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Rezension zu
Magnet

Vom Glück einen 1000-Seiter zu lesen ...

Von: Marina Büttner
25.05.2018

Lars Saabye Christensens neuer Roman hat 950 Seiten. Keine davon ist verzichtbar. Ihn zu lesen bedeutet Eintauchen, die Zeit vergessen, obgleich der norwegische Autor vor allem über die Zeit schreibt. Anhand des Hauptprotagonisten, der Fotograf ist, lässt sich das besonders gut aufzeigen. Fotografieren ist Zeit stoppen, festhalten, der Moment der Vergangenheit, der hernach beim Betrachten in der Gegenwart geschieht, die Erinnerung daran, die womöglich ganz anders war. Überhaupt erfahre ich hier viel über Fotografie, eine Faszination, die auch den gesamten Roman mit trägt. Jokum Jokumsen, 22 Jahre alt und Student der Literaturwissenschaft, misst über 2 Meter. Dass er mit dieser Größe geschlagen ist, macht ihm immer wieder zu schaffen. Erst als seine Zimmernachbarin im Studentenwohnheim, Synne, zwei Jahre älter, Kunstgeschichte studierend, ihm erzählt, dass er Giacomettis „Der Schreitende“ ähnelt, den sie sehr mag, ist er eine Weile damit versöhnt. Denn er ist verliebt in Synne. Das ist der Anfang. Wir sind im Oslo der 70er Jahre. Christensen weiß diese Zeit atmosphärisch dicht darzustellen: Jokum, der sich mit Kafkas „Prozeß“ herumschlägt, Jazz statt Rock mag und unter seiner Größe leidet, auch körperlich, die Proportionen stimmen nicht. Nebenan die schöne Synne, die heimlich im Wohnheim den Hamster Hubert hält. Tatsächlich kommen die beiden im ersten Teil des Buches zusammen. Was mich wirklich irritiert, ist, dass dieses Paar imgrunde überhaupt nicht zueinander passt und trotzdem lange miteinander lebt. Jokum ist der Träumer, der Kreative, der begabte Fotograf, der Synne abgöttisch liebt, ja, der sich von ihr bevormunden lässt, bis mir als Leserin, die Wut hochsteigt auf diese Frau. Ist es womöglich wirklich so, dass einer in einer Beziehung immer mehr liebt? Von Synne gibt es jedenfalls kaum Zeichen der Liebe, eher starke Launenhaftigkeit gepaart mit Sarkasmus. Sympathisch ist sie mir als Leserin nicht. Blickt man auf ihr chaotisches Elternhaus zurück, kommt vielleicht etwas Verständnis auf. Jokum hingegen kommt aus einem intakten Elternhaus. Sein Vater kommt ursprünglich aus Dänemark und schwärmt für den Karikaturisten Storm P., der im Roman immer wieder auftauchen wird, ebenso wie der Magnet, der auch vom Vater kommt. Zeitsprung/Ortswechsel: Nach einem kurzen Zwischenspiel in Dänemark, leben die beiden nun in San Francisco, sind verheiratet. Synne schreibt ihre Doktorarbeit, Jokum fotografiert Dinge. Synne hat ein ganz anders Tempo als Jokum. Sie treibt ihn an, verhilft ihm zur ersten Ausstellung und sagt ihm, was zu tun ist, legt ihm die Worte für Interviews vor und er macht alles mit. Sie ist letztlich eher seine Managerin als seine Frau und führt ihn zum Erfolg. Doch ist das noch er selbst? „Er hatte Dinge verschoben. Er hatte sie zurechtgelegt. Das Foto vom Zimmer des Matrosen war nicht echt. Das machte Jokum zu dem Künstler, der er nicht sein wollte. Er wollte nur einer sein, der zufällig an einem Punkt vorbeikam, wo etwas ist. Und aus dem, was ist, sollten die Bilder entstehen und durch sie bestehen.“ Die Jahre vergehen. Jokum wird berühmt, gibt Interviews, sogar für das heimische norwegische Fernsehen. Das MOMA kauft Fotos an und man lädt ihn ein zur Biennale in Venedig. Doch Jokum wird das alles mehr und mehr zuviel. Er hört auf mit dem Fotografieren. Nachdem ein Fotozyklus über Synnes Schwangerschaft ausgestellt wird, sie das Kind aber verlieren, entsteht eine immer tiefere Kluft zwischen beiden, es kommt zur Trennung. Einmal noch sehen sie sich, als Synne sehr krank wird … „Es müsste eine Probezeit geben für alle, die sich verändern wollten. Man sollte eine Frist bekommen, den Entschluss wieder rückgängig machen zu dürfen, wenn es einem nicht gefiel, wie man geworden war.“ In den letzten Kapiteln geht es etwas verwirrend zu und doch durchdringt man letztlich die feinen Gewebe der verschlungenen Lebenswege des Paares. Und immer bleibt alles in Bewegung, wenn man es nicht fotografisch festhält. Denn Erinnerungen trügen und jeder hat seine eigenen… „Ließ das Alter womöglich alles zur Komödie werden? Sollte das, was in der Jugend als Tragödie dastand, mit den Jahren einer Farce ähneln?“ Zwischendurch gibt es Kapitel, die aus gänzlich anderer Perspektive berichten, und zwar zunächst aus einem Heim? einer Anstalt? einer Klinik?, genau weiß man es noch nicht. Dort erzählt einer, der Jokum und Synne aus Studentenzeiten in Oslo kannte, und der offenbar dem Schreiben vollkommen verfallen ist. (Es ist gleichzeitig die Erzählerstimme). Er arbeitete endlose Jahre an seinem ersten Roman und ausgerechnet am Erstverkaufstag mit geplanter Release-Lesung bohren sich zwei Flugzeuge in New York in die Twin-Towers … Christensen hat auch mit Magnet ein wunderbares Stück Literatur erschaffen, mit viel Witz und philosophischer Tiefe. So, wie ich es bereits vom lange zuvor erschienenen Roman „Der Halbbruder“ kenne. Der Autor ist ein König der Metaphern und ein Künstler der Konstruktion: Sprache und Inhalt als gelungene Komposition. Die Figuren sind lebendig beschrieben und besitzen alle eine gewisse Skurrilität. Man merkt an der Sprache auch, dass Christensen Lyriker ist. Warum der Roman Magnet heißt? Das ist Jokums Geheimnis … Magnetisches Leuchten!

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