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Rezension zu
Schleuderfigur

Kerstin Hensel spielt in ihren neuen Gedichten "Schleuderfigur"

Von: Henning Heske
30.05.2016

"Wer an diesem Spiel teilnimmt, wird aus den gewöhnlichen Bahnen seines Lebens herausgerissen und überwältigenden Gefühlen, die aus Gesellschaftsverlust, Liebe oder Tod entstehen, unterworfen." Das klingt dramatisch. Der Satz steht auf der Rückseite des Schutzumschlags des neuen Gedichtbandes von Kerstin Hensel. Ich halte ihn für maßlos übertrieben. Das Spiel, um das es geht, ist nämlich ein Kinderspiel, das "Schleuderfigur" genannt wird und als Titel dieses Lyrikbandes auserkoren wurde. Bei diesem Spiel, das wir früher auch gespielt haben, drehen sich zwei Kinder, die sich mit überkreuzten Armen an den Händen halten, wie ein Karussell, bis der innere Spieler loslässt und den äußeren Spieler herausschleudert. Dieser bleibt dann in einer ausdrucksstarken Stellung als Figur stehen, deren Bedeutung die anderen Kinder erraten müssen. Es fällt sehr schwer, die Gedichte unter dem oben genannten Anspruch zu deuten. Genau betrachtet bezieht sich der Begriff "Schleuderfigur" auch nur auf einen der fünf Abschnitte, in die das Buch gegliedert ist. Im Titel gebenden Gedicht werden Kindheitserinnerungen heraufbeschworen: "Der Samstagabend schickt mich zum Kobold der / Kugelt über die Staatsmattscheibe Alles / Verwandelt sich // Die Samstagnacht macht sich zum Jäger Morgen / Wird mich ein anderes treffen". Die Staatsmattscheibe verweist auf das DDR-Fernsehen. Kerstin Hensel wurde 1961 in Karl-Marx-Stadt geboren und studierte am Institut für Literatur in Leipzig. In der Regel arbeitet Hensel ohne Punktsetzung, deutet jedoch eine neue Sinneinheit durch Großschreibung an. Typisch sind auch die Zeilensprünge. Lässt man das überzogene Marketing als selbst gesetzten Maßstab außer Acht, so kommt ein sehr gekonnter Lyrikband zum Vorschein, der vor allem durch seine Formenvielfalt und die Rhythmik der Gedichte besticht. Er wäre noch überzeugender, hätte Kerstin Hensel, ihres Zeichens Professorin für Deutsche Verssprache an der Hochschule für Schauspielkunst in Berlin, oder ihr Lektor auf einige einfachere Gedichte verzichtet, wie den laut Widmung eher privaten Text "Das Dorellenquartett", auch wenn dieser auf Schuberts "Forellenquintett" anspielt. Er besteht doch nur aus simplen Paarreimen und dem Wortspiel im Titel. Kostprobe: "Die Panke durchwommen / Vom Koch ausgenommen / Gefüllt und gebraten / Serviert als Doraden." Andererseits wird der relativ umfangreiche Gedichtband mit rund 100 Texten auf diese Weise mit Witz aufgelockert. Kinderspiele, -reime und -lieder bilden ein Leitmotiv, das immer wieder eingestreut auftaucht: "Der Goldfisch ruft aus der Katze / Den Schilfkolbenkönig zu Hilfe / Der reitet zu spät / Übern See übern See". Goethes Erlkönig lässt auch noch grüßen. Ein Anhang erläutert einige Begriffe und gibt Hinweise auf die Dichterkolleginnen und -kollegen, auf die sich Kerstin Hensel bezieht, wie in "Der Müggelsee", wo sie Bezug zum gleichnamigen Gedicht von Volker Braun nimmt. Mit diesem Spielbein der Intertextualität bewegt sich Hensel gelegentlich weit zurück, bis zur griechischen Dichterin Sappho, die im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung lebte. Es ist überraschend, wie viele Wie-Vergleiche Hensel verwendet, die Benn vor sechzig Jahren doch als Kennzeichen von schlechter Lyrik angeprangert hatte: "Einen Hund der kaut daran / Wie an trockenen Pansen." oder "Schön / Wie nichts im Leben". Stark dagegen ist der Einbezug der Natur durch unverbrauchte Wortspiele und poetische Abwandlungen von Redewendungen:"Moränen verladen den Sand / Und den Kies und den Schluff und nehmen sich Zeit". Auch die verwendeten Tiermotive wirken nicht antiquiert, sondern sind in diesen zeitgemäßen Gedichten geschickt eingeflochten. Doch wegen der thematischen und formalen Vielfalt bleibt Hensels Gedichtband eher ein Sammlung von neuen Texten als ein konzeptioneller Band mit moderner Lyrik, wie ihn beispielsweise kürzlich Marion Poschmann vorgelegt hat. So endet meine Lesereise mit Genius wie im Buch: "Ich schaue aus dem Fenster / Das Land ist kein Gedicht / Schon fährt mein Glück gebremster / Und nichts reimt sich auf mich." Kerstin Hensel: Schleuderfigur. Gedichte. Luchterhand Literaturverlag, München 2016. 136 Seiten, gebunden. 17,99 €

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