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Rezension zu
Wege, die sich kreuzen

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Tragische Familiensaga im Norden Finnlands

Von: Buchfundbüro
10.05.2018

Vor der Kulisse der nordfinnischen Provinz entwirft Tommi Kinnunen in seinem Debüt eine tragische, das gesamte 20. Jahrhundert umspannende Familiensaga. Über mehrere Generationen hinweg erzählt Wege, die sich kreuzen dabei aus wechselnden Perspektiven von großen und kleinen Sehnsüchten, vom Kampf gegen gesellschaftliche Zwänge und einem düsteren Geheimnis.  Kinnunens Geschichte beginnt im Jahr 1895. Im Mittelpunkt des Romans steht zunächst die junge Hebamme Maria, die bei ihrer Arbeit nicht nur immer wieder mit den eigenwilligen Vorstellungen und Traditionen der Landbevölkerung konfrontiert wird. Hautnah muss sich auch miterleben, unter welch schwierigen – zum Teil lebensbedrohlichen – Bedingungen die Frauen in der finnischen Provinz ihre Kinder zur Welt bringen. Starke Nerven verlangt Kinnunen dabei nicht nur seiner Protagonistin, sondern auch seinen Lesern ab: Den Alltag der Geburtshelferin schildert der Autor so ohne jeglichen Hang zur Romantisierung – und in all seinen zuweilen grausamen Details. Als Frau von ungewöhnlicher Gelassenheit und Willenskraft erweist sich Maria dabei jedoch nicht nur in beruflicher Hinsicht. In einer Zeit, in der bereits fahrradfahrende Frauen für Aufsehen sorgen, gerät sie mit ihrem unabhängigen Lebensstil immer wieder in Konflikt mit den vorherrschenden gesellschaftlichen Konventionen. Doch während die alleinerziehende Mutter von ihrem Umfeld argwöhnisch beäugt wird, ist Maria selbst mit ihrem emanzipierten Lebensentwurf und insbesondere ihrer Entscheidung für ein Leben ohne Ehemann durchaus glücklich. Anders hingegen ergeht es ihrer Tochter Lahja, auf die sich der zweite Teil des Romans konzentriert. Auch Lahja bekommt in jungen Jahren eine uneheliche Tochter. Doch im Gegensatz zur Mutter, sehnt sie sich insgeheim nach einer traditionellen Familie. Als sie den charmanten Onni kennenlernt, scheint sich dieser Wunsch zu erfüllen: Lahja und Onni heiraten und bekommen zwei weitere gemeinsame Kinder. Auch Lahjas Erstgeborene behandelt Onni wie seine eigene Tochter – keine Selbstverständlichkeit im Finnland der 1930er Jahre. Doch die vermeintliche Idylle währt nicht lange. Im Zuge des Zweiten Weltkriegs ordnet die Regierung die Zwangsevakuierung ihres Heimatdorfs an, Hals über Kopf muss die Familie ihr Haus verlassen. Nach ihrer Rückkehr ist von ihrem früheren Zuhause – das einst mit viel Energie und Hingabe von Mutter Maria ausgebaut wurde – nur noch ein Haufen Asche übrig. Es folgen beschwerliche Monate, in denen Lahja mit Mutter, Ehemann und Kindern auf engstem Raum in improvisierten Erdhütten ausharrt, während Onni wie besessen an der Fertigstellung ihres zukünftigen Heims arbeitet. Doch die Größe und Schönheit des Hauses kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass zwischen den Eheleuten ein tiefer, unsichtbarer Graben liegt, der sich kaum mehr überwinden lässt. Immer weiter scheint sich Onni von seiner Frau zu entfernen, die auf seinen emotionalen Rückzug ihrerseits mit Verzweiflung und Wut reagiert. Wie Fremde leben die Familienmitglieder in den folgenden Jahren unter einem Dach.  Lahja und Onni schlafen in getrennten Zimmern, die Mutter kann das Erdgeschoss aufgrund ihres Alters bald nicht mehr verlassen. "So hatten sie alle in ihren Zimmern hinter geschlossenen Türen gelebt und waren einander aus dem Weg gegangen. [...] Zuletzt saß jeder auf seiner eigenen Bettkante, horchte auf die vorsichtigen Bewegungen der anderen und wartete darauf, dass jemand zu Besuch käme. [...] Doch nie schaute jemand vorbei, und nie fragte jemand, denn sie alle waren Gefangene der zugeschobenen, aber schlosslosen Türen."  Zum regelrechten Gefängnis wird das Haus  sehr viel später, zu Beginn der 1960er Jahre, auch für Kaarina, Lahjas Schwiegertochter. Jeder Schritt Kaarinas wird hier vom strengen Blick Lahjas überwacht, kaum ein Tag vergeht, an dem Kaarina von ihrer Schwiegermutter nicht auf die eine oder andere Art drangsaliert wird. Von den alltäglichen, oft wortlosen Kämpfen zwischen den Frauen – in denen selbst der Kauf eines Kühlschranks zum Akt der Rebellion wird – berichtet der dritte Teil des Romans. Eindrücklich schildert Kinnunen dabei die beklemmende Atmosphäre, die nun den Alltag im Mehrgenerationenhaushalt bestimmt. Wie ein böser Geist wandelt die inzwischen betagte Lahja hier durch das Haus, wobei alle Fröhlichkeit und Unbeschwertheit aus dem Zimmer zu weichen scheint, sobald sie es betritt. Was die einst ebenso selbstbewusste wie eigensinnige Lahja dabei auf so tragische Weise in einen verbitterten Schatten ihrer selbst verwandelt hat, soll schließlich der vierte und letzte Teil des Romans offenbaren, der sich mit Onni dem einzigen männlichen Protagonisten zuwendet. Nach und nach enthüllt Kinnunen hier nun das gesamte Ausmaß der Familientragödie, von der die vorausgegangenen Kapitel nur bruchstückhaft und in Andeutungen erzählten. So überlässt der Autor am Ende seines Romans jener Figur das letzte Wort, über die innerhalb der Familie jahrzehntelang geschwiegen wurde. Zwar stellt das ,große Geheimnis', das hier enthüllt wird, für den Leser dabei letztlich keine allzu große Überraschung mehr dar, ließen sich die Ursachen für Onnis Zerrissenheit doch längst erahnen. Dennoch entwickelt Kinnunens Roman mit den Einblicken in die Gedanken- und Gefühlswelt des Mannes, der so gerne "ein ordentlicher Ehemann und guter Vater sein" möchte, dem es aber trotz aller Mühen nie gelingen wird, diese Rolle auszufüllen, noch einmal eine ganz eigene Art der Spannung. Das Spiel mit den Perspektiven, bei dem die einzelnen Figuren immer wieder im neuen Licht erscheinen, macht dabei den besonderen Reiz des Romans aus. Als ambivalent konstruierter Charakter erweist sich hier vor allem Lahja, die innerhalb der tragischen Familienkonstellation in der  Doppelrolle von Opfer und Täterin zugleich auftritt. Am Ende liest sich "Wege, die sich kreuzen" nicht nur als eine tragische Familiengeschichte über Einsamkeit, Verrat und Scham, sondern vor allem auch als Protokoll einer Eskalation. Welche zerstörerische Kraft im Laufe der Jahre dabei aus den enttäuschten Sehnsüchten und unerfüllten Hoffnungen seiner Protagonisten erwächst, lässt Kinnunen seine Leser aus nächster Nähe miterleben. Indem er das Augenmerk dabei nicht zuletzt immer wieder auch auf das soziale Umfeld und seinen jeweiligen Vorstellungen von Normalität lenkt, zeigt der Roman dabei eindrücklich auch auf, welchen Anteil gesellschaftliche Zwänge und Konventionen am individuellen Scheitern seiner Figuren tragen.

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