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Rezension zu
Der weite Raum der Zeit

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Rezension: Jeanette Winterson, Der weite Raum der Zeit

Von: Tina / Kill Monotony
24.04.2017

Manchmal ist es egal, dass es irgendeine Zeit gab vor dieser Zeit. Manchmal ist es egal, ob Nacht ist oder Tag oder jetzt oder damals. Manchmal ist das, wo du bist, genug. Es ist nicht so, dass die Zeit stehen bleibt oder nie begonnen hat. Das hier ist Zeit. Du bist hier. Dieser erhaschte Moment, der in ein Leben mündet. Jeanette Winterson erzählt im Zuge des Hogarth Shakespeare Projekts „Das Wintermärchen“ von Shakespeare neu. Das Original habe ich nicht gelesen, aber Winterson macht es einem leicht und fügt vor ihrer Neuerzählung noch eine knappe Zusammenfassung der Geschehnisse des Originals bei. Und dann geht es auch schon spannend los: Shep und sein Sohn Clo werden Zeuge eines Überfalls auf einen alten Mann, der scheinbar verfolgt wurde und von zwei Männern brutal zusammengeschlagen wird. Diesen Überfall vorausahnend, hat der Mann einige Augenblicke vorher ein Baby samt Aktenkoffer in der naheliegenden Babyklappe deponiert, mit der Absicht, es später wieder zu holen. Doch so weit kommt es leider nicht. Der Mann stirbt am Ort des Überfalls und kurzerhand birgt Shep das Baby sowie den Aktenkoffer aus der Babyklappe, nicht ahnend, dass es dabei noch zu einigen Verstrickungen kommen wird. Zu einem früheren Zeitpunkt in England lässt der paranoide Leo Überwachungskameras in das Schlafzimmer seiner schwangeren Frau MiMi einbauen, denn er hat sie im Verdacht, eine Affäre mit seinem besten und ältesten (und schwulen) Freund Xeno zu haben. Als das Baby später zur Welt kommt, verfällt Leo in eine wilde Raserei, tötet Xeno beinahe und entreißt MiMi in einem durchgeplanten Akt dann das Baby, um es von seinem Angestellten Tony in die USA zu Xenos Anwesen zu bringen, da er der Meinung ist, ebendieser sollte sich gefälligst um sein Kind kümmern. Das Baby schafft es jedoch nie zu Xeno, und hier treffen sich die beiden Erzählstränge. Der weitere Teil der Geschichte spielt 16 Jahre später und das Baby, zur 16-Jährigen Perdita herangewachsen, beginnt Fragen zu ihrer Herkunft zu stellen. Sie lernt über Umwege den jungen Zel kennen, der zufälligerweise der Sohn Xenos ist, und gemeinsam machen die beiden sich auf den Weg nach England, um ihren Vater ausfindig zu machen. In der Woche nach seiner Geburt kamen wir nicht aus dem Bett. Wir schiefen und aßen, das Baby zwischen uns. Die ganze Woche mussten wir ihn immerzu anschauen. Wir hatten ihn gemacht. Ohne Qualifikationen oder Fortbildungen, ohne College-Diplome oder Fortschungsdollars hatten wir einen Menschen gemacht. Was ist das für eine verrückte, unbekümmerte Welt, in der wir Menschen machen können? Winterson erzählt hier in einer wahnsinnig tollen, leichten und aktuellen Sprache das „Wintermärchen“ neu. Da ich das Original nicht gelesen habe, war dies für mich eine komplett neue Geschichte. So verwirrend die Namensgebung anfangs doch war, so spannend war es doch, die Handlung zu verfolgen, vom Überfall auf Tony bis hin zur Familien-Reunion (mehr dazu später). Unglaublich witzige und wortgewandte Dialoge haben mir viel Freude beim Lesen bereitet, unter anderem wurde die Geschichte des Ödipus, neu frisiert, erzählt. Auch die zahlreichen Anspielungen auf Shakespeare oder „Das Wintermärchen“ fand ich richtig gelungen! 🙂 Die Charaktere waren ausreichend ausgefleischt, wenn teilweise auch etwas übertrieben dargestellt, zum Beispiel der doch sehr wahnsinnige Leo oder das gerissene Schlitzohr Autolycus. Vergebung ist ein Wort wie Tiger: Es gibt Bilder von ihm, und seine Existenz ist eindeutig bewiesen, doch nur wenige von uns haben wirklich aus der Nähe Bekanntschaft mit diesem wilden Tier gemacht. Insgesamt fand ich die Geschichte sehr gut, Winterson hat ihre Neuinterpretation hervorragend erzählt, jedoch fand ich die letzten Kapitel, in denen es um die Familienzusammenkunft ging, etwas übereilt. Ich weiß nicht, wie es im Original gehandhabt wurde, aber alle waren meiner Meinung nach viel zu schnell „heile Familie“ und haben sich ziemlich schnell zusammengerauft, was angesichts Leos und Perditas Beziehung zueinander doch sehr ungewöhnlich schien. Alles in allem war es aber ein gelungenes Spekakel und ich kann diese Shakespeare-Neuerzählung eigentlich nur jedem ans Herz legen, der ein bisschen Spannung, viel Witz und eine tolle Schreibe schätzt! 🙂

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