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Rezension zu
Magnet

Kraft der Dinge

Von: Constanze Matthes
09.07.2018

Wir sind umgeben von kleinen und großen Dingen. Materiellen Dingen, die man anfassen kann, die auch zerbrechlich sind. Wenn ich mich gerade umsehe, in dem Raum, in dem ich gerade sitze, erblicke ich im Fenster eine formschöne Vase aus grünem Glas, einen Teelichtständer, kleine Katzen- und Eulenfiguren einer Sammlung im Anfangsstadium. Bewusst nimmt man solche Dinge wohl nur in den seltensten Fällen wahr. Für den Fotografen Jokum Jokumsen waren sie indes die Motive, die ihn haben berühmt werden lassen. Dieser Roman mit dem Titel „Magnet“ des norwegischen Schriftstellers Lars Saabye Christensen hat mit einem Umfang von knapp 1000 Seiten Backstein-Charakter und er passt schwerlich in eine zierliche Damenhandtasche. Aber um in jenem Fall die Angst vor dicken Büchern zu nehmen – er ist die Zeit, die er in Anspruch nimmt und die man mit ihm verbringt, mehr als wert. Mehr noch: Jede Seite an diesem Werk ist ein Schatz und lohnt sich zu lesen. Dabei ist die Geschichte recht schnell erzählt: Jokum, Student der Literaturwissenschaften und mit über zwei Metern Körpergröße hoch aufragend, wohnt mit drei anderen Studenten in einer Wohngemeinschaft in Osloer Studenviertel; darunter auch Synne, die sich der Kunstgeschichte widmet. Jokum himmelt seine Mitbewohnerin an, bis aus dieser heimlichen Liebe in Gedanken eine reale Beziehung entsteht. Ob da jener Magnet, den sein Vater ihm einst geschenkt hat, eine Rolle spielt? Wer weiß. Sie werden jedenfalls ein Paar, und Synne ist es auch, die seine Leidenschaft für das Fotografieren wieder entfacht, als sie ihm eine Leica schenkt. Denn ein Motiv zu einem bestimmten Zeitpunkt mit der Kamera und Licht festzuhalten, hat Jokum schon in der Jugend fasziniert. Zusammen verlassen sie Norwegen. Sie setzen ihr Studium in Kopenhagen fort, wo sich Jokum ernsthaft mit der Fotografie beschäftigt und sich darin auch ausbilden lässt. Ihre gemeinsamen Wege führen sie schließlich nach San Francisco, wo Jokums Karriere als weltbekannter Fotograf ihren Anfang nimmt. Er zeigt in der Ausstellung einer Galerie einige seiner Fotografien, auf denen kleine Dinge zu sehen sind. Mit bahnbrechendem Erfolg. Weitere Ausstellungen sowie lobende Besprechungen folgen. Er wird schließlich in die legendäre Sammlung des Museum of Modern Art New York aufgenommen, soll zudem einen Pavillon auf der renommierten Biennale in Venedig mit seinen Werken füllen. Doch nahezu jedes Leben hat nicht nur Sonnenseiten, auch Schatten gehört dazu; so wie in der Beziehung zwischen Jokum und Synne, die nicht immer harmonisch erscheint. Denn Synne ist nicht nur Ehefrau, sondern auch Kuratorin. Sie treibt ihren Mann förmlich an, der sich indes nicht unbedingt als Künstler sieht, sondern als ein eher geruhsamer Sammler und Finder. Christensen verschmilzt in seinem Roman heitere, ja komische Szenen mit Passagen voller Melancholie, ausgelöst durch Verkuste und tragische Ereignisse sowie die im Fall Jokums enge und herzliche, im Fall von Synne indes kühle und schwierige Beziehung zu den Eltern. Große Fragen an das Leben, die Jokum und der Erzähler des Buches stellen, prägen den Roman. Zeit und Vergänglichkeit, die Einsamkeit und Stille der kleinen Dinge, Liebe und Leid sind Themen, die in großartigen weil weisen Gedanken, die sich an vielen Stellen des Romans finden, der sich dadurch reich mit bunten Postits zieren lässt. Der Erzähler ist dabei kein Geringerer als ein späterer WG-Mitbewohner von Jokum und Synne, der an einen Roman über dieses junge Paar und seine Erlebnisse schreibt, der just auch den Namen „Magnet“ hat, so dass der Christensen wunderbar mit der Rolle des Autors und des Schreibens spielt; durchaus auch selbstreflexiv, wird an einer Stelle doch von der nicht-linearen Struktur gesprochen, jener Struktur, die es zulässt, dass der Leser zwischen den Zeiten, den Jahrzehnten springt. Im Verlauf der Handlung, die sich von den 70er-Jahren bis in die Jahre nach der Jahrtausendwende erstreckt, kreuzen sich mehrfach die Wege der WG-Bewohner, zu denen auch Bengt, Kommunist und später Berater, sowie der Musiker Arvik zählen. Dabei webt Christensen auch immer wieder geschickt reale Personen und Ereignisse in das Geschehen ein: Auf einem Konzert von Leonard Cohen kommen sich Jokum und Synne näher. Tom Waits will ein Bild von Jokum für das Cover eines neuen Albums. Geradezu omnipräsent: der dänische Karikaturist und Komiker Robert Storm Petersen, kurz Storm P. genannt, der mehrfach erwähnt wird. Auch die Literatur spielt eine nicht unwesentliche Rolle, vor allem Franz Kafkas „Der Prozess“ ist ein Werk, mit dem sich der Fotograf intensiv beschäftigt. „Magnet“ ist ein sehr auf die beiden Helden und ihr nahes Personenumfeld fixierter Roman, der während der Lektüre gerade magnetisch, um mit dem Titel des Buches zu spielen, auf den Leser wirkt, will man es doch einfach nicht aus den Händen legen. Weil es nicht nur unzählige nachdankenswerte Passagen enthält, sondern jeden ansprechen kann: Er ist ein Muss für Fotografen, da viele Gedanken sich mit der Rolle der Fotografie und des Fotografen beschäften, er bietet aber auch den passenden Lesestoff für Freunde des Entwicklungsromans. „Magnet“ ist ein Buch, das einen ungemein bereichert und berührt, und stünde, wäre es von einem bekannten amerikanischen Schriftsteller verfasst worden, wohl schon längst auf der Bestsellerliste. Lars Saabye Christensen, der mich mit seinen Werken bereits über Jahre seit seinem Roman „Yesterday“ begleitet, hat sich in die Riege großer Autoren geschrieben – nicht nur jenen seines Heimatlandes. Es wird Zeit, dass die Literatur des skandinavischen Landes endlich die Beachtung findet, die sie verdient.

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