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Rezension zu
Die Unglückseligen

Haute Couture auf Papier

Von: Claudia Marina
16.06.2016

Als ich anfing, Thea Dorns Roman zu lesen, kam mir schon nach wenigen Seiten folgendes in den Sinn: "Wäre dieses Buch ein Kleid, wäre es Haute Couture." Schon auf den ersten Seiten war ich von ihrer Sprache, dieser so ungewöhnlichen Mischung aus den beiden Erzählerstimmen in einen merkwürdigen Bann gezogen, aus dem ich mich kaum noch entwinden konnte. Die Geschichte liest sich erst mal etwas abstrus. Denn wenn eine deutsche Wissenschaftlerin auf einen über 200 Jahre alten Ritter trifft und das Ganze vom Tod kommentiert wird, dann klingt das entweder nach totalem Bullshit - oder nach einem einmaligen Leseerlebnis. Für mich war es Letzteres. Johanna Mawet, Wissenschaftlerin - genauer gesagt, Molekularbiologin - durch und durch, hat nur ein einziges Forschungsziel - sie will die Sterblichkeit abschaffen. An diesem Ziel forscht die Molekularbiologin seit Jahren mit eiserner Verbissenheit. Bei einem Forschungsaufenthalt in den USA trifft sie auf einen merkwürdigen Mann, ziemlich abgewetzt, gleichzeitig jung und alt wirkend, der nicht nur seltsam spricht, sondern sie außerdem für den Teufel hält. Als die beiden sich näher kennenlernen, offenbart er ihr, dass er aus Deutschland stammt, Johann Wilhelm Ritter heißt, Physiker ist - und 1776 in Schlesien geboren wurde. Damit wäre er über 200 Jahre alt - und vielleicht der Schlüssel zu Johannas Forschungen. Thea Dorn lässt zwei Welten aufeinander prallen - die der modernen Wissenschaftlerin und die des Physikers aus dem 18. Jahrhundert. Abwechselnd lässt sie beide aus der jeweiligen Sicht erzählen, was sich sehr eindrucksvoll im Sprachstil ausdrückt. Ritters Sprache wirkt dabei nicht nur antiquiert, sondern ebenso authentisch, sowohl in Ausdrucksweise als auch in Weltsicht. Für Johanna hingegen wählt sie eine moderne Sprache, voller Ausdrücke aus den Bereichen Genetik und Wissenschaft. Einen größeren Kontrast könnte die Autorin so nicht schaffen. Einfaches Nebenbeilesen ist hier nicht angezeigt, ich muss ständig wach im Kopf bleiben, mal in Johannas und dann wieder in Ritters Kopf springen, ständig zwischen den beiden Perspektiven hin und her wechseln. (Wahrscheinlich habe ich deshalb auch verhältnismäßig lange gebraucht, um Die Unglückseligen zu beenden - einen ganzen Monat nämlich. Ich musste es immer wieder beiseitelegen und sacken lassen. Auch nachdem ich es beendet hatte.) Dazwischen wird das Ganze immer wieder kommentiert - ich vermute mal, vom Tod selbst, auch wenn sich der Erzähler nie namentlich vorstellt, aber wer sonst sollte sich trauen, solch eine Geschichte so kompromisslos zu kommentieren, so distanz- und respektlos. Letztendlich geht es aber um einen viel tieferen Konflikt als den zwischen Johanna und Ritter. Ist Unsterblichkeit erstrebenswert? Johanna mag das vielleicht ohne mit der Wimper zu zucken mit Ja beantworten, aber für Ritter steckt mehr dahinter, als bloß ewiges Leben. Er hat mittlerweile alle seine Freunde und Familie verloren, er sieht sich immer wieder mit dem Verlust seiner Liebsten konfrontiert und ist schlicht und einfach lebensmüde. Aber er kann nicht sterben. Im Grunde genommen sind Johanna und Ritter aber trotz aller augenscheinlicher Unterschiede gar nicht mehr so verschieden, wenn man zum Kern ihrer Persönlichkeiten vordringt. Wenn man alles Lagen aus Selbstschutz und eigenbrötlerischem Getue, aus Workaholictum und Kostümierung langsam entfernt, dann kommen zwei Menschen zum Vorschein, die sich ziemlich ähnlich sind. Beide sind einsam. Vom Leben gezeichnet. Getriebene. Und dann ist es gar nicht mehr so erstaunlich, dass sich die beiden zusammentun und immer mehr zueinander finden. Thea Dorn hat einen sprachlich anspruchsvollen und außergewöhnlichen Roman geschrieben, in dem sie zwei Welten in Hochgeschwindigkeit aufeinander prallen lässt. Es kommt, wie es kommen muss, zur Kollision - mit allen Verletzungen und Kollateralschäden, die so ein Aufprall eben mit sich bringt. Mich als Leser eingeschlossen - ich bin und bleibe schwer beeindruckt. Mein erster Eindruck blieb bis zum Schluss bestehen. Haute Couture - auf den ersten Blick meist völlig konfus nicht zueinander passend, nicht immer leicht zu begreifen - aber letztendlich hohe Kunst.

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