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Rezension zu
Zeit

Ohne Ereignisse keine Zeit

Von: stephanie jaeckel
24.04.2016

zumindest keine für den Menschen spürbare – soviel war auch schon Aristoteles klar. Auch wenn heutige Menschen im Alltag immer wieder dem Irrtum erliegen, ihre Uhr diktiere die Zeit, bleibt Zeit ein kaum zu greifendes Phänomen. Rüdiger Safranksi hat sich in seinem aktuellen 2015 erschienenen Buch der Zeit gewidmet. Augenzwinkernd – und im Hinblick auf seine zahlreichen Philosophen- und Künstlerporträts – nennt er es eine “Biografie”, die er in 10 Kapitel teilt, zum Glück, denn sonst würde man vielleicht im ausufernden Wissen des Autors untergehen. Ich habe die Audiofassung des Buches gehört, Frank Arnold liest und liest und liest. Gut fünf Stunden brauchen er und ich, um durch die Abhandlung zu kommen. Und wem wir auf dieser Tour alles begegnen! Ein Who-is-who bekannter Denker und Dichter, von denen einige, wie Blaise Pascal warnend den Finger heben und uns vor unserer Zerstreuungssucht warnen, andere unsere Verantwortung gegenüber der eigenen Lebenszeit und der aller Generationen zu Bedenken gibt wie Kant. Die Romantiker zeigen sich fasziniert von der Langeweile, Heidegger analysiert das so lästige Phänomen, Freud warnt vor dem Verdrängen von Vergangenem, Safranksi vor der psychologischen Aufarbeitung desselben, Proust zelebriert dagegen die Erinnerung. Wir selbst stehen in der Strömung der Zeit, wir entwickeln und verändern uns in ihr und behaupten uns – wenn alles gut geht – als ein und dieselbe Person. “Let’s go through this thing called live” rief uns Prince im letzten Jahrtausend zu, und es stimmt: in uns nimmt die Zeit Gestalt an. Sie wird zu Leben. Mich hat im diesem Zusammenhang der Selbstbewahrung durch die erlebten Zeiten besonders der soziale Aspekt, nun ja, überrascht, denn nur durch die Annahme, dass ich dieselbe bleiben werde, lassen mich soziale Verbindlichkeiten, aber auch Verträge oder andere Verabredungen eingehen. Nachdem sich die ersten Kapitel mit der Langeweile (hier zeigt sich die Zeit am erbarmungslosesten) befassen, der Zeit des Anfangens (und mit ihr der Erschließung neuer Welten) und der Zeit der (Selbst-)Sorge, durch die ein Individuum die Spannung zwischen Vergangenem und Zukünftigen am eigenen Körper begreift, wechselt Safranksi im 4. Kapitel die Perspektive: Nicht mehr die eigene Wahrnehmung steht im Vordergrund, sondern die – wie er es nennt – vergesellschaftete – Zeit, die “bewirtschaftete” Zeit, die naturwissenschaftlichen Thesen zur Zeit oder auch die Literatur (und insbesondere der Roman) als großes, universales Zeitenspiel der zivilisierten Menschheit. Kritisch beschreibt er den “rasenden Stillstand” unserer globalisierten Welt, jedoch nicht, um sich auf Tipps für die persönliche Zeiteinteilung zu beschränken. Indem er das ganze Panorama des Zeitgeschehens aufzeigt, öffnet er unsere Empfänglichkeit für verschiedene Zeiterfahrungen. So vergessen wir in der Hektik des Alltags gerne, dass alles seine eigene Zeit hat. Und dass wir, wenn wir klug sind, den Dingen (oder auch uns selbst ) einmal Zeit lassen, selbst vor dem unbarmherzigen Diktum, dass Zeit Geld ist. Ewigkeit, und wer Musik hört, hat diese Erfahrung vielleicht selbst schon einmal gemacht, ist keine endlose Zeit, sondern etwas ganz anderes als Zeit: die Erfülltheit im Augenblick. Der politische – und für die nächste Zukunft sicher entscheidende – Aspekt der Zeit liegt genau in dieser aufgezeigten Ungleichzeitigkeit von Zeit. Denn wo die Finanzwelt in Sekundenschnelle agiert, muss die Demokratie im Prozess der Diskussion und des Einvernehmens zu Ergebnissen kommen. Synchronisationsprobleme entstehen da zwangsläufig, TTIP ist in dieser Hinsicht ein wichtiger Wegweiser: Wird sich die Politik aus den Fängen der Ökonomie befreien können und ihre Zeit zum Maßstab machen, und könnte sich daraus auch das Selbstverständnis eines Grundeinkommens ergeben, das der Eigenzeit eines jeden Individuums Rechnung trägt? Besonders gut gefallen mir seine Beobachtungen zur Literatur, insbesondere zum Roman, den er als “Platzhalter unser transzendentalen Bedürfnisse” und als einzig bislang funktionierende “Zeitmaschine” beschreibt. Zeit, so eine weitere, mich überraschende Erkenntnis, würden wir nicht wahrnehmen, wenn wir unsterblich wären. Denn dann ginge sie uns nichts an. Dass das Zyklusdenken freundlicher ist als die Vorstellung einer linearen Zeitschiene, habe ich selbst schon herausgefunden. Mit Safranksis Bestätigung will ich mich auch weiterhin am Kreis orientieren. Dass ich, obwohl Frank Arnold stets frisch und klug liest, gelegentlich eingeschlafen bin, möchte ich nicht verschweigen. Vielleicht sind es die vielen Zitaten, die manche Zeilen füllen, indem das eine aus dem anderen schlüpft, Metaphern bildet, knackige Bilder, um dann im fabulierungsfrohen Rauschen zu verschwinden. Vielleicht ist es manchmal einfach ein bisschen viel – kürzere Kapitel mit anderer Diktion hätten vielleicht das Lesen bzw. Hören in verschiedene Rhythmen versetzt und damit selbst aus, in oder neben die Zeit gehoben. Aber das sind Kleinigkeiten, denn am Ende lässt sich ein Buch in Abschnitten lesen und ein Hörbuch wieder und wieder in den CD-Player einlegen. Leben und Lesen im Kreis. Das wusste schließlich auch schon Proust. Rüdiger Safranski: Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen. Gelesen von Frank Arnold. Random House Audio 2015.

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