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Rezension zu
Odyssee

Der schweifende Blick

Von: Stephanie Jaeckel
11.03.2017

Zugegeben: Das Buch liegt seit Wochen, Monaten auf meinem Nachttisch. Aber es ist auch nicht irgendein Buch. Es ist eine Art Reiselektüre unserer Zivilisation. Generationen vor uns haben den Geschichten, die es beherbergt, gelauscht – ja, es ist wie die Märchenbücher, die alten Sagen und Lieder, die Bibel – eine Vorlesebuch. Und wer es genauer nimmt, ein Gesangsbuch. Weltliteratur allemal, aber mehr noch, ein Menschheitsbuch, das uns nicht nur zeigt, wie die Welt früher war, sondern was den Menschen seit jeher ausmacht, von allen „Fortschritten“ mal abgesehen. Es ist ein Zauberspiegel, ein Wegweiser (für Freund/innen der Abschweifung), ein unermesslicher Steinbruch des Erzählens. Es ist exotisch und vertraut zugleich, es ist die Heldengeschichte par excellence mit mindestens zwei Helden: Odysseus UND Penelope. Es ist auch eine Geschichte der Naturgewalten. Ein Buch der Meere. In 24 Kapiteln für jede Stunde des Tages eines: Die Odyssee. Nein. Ich werde keine Inhaltsangabe geben. Ich kann auch keine Stilanalyse leisten, keine vergnüglichen neuen Lesarten anbieten, keine Zusammenfassung geben. Ich kann dieses Buch nur preisen (und es ist dieses altmodische Wort, das so gut passt): Dieser Text ist die Blaupause für alles, was seither geschrieben – oder eher noch – erzählt wurde. Wer auf eine Insel ginge, wäre mit dem Buch – zumal es jetzt bei penguin/Manesse als Taschenbuch aufgelegt wurde – bestens ausgestattet. Man kann es in einem Rutsch lesen, aber man kann es auch in homöopathischen Dosen geniessen, Satz für Satz. Um dann auch gleich mit dem ersten zu beginnen. Wer Literatur-Ohren hat, mag es hören: Hier hebt etwas an. Wir krachen nicht ins Geschehen, wir lehnen uns entspannt zurück, denn jetzt, liebe Leute, jetzt kommt etwas, und wir machen Platz im Kopf, damit wir auch alles gut und gerne hören: „Muse, erzähl mir vom Manne, dem wandlungsreichen, den es oft abtrieb vom Wege, seit Trojas heilige Burg er verheerte.“ Ein Satz zum in Marmor meißeln. Die ganze Geschichte in ein paar Worte gefasst. Und gleich schon ein Fingerzeig auf etwas, das mich bei der Lektüre aufs Höchste begeistert hat: die geradezu inflationäre Verwendung von „Beiworten“. Wir hören vom „wandlungsreichen“ Mann, dem „vielgewitzten“, „einfallsreichen“, der „vor Sehnsucht verging“ und auf dem Meer „viel Qual litt in seinem Gemüte“. Wer das Adjektiv hasst, wird hier eines viel (!) Besseren belehrt. Denn das Adjektiv kann – richtig eingesetzt – wie ein Accessoire verwendet werden in einer langen Erzählung, bei der das Personal auf vielen verschiedenen Bühneneingängen ein- und wieder abtritt. Und es ist eine große Herausforderung für erzählende oder schreibende Beobachter/innen: Denn das richtig eingesetzte Adjektiv muss sitzen. Wehe, wer sich hier in Allgemeinheiten verheddert. Eine Kostprobe? Wir lernen die „funkeläugige“ Göttin Athene kennen, die „haupthaarumwallten“ Achaier, und eine Menge „gefiederter“ Worte, die den Protagonist/innen im Laufe der Geschichte „entschlüpfen“. Die Geschichte läuft in mehreren Erzählfäden aufeinander zu und voneinander weg: Sohn und Vater bewegen sich über viele Kapitel hin aufeinander zu, während die Mutter/Ehegattin zwar am Platz bleibt, sich aber nach innen weg immer weiter entfernt. Sie spannt ein großes Gewebe, das in der Geschichte als Leichentuch für den Gatten beschrieben wird, und in das sie sich, aus Schutz vor den liebeskranken Männern, die ihr im eigenen Haus den Hof machen, immer tiefer eingräbt. Die Perspektiven, aus denen heraus die Geschichte erzählt wird, wechseln häufig. Ich habe oft gestaunt (übrigens auch etwas, was die Menschen in der Erzählung selbst oftmals und ausgiebig tun: staunen!), dass ein Buch, das lange vor der Erfindung des Films entstand (von geschrieben werden möchte man nur ungern reden…), so filmisch angelegt ist! Es wäre sicher eine Untersuchung Wert (und vielleicht ist sie auch längst schon unternommen worden), das Buch von einem Regisseur oder einer Regisseurin (Dramaturg/in) lesen und in einzelne Einstellungen zerlegen zu lassen. Und da gibt es gleich noch etwas für die Leute vom Film: Denn fast jeder Satz ist für sich ein eigenes Bild. Der Text treibt nicht nur eine lange Geschichte voran, er schafft Bilder wie ein mächtiger Filmprojektor. Kurze Schnappschüsse nur oder ganze Panoramen, wie (um nur ein winziges Beispiel zu nennen, der Satz zur Abfahrt des „klugen“ Sohnes Telemachos, um nach dem Vater zu suchen: „Und es (das Schiff) durchmaß seinen Pfad die Nacht durch und auch noch im Frühlicht.“ Wobei wir (spätestens hier) bei Kurt Steinmann sind, dem Übersetzer. Ich kann auch hier wenig Eigenes hinzusteuern. Eine Übersetzung aus dem (uralten) Griechischen übersteigt alles, was ich mir vorstellen kann. Auf meinem Taschenbuch-Exemplar klebt ein goldener Aufkleber mit einem Zitat aus der „Literarischen Welt“, dem ich mich unbedingt anschließen will: „Es gilt eine Übersetzungsleistung zu feiern, die ihresgleichen sucht.“ Oder, um es in eigenen Worten zu beschreiben: Ich mochte bislang die griechischen Mythen und Geschichten nicht (und zwar gar nicht) wegen ihrer gespreizten (Übersetzungs-)Sprache. Alles schien mir mit erhobenem Zeigefinger und ernster Miene vorgetragen und schon deshalb sterbenslangweilig. Nichts, aber auch gar nichts, überhaupt nichts und wieder nichts davon in der Übersetzung von Steinmann. Glasklar die Bilder, in leuchtenden Farben oder verschattet, stets so, wie vom Autor wohl vorgeben und in einem Rhythmus, der mich abheben lässt: Schon der Satz vom Schiff des Telemachos, das in See sticht! Denn nichts steht hier in Reihe und Glied. Nichts wird für eine leichtere Verständlichkeit abgeschliffen, aber auch nichts absichtlich in einen verästelten Satzbau gezimmert. Die Sätze kommen in einer lässigen Eleganz, fast ein bisschen so wie gerappt. Wobei wir wieder bei der Musik wären, beim Gesang, beim Lied. War Homer wirklich der blinde Sänger, der uns überliefert ist? Kann ein solcher Text von nur einem einzigen Menschen stammen? Wir wissen es nicht. Aber wir haben diesen Schatz und können ihn einen über den anderen Tag heben. Wer gerne liest oder wer noch lieber selbst schreibt, sollte die Odyssee nicht nur einmal, sondern immer wieder aufschlagen. Denn sie ist genau in diesem Sinne ein Menschheitsbuch, das alle seine Facetten erst zeigt, wenn es von so vielen Menschen wie möglich gelesen wird. Und das selbst im letzten Satz auf eine Zukunft verweist, die sich jeder Generation aufs Neue aufrollt. Homer, Odyssee, Penguin in der Verlagsgruppe Random House, München 2016. Mit einem herzlichen Dank an Penguin für das Rezensionsexemplar.

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