abgehackt, andere verschachtelt, außerdem arbeitet sie mit vielen Wiederholungen. Dadurch übermittelt sie viel Gefühl und fasst viele tiefgehende Gedanken in Worte – aber eindrucksvolle Szenen lesen sich auch stellenweise langweilig und das Lesen erfordert Konzentration. Ab der Mitte des Buches zieht sich die Geschichte zudem ein wenig in die Länge. Aber was mich am meisten gestört hat: Auch wenn sich Richard sehr samariterhaft den Flüchtlingen gegenüber verhält, fand ich sein Verhalten Frauen gegenüber nahezu sexistisch. Deswegen habe ich den Protagonisten eher kritisch beäugt. Trotzdem: Erpenbecks Roman ist ein wichtiger Roman in unserer Zeit, der besonders den afrikanischen Flüchtlingen eine Stimme gibt. Bewertung: 4 von 5 Sternen Empfehlenswert für: Wer sich für Asylpolitik und Flüchtlingsschicksale interessiert sowie für die Zustände in afrikanischen Ländern Handlungsorte: Berlin, Die erzählerischen Rückblenden spielen in mehreren afrikanischen Staaten, z.B. Ghana und Libyen

Lesen Sie weiter

Warum flieht man aus Nordafrika und riskiert sein Leben? Wie erträgt man danach Europas Kälte? Jenny Erpenbecks Roman "Gehen, ging, gegangen" gibt Antworten und ist eine Kur für Unbedarfte und besorgte Bürger. Gehen, ging, gegangen schaffte es 2015 bis auf die Shortlist für den Preis der Frankfurter Buchmesse. In der Regel gibt es um die Kandidatenliste eine Saison lang rege Debatten, danach wird es um sie still. Nicht still wird es um das unappetitliche Gemisch aus Fremdenfeindlichkeit und Hass, das rechte Populisten und Parteien zur Zeit in Deutschland schüren. Aus diesem Anlass sei an Erpenbecks Roman erinnert, der über die Saison hinaus Bestand haben soll. Um Flüchtlinge geht es, um Fluchtgründe und Nordafrika, das Berliner Protestcamp und was draus geworden ist. Der Text referiert eine Fülle von Material, arbeitet es um in Literatur. Es ist die fiktionale Form, die Hetzern und Verhetzten den toxischen Begriff von der "Lügenpresse" aus dem Mund nimmt. Immun gegen ihr Leugnen ist der Roman, der nichts anderes als seine Fiktionalität behauptet und den Diskurs auf dem Feld der Literatur führt. Immun ist er als Geschichte auch gegen die Empathieschwäche jener Großstatistiker, die sich – auch so ein Brandsatz – "nicht von Kinderaugen erpressen" lassen wollen. Erpenbecks Protagonist wirft für seine Sache den ganzen Habitus eines erfahrenen Akademikers in die Waagschale: Richard, Professor für alte Sprachen, verwitwet und frisch pensioniert, steht an einem Scheidepunkt seines Lebens. Er richtet sich, des beruflichen Alltags beraubt, in dürftiger Routine ein und ihm ist klar, dass das nicht reicht. Beinahe zufällig gerät er in das Umfeld des Refugee-Camps auf dem Berliner Oranienplatz und in Kontakt mit den Flüchtlingen, die dort ausgeharrt hatten. Von Anfang an sind es die Betroffenen, nicht Dritte, die zu ihm sprechen. Richard, der, in der DDR sozialisiert, immer noch mit seiner Rolle als Mittelschichts-Bundesbürger fremdelt, wird ein surrealistisch naiver Blick mitgegeben, der lupenartig auf alles fällt, was mit den Flüchtlingen zu tun hat. Konsequent werden seine Kontaktpersonen so als Individuen aufgebaut, inklusive aller Unsicherheiten und Missverständnisse, die durch die mehrsprachig unvollständige Kommunikation entstehen. Der bald zum Helfer gewordene Beobachter hilft bei Behördenkommunikation und Arztgängen, lädt einige der Männer in sein Haus ein und lernt sie kennen. Im Zuge der Ereignisse begreift man den Nervenkrieg, den ein Leben ohne sicheres Bleiberecht in Europa bedeutet. Am Ende erfahren einige der Männer die vorübergehende Duldung und kommen in Richards Haus und bei seinen Freunden unter. Ihr weiteres Schicksal – es gibt kein Happy End, wenn man durch die halbe Welt geflohen ist – bleibt offen. Sicher ist nur die nachhaltige Entwurzelung der Geflohenen, der auch das zwangsläufig vorübergehende Atemschöpfen unter Richards Dach nicht wirklich abhilft. Literarisch stark in ihren kürzeren Texten, setzt Erpenbeck mit ihrem Protagonisten eine einzelne wahrnehmende Instanz zum Vermitteln des Geschehens ein. Virtuos gelang ihr das bereits früher, zum Beispiel 2005 in Wörterbuch. Dort lässt sie den Spross einer Diktaturen-Elite aus der Position scheinbar äußerster Unschuld Mechanismen der Unterdrückung schildern. In Gehen, ging, gegangen wird man durch diesen pädagogischen Impetus auf immerhin 350 Seiten etwas überdeutlich an die Hand genommen. Nicht immer kauft man dem gestandenen Wissenschaftsveteran ab, tatsächlich so unbeleckt und ohne Vorbehalt zu sein. Es hilft nichts: Man muss mit Richard durch einen Plot in einfacher Sprache und neben einer gewissen Rührseligkeit ist dieses konsequente Sich-dumm-Stellen eine Schwäche des Textes. Dem subjektiven Eindruck mag man entgegnen, dass der Roman ein breites Publikum erreichen will und sich nicht intellektuell eitel spreizt. Etwas weniger kitschverdächtiger Dekor hätte an mancher Stelle aber auch gereicht. Erpenbecks lakonische Poesie entfaltet sich trotzdem auch in Gehen, ging, gegangen, in Tableaus und starken Bildern, in dem offenen Ende, das die Ereignisse auf eine überzeitliche Ebene stellt. Der in den Medien sichtbare Flüchtlingsdiskurs blitzt exemplarisch immer wieder auf, in vom Protagonisten gelesenen Medien oder in Gesprächen. Diese Quellen werden von Richard, so naiv ist er dann nämlich nicht, subtil kommentiert und kritisch bewertet. Dabei sagt er wenig, sondern lässt die Ignoranz sich selbst entlarven, zum Beispiel, wenn seine Freunde aus dem Italienurlaub Fotos von sich prostituierenden Flüchtlingsfrauen mitbringen und diese plaudernd als Exotismus neben die üblichen Sehenswürdigkeiten stellen. In fabelartigen Episoden werden Lebenshintergründe der Flüchtlinge sichtbar. Sie mischen sich ansatzlos mit Betrachtungen über die Last unausgefüllter Zeit (in einem zerrütteten Land ebenso wie in einer deutschen Notunterkunft), über unsere chauvinistische Trennung von westlicher und restlicher Welt, über den Kulturverlust, den Verjagte und Verstoßene erleben und der sich durch Anfängerdeutschkurse nicht im Ansatz heilen lässt. Aus der Heimat gegangen sind die Männer, die Richard kennenlernt, in Bewegung bleiben sie nun zwangsweise. Sie werden herumgereicht zwischen Zuständigkeiten der Länder, von denen keins sie wirklich aufnehmen will. Sie sind gelähmt durch Europas vorsätzlich widersprüchliche Gesetze und mundtot gemacht durch die fehlende Kenntnis der sich verschließenden Sprachen. Erpenbeck setzt an dieser Stelle an und leiht denen im Limbus wirkungsvoll ihre verdichtende, literarische Stimme. Und so dämmert es nicht nur Erzähler Richard in einem Tableau, in dem die Autorin Kolonialrassismus und dessen Opfer mit ihren oralen Kulturen pointiert kollidieren lässt: "…noch nie ist ihm der Zusammenhang zwischen Raum, Zeit und Dichtung so klar gewesen wie in diesem Moment." Etwa in der Mitte des Textes gibt es einen Bruch, nach aller Annäherung von außen ist es nun einer der Geflohenen, aus dessen Perspektive ein Besuch des "älteren Herrn" erzählt wird. Erst nach dieser Verschiebung formuliert der Erzähler seine Erkenntnis vom zyklischen Austausch der Menschen und Kulturen: "Tausende von Jahren dauert die Bewegung der Menschen über die Kontinente schon an, und niemals hat es Stillstand gegeben. Es gab Handel, Kriege, Vertreibungen […], es gab Verfall, Verwandlung, Wiederaufbau und Siedler, es gab bessere oder schlechtere Wege, aber niemals Stillstand." Unwillkürlich denkt man hier an Sebalds Ringe des Saturn und das Bild vom erbarmungslos fortrasenden Planeten, auf dem beständig Menschen schlafend niederfallen. Ebenfalls an Sebald erinnert Richards Gedanke, dass die von den Nazis ermordeten Menschen "Deutschland als Geister noch immer bewohnen, all die Fehlenden und auch deren ungeborene Kinder und Kindeskinder", Richard sieht sie "unsichtbar in den Cafés, […] Parks und Theater". An die sebaldsche Kunst des Streifens durch eigene und fremde Erinnerungen reicht das alles bei weitem nicht heran. Doch auch ohne diesen Anspruch funktioniert der Plot ausgezeichnet. Fazit: Vielleicht nicht Erpenbecks stärkster Text, ist Gehen, ging, gegangen über die Halbwertzeit der Buchpreisnominierung hinaus von Wert. Seine Emphase ist nicht immer Ersatz für intellektuelle Schärfe, über die die Autorin sehr wohl verfügt. Auf der anderen Seite präsentiert der Text viele Details zur Situation der Geflohenen in Europa, die anders kaum zu fassen sind. Bestürzend unfair, stellt man fest, ist der Umgang mit den Protestierenden vom Oranienplatz, ungerecht auch das juristische Gemauschel um die zwischen Erstaufnahmeland und Deutschland Zwangspendelnden. Beispielgebend ist der im Buch beschriebene Umgang mit den denen, die im fremden Europa davon abhängen, dass ihnen eine Hand gereicht wird. Nicht jeder wird es nach der Lektüre dem Protagonisten gleichtun und sich mit Flüchtlingen vor Ort befreunden. Von Fremdenhass und Ignoranz Verheerte erreicht Gehen, ging, gegangen sicher nicht. Vielen Besorgten und Unsicheren aber täte die Lektüre dieses Romans gut, der ein Verständnis für die Menschen fordert, die aus Zeit und Kultur gefallen, in Turnhallen und Zelten auf nichts mehr als ein Leben warten. Britta Peters Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen. Roman. Knaus, 2015. 19,99 €, E-Buch 15,99 €.

Lesen Sie weiter

In ihrem neuen Roman “Gehen, ging, gegangen” arbeitet Jenny Erpenbeck die Besetzung des Berliner Oranienplatzes durch eine Gruppe afrikanischer Flüchtlinge literarisch auf. Sie tut dies indem sie der Leserin einen Vermittler zur Seite stellt, der als Brücke zwischen der durchschnittsdeutschen Alltagswirklichkeit und der Lebenswelt eines Flüchtlings fungiert. So fängt die Geschichte damit an, dass der leidenschaftliche Ostberliner Richard, seines Zeichens Universitätsprofessor in beiden Systemen, in Rente geht und beschließt in all der freien Zeit, die er nun hat, Haus und Garten in Ordnung zu bringen. Seit dem Tod seiner Frau ist einiges liegen geblieben, doch so einfach kann sich der immer noch rüstige Neu-Rentner nicht aufrappeln. Immer wieder schweift sein Blick zum See an dem sein Haus liegt, denn dort ist vor kurzem ein Mann ertrunken. Eigentlich spielt diese Tragödie keine wirkliche Rolle im weiteren Verlauf des Romans. Doch sie stellt den Stein des Anstoßes dar, den Tritt der Richard aus seinem Haus am Rande Berlins in die Innenstadt befördert, wo er auch am Oranienplatz vorbei kommt. Zunächst übersieht er sie, wie sie dort sitzen, eine Fülle fremder Sprachen sprechen und doch keinem der anwesenden Polizisten sagen können oder wollen, wer sie sind und woher sie kommen. Bald jedoch wird Richard ihrer Gewahr und es zieht ihn erst zum Oranienplatz, wo die Flüchtlinge mit der Zeit eine Zeltstadt aufgebaut haben, und dann in ein ehemaliges Altersheim, in dem die Stadt Berlin die Männer kurzfristig untergebracht hat, bis geklärt ist, wer überhaupt für sie zuständig ist. Richard besucht sie, einen nach dem anderen – auch wenn ihn die Wachleute und Betreuer bald schon für ein bisschen verrückt halten. Denn sein Engagement scheint ein Einzelfall innerhalb der deutschen Bevölkerung zu sein. Jenny Erpenbeck ist in ihrer Schilderung der Beweggründe des afrikanischen Durchschnittsflüchtlings sehr großzügig und wohlmeinend. Die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge, die sich aus im Grunde friedlichen aber bettelarmen Staaten nach Europa durchkämpfen, in der Hoffnung dort Arbeit zu finden und die Familie daheim unterstützen zu können, gibt es in “Gehen, ging, gegangen” nicht, was meiner Meinung nach eine grobe Vereinfachung des Themas darstellt. Die von der Autorin entworfenen Portraits der jungen Männer sind vielfältig und feinfühlig. Fast alle kamen sie über Italien, fast alle müssen sie dorthin zurück, so zumindest fordert es das Gesetz. Selbst als eher kritische Leserin entwickelte ich im Laufe der Lektüre Empathie für die Situation der Orianienplatzflüchtlinge, wenn nicht sogar Verständnis für ihr Verhalten. Das persönliche Engagement von Hauptfigur Richard, das in manch einem Fall bald schon das Fundament einer tiefen Freundschaft legt, dient der Leserin dabei als roter Faden, der sich durch das Buch spinnt, die Lebensgeschichten der Flüchtlinge miteinander verbindet, die verschiedenen Figuren und Aspekte der Erzählung zusammen hält und sie zu einem in sich stimmigen Ganzen macht. Der Erzählstil von Autorin Jenny Erpenbeck ist dabei schnörkellos und derart eingängig, trotz des oft schwer verdaulichen und innerlich aufwühlenden Themas, man könnte ihn fast schon unauffällig nennen. Jedenfalls tritt Jenny Erpenbeck sprachlich innerhalb der Erzählung einen Schritt zurück und überlässt die eigentliche Bühne den Flüchtlingsschicksalen und Hauptfigur Richards Gedanken dazu, bzw. seinen Integrationsversuchen, ob es sich dabei nun um Klavierunterricht, etwas Gartenarbeit oder einen Platz zum Schlafen handelt. Insgesamt ist “Gehen, ging, gegangen” ein gut durchdachter, dabei aber auch sehr kopflastiger Roman zu einem Thema, das uns alle etwas angeht. Jenny Erpenbeck macht ihrer Leserin den Kopf auf für die oft verzweifelte und dabei aber leider auch hoffnungslos komplizierte Situation afrikanischer Flüchtlinge, für deren Geschichten und Zukunftsträume, wenn sie sich diese nach der gefährlichen Reise, italienischer Obdachlosigkeit und dem Tauziehen um europäische Zuständigkeiten denn noch bewahrt haben. Gleichzeitig zeichnet Jenny Erpenbeck ein realistisches, wenn auch oft frustrierendes, Bild europäischer Asylrechtsbürokratie. “Gehen, ging, gegangen” ist somit ein ernstes Buch, das seine Leserin zu Empathie anregt, dabei aber auch immer wieder anheimelnde Momente hervorbringt und demnach nie zu trist oder gar zu trocken wird.

Lesen Sie weiter

Im Oktober beschloss unser “Buchclub”, dass wir doch auch mal was von der Shortlist für den Deutschen Buchpreis lesen könnten. Die Wahl fiel schnell auf Jenny Erpenbecks “Gehen, ging, gegangen”. Ehrlich gesagt hatte ich wenig Lust darauf. Irgendwie hat es sich in meinem Kopf verankert, dass Bücher, die Buchpreise kriegen oder auch nur dafür nominiert sind, in der Regel sperrig sind, vielleicht alles klein geschrieben ist oder man zwei Texte parallel lesen muss. Ich habe so kaum Zeit zum Lesen, da muss ich mich nicht noch mit Texten herumschlagen. Doch welche Überraschung! Jenny Erpenbecks Roman liest sich ganz fantastisch und die Geschichte nimmt einen sofort gefangen. Es ist die Art, wie sich Richard, der emeritierte Professor mit der Situation der afrikanischen Flüchtlinge vom Oranienplatz auseinandersetzt. Er hinterfragt, er hört zu, er zeigt Einfühlungsvermögen, ohne ins Mitleid zu verfallen. Die Schicksale der Flüchtlinge sind dramatisch, jedes für sich – in der Summe zeigen sie, dass in unserer einen Welt etwas nicht richtig läuft. Für Richard ändert sich vieles, nicht nur bekommt sein Alltag einen neuen Sinn, auch seine Gedanken gehen neue Wege, Dinge bekommen neues Gewicht oder verlieren an Bedeutung. Mit klaren Worten, oft eindringlich erzählt Jenny Erpenbeck von der Situation junger Flüchtlinge in Deutschland, von Dublin II und seinen Folgen, von Grausamkeit und von Menschlichkeit. Dabei spielt sie oft mit Sprache, gerade im richtigen Maß, ohne dabei das Erzählen zu vergessen. Indem sie Richard im Osten Berlins wohnen lässt, als jemand, für den sich durch die “Wende” auch vieles im Leben geändert hat, schon einmal alles in Frage gestellt wurde, zeigt sie auf, dass auch bei uns in Deutschland manchmal schneller einschneidende Veränderungen passieren können, die unser eigenes Dasein auf den Prüfstand stellen. Während ich das Buch las, habe ich bei Facebook gelesen, wie “Gehen, ging, gegangen” mit den Worten “ein Roman, dessen fiktive Handlung von der Realität eingeholt worden ist” vorgestellt wurde. Dem kann ich nicht ganz zustimmen. Meiner Meinung nach hat hier vielmehr die Realität die Vorlage für den Roman gestellt. Jenny Erpenbeck hat für ihren Tatsachenroman viele Interviews mit den Flüchtlingen vom Oranienplatz geführt, sich mit ihrer Situation, ihren Ängsten und Hoffnungen auseinander gesetzt. Obwohl es sich um eine fiktive Geschichte handelt, ist man so nah an der Realität, dass man durchaus vergessen kann, das sich nicht alles genau so zugetragen hat. Mich hat das Buch sehr beeindruckt, in seiner Intensität, mit seiner wohlgesetzten Sprache, aber auch durch die vielen Gedankenanstöße. Wie oft hat man sich selbst an Stelle des Professors gesehen und sich gefragt: “Ja, was weiß ich eigentlich?” Ein Zitat, das bestens beschreibt, wie es mir mit diesem Buch erging, möchte ich abschließend noch anführen: “Vieles von dem, was Richard an diesem Novembertag, einige Wochen nach seiner Emeritierung, liest, hat er beinahe sein ganzes Leben über gewusst, aber erst heute, durch den kleinen Anteil an Wissen, der ihm nun zufliegt, mischt sich wieder alles anders und neu.” (Seite 177) © Tintenelfe

Lesen Sie weiter

In den Medien erfährt Richard von den Flüchtlingen, die über das Mittelmeer kommen. Er hört von Asylanten, die in seiner Heimatstadt Berlin für eine bessere Behandlung protestieren. Er fragt sich, wer diese Menschen sind, die aus Ländern stammen, von denen er weder die Hauptstadt nennen kann noch wo genau die sich auf dem afrikanischen Kontinent befinden. Um Antworten zu finden auf seine Fragen macht er das für ihn einzig sinnvolle: er sucht sie auf um sie zu befragen. Und so lernen er und wir als Leser einige der jungen Männer kennen, die nach ihrer langen Flucht in Berlin gelandet sind. Täglich hören oder lesen wir von den vielen Menschen, die im Mittelmeer ertrinken. Von dem nicht abreißenden Strom derer, die vor Krieg und willkürlicher Gewalt fliehen, die Freunde und Familie zurücklassen oder verloren haben und in Europa, in Deutschland, Sicherheit und eine stabile Zukunft suchen. Die abstrakten Zahlen, die auf uns niedergehen, lassen viele abstumpfen, man gewöhnt sich daran. Jenny Erpenbeck gelingt es mit ihrem Buch, diese Distanz zu überbrücken. Sie beschreibt die Grausamkeiten, die viele der Flüchtlinge erlebt haben, die Wege, die Tausenden das Leben kosten und die Ungewissheit, wann und wo es für sie eine neue Existenz geben kann. Sie entlarvt aber auch die abstruse Logik derer, die die Grenzen dichtmachen wollen und ihre Hilfe verweigern. „Führt der Frieden, den sich die Menschheit zu allen Zeiten herbeigesehnt hat und der nun in so wenigen Gegenden der Welt bisher verwirklicht ist, denn nur dazu, dass er mit Zufluchtsuchenden nicht geteilt, sondern so aggressiv verteidigt wird, dass er beinahe schon selbst wie Krieg aussieht?" (Seite 298) Die allermeisten Orte in Deutschland werden Flüchtlinge aufnehmen, und ich bin erleichtert, dass sich auch in meiner Umgebung eine positive Willkommenskultur durchgesetzt hat. Es muss eine große Erleichterung sein für jemanden, der in einem fremden Land mit fremder Sprache ankommt, wenn er freundlich empfangen wird und ihm geholfen wird. So viel Menschlichkeit sollte eigentlich selbstverständlich sein. Die jungen Männer dürfen nicht arbeiten und sie dürfen nicht reisen. Die Bürokratie und die Gesetzgebung der EU verdammen sie zum Nichtstun. Ich bekomme durch das Buch ein Gespür dafür, dass die Politik der Situation nicht gewachsen ist. Eine effektive Lösung ist in nächster Zeit wohl leider auch nicht zu erwarten. Hut ab vor all den Menschen und Organisationen, die hier einspringen und die Hilfebedürftigen auch durch den Paragraphenwald lotsen. Richard lebt in Ostberlin, und so wurde er nach dem Fall der Mauer vom „Ossi" zum „Wessi". Ich finde es sehr bemerkenswert, wie die Autorin Richards Leben und damit auch die deutsche Geschichte mit in das Geschehen einbindet. Er weiß, dass die Gesellschaft sich immer wieder verändert. Daher steht er den Fremden völlig aufgeschlossen gegenüber. In einer sehr nüchternen Art betrachtet er, wie mit den Asylsuchenden umgegangen wird. [Persönliches Fazit] Für mich ist das Buch ein großer Wurf. Mit einer kräftigen Sprache und ohne Pathos bringt mich Jenny Erpenbeck ganz nah ran an das Schicksal der afrikanischen Flüchtlinge. Mit Wortwitz und Ironie ist es ein Plädoyer für Menschlichkeit und Toleranz und ist dabei politisch und gesellschaftlich kritisch. Trotz komplexer Zusammenhänge ist es wunderbar klar zu lesen. Völlig zu Recht ist es auf der Shortlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises zu finden. © Rezension: 2015, Marcus Kufner

Lesen Sie weiter

Wir stellen nicht sicher, dass Rezensent*innen, welche unsere Produkte auf dieser Website bewerten, unsere Produkte auch tatsächlich gekauft/gelesen haben.