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Rezension zu
Höllensturz

Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, glänzend erzählt

Von: Michael Lehmann-Pape
14.10.2016

Es hätte, was die erzählerischen und sprachlichen Qualitäten Kershaw´s angeht, der Vorgabe des Verlages nicht unbedingt bedurft, Fußnoten aus dem fließendem Text des Werkes zu verbannen (nur das ausführliche Literaturverzeichnis zeigt in aller Breite auf, wo Kershaw´s Quellen und Grundlagen zu finden sind). Aber diese Vorgabe nutzt Kershaw, um einen noch erzählerischeren, kompakten, frei fließenden und sprachlich hervorragend, in Teilen fast wie einen Roman zu lesenden, Stil vorzulegen, der allein schon die Lektüre dieses Buches zu einer wahren Freude werden lässt. Zweiteilig angelegt bietet der emeritierte Historiker in diesem ersten Band die Konzentration auf die Ereignisse von 1914 bis 1949. Wobei das nicht ganz zutrifft, denn auch die großen Entwicklungslinien des 19. Jahrhunderts, die aufkommenden Unruhen, die sich zu sicher wähnenden Führer der Welt, die Probleme starker Minderheiten in Machtsphären und vieles mehr führt Kershaw an und rüstet den Leser damit bestens aus, all die Ereignisse, die folgten, in einem klaren Bezugsrahmen zu verstehen. Antisemitismus, Nationalismus, Schieflage des Kapitalismus, das Aufstreben Russlands, die Fantasien von „Weltherrschaft“ beim deutschen Kaiser (und später bei Hitler), es sind zudem auch soziale Verwerfungen, gesellschaftliche „Haltungen“ (wie gerade der Antisemitismus in Frankreich und anderen Orten der Großreiche), welche bereits den ersten Weltkrieg mitbedingten (der nicht „zufällig“ oder durch gravierende Fehlentscheidungen oder eine dumme „Nibelungentreue“ des deutschen Kaisers gegenüber Österreich entstanden ist). Und das gleiche gilt für das Werk „nach hinten heraus“. Nicht die Zäsur der Kapitulation ist für Kershaw der natürliche Abschluss dieser Jahre des Abgrundes der Zivilisation, sondern die Jahre bis 1949, bis zu einer „Neuordnung“ der Welt und einer sich klar abzeichnenden „Frontenstellung“ der Siegermächte bilden Endpunkt dieser zerstörerischen Jahre und Einstellungen und zugleich den Wendepunkt und Neustart in Europa. Vier Linien sind es, die Kershaw dabei ebenso klug wie überzeugend wie detailliert durch die chronologisch gesetzten Hauptkapitel und die darunter thematisch orientierten Unterkapitel von Beginn an setzt. Zunächst erfolgte, trotz des real wachsenden Wohlstandes und vermehrt „internationaler Beziehungen“, die Entfaltung eines ethnisch -rassistischen Nationalismus. Eine schon Ende des 19. Jahrhunderts vorliegende Strömung in Europa, die durch den unsäglichen revanchistischen Abschluss des ersten Weltkriegs aufgeputscht und „salonfähig“ wurde. Eng verzahnt mit diesem ersten Ursprung, der zum zweiten Weltkrieg eine klare Linie aufzeigt, sind erbitterte, unversöhnliche territoriale Revisionsforderungen. Aus den Trümmern alter Großreiche neue Nationen zu formen und dabei die Strömungen innerhalb starker ethnischen Minderheiten in den einzelnen Staaten kaum zu berücksichtigen. Allen voran Italien, zwar Siegermacht, aber in den Zielen territorialer Erweiterung massiv enttäuscht und damit offen für stark nationalistische Strömungen, die im Faschismus ihren (traurigen) Höhepunkt dann fanden. Dazu gesellte sich ein zweites „Doppelpaar“ von Entwicklungen. Der durch die Revolution in Russland eine Form, ein Gesicht, einen „Staat“ erhaltender Klassenkampf, verbunden mit einer langanhaltenden Krise des Kapitalismus. Zwar war die Welt vor dem ersten Weltkrieg „global“, dennoch aber hatten weite Teile der Bevölkerung Europas kaum am riesigen Warenumschlag profitiert, die „Schere“ zwischen arm und reich war enorm, was sich gerade in den Weimarer Jahren und den Wirtschafskrisen jener Zeit zu einer gefährlichen Mischung entwickelte. Mit dem Bolschewismus lag nun eine sichtbare, staatliche „Alternative“ vor Augen, welche die Klassenkämpfe auf die Straßen und in die Auseinandersetzungen der Staaten mit hineinbrachte. Dass dabei bestimmte, konkrete Kräfte, gerade das deutsche Kaiserreich, bei dieser Entwicklung eine aktive und kriegstreibende Rolle einnahm, dass hier keine „Zufälle“ oder „unglückselige Verkettung“ die Welt an den „ersten Abgrund“ führten, auch das stellt Kershaw eindeutig und mit hervorragenden Argumenten dar. Wie er ebenso den Machtaufstieg Hitlers und die Abläufe, aber auch inneren Haltungen der handelnden Personen auf dem Weg zum und im zweiten Weltkrieg auf den Punkt erläutert. Schon bei der Betrachtung dieser vier Grundlinien, auf die Kershaw immer wieder rekurriert (und die er scheinbar mühelos aus allen denkbaren Perspektiven des damaligen Europa reflektiert) und diese aufzeigt im Verlauf der Jahrzehnte, die er in den Mittelpunkt rückt, zeigt sich, dass durchaus aktuelle Bezüge nicht von der Hand zu weisen sind. Die Kershaw mit herausarbeitet und damit aus der Geschichte der Gegenwart eine deutliche Warnung zukommen lässt. Denn gerade die Ungleichheit zwischen Volk und Fürsten, Eliten sorgt für einerseits sozialen Sprengstoff (der sich im Antisemitismus u.a. ein Ventil suchte), und andererseits eine hohe Unzufriedenheit mit dem „Ist-Zustand“, der demagogische Steilvorlagen bot, die an vielen Orten gesehen und genutzt wurden. Da ergeben sich vielfache Parallelen zur Gegenwart und zu aktuell auftretenden Strömungen, die nationalistisch, teils rassistisch und von tiefem Misstrauen gegen die „Entscheider“ mehr und mehr geprägt wird. Und das in ganz Europa. Glänzend erzählt, die großen Linien aufzeigend, ohne zu versäumen, in wichtigen Fragen in die Tiefe zu gehen, ist dies ein hervorragendes, auch für interessierte Laien ohne Abstriche zu empfehlendes Buch. Das nicht den Anspruch erhebt, Geschichte ganz neu darzustellen, sondern auf dem Boden einer sehr breiten historischen Forschung eine Gesamtschau darstellt, die Hand und Fuß aufweist.

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