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Rezension zu
89/90

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Rezension: 89/90 (Peter Richter)

Von: Aufziehvogel (Marcel)
04.10.2015

Deutschland 2015 89/90 Autor: Peter Richter Veröffentlichung: 09.03.2015 bei Luchterhand Genre: [Fingierter] Zeitzeugenbericht, Slice of Lfe, Tragikomödie "Auf der Straße roch es nach Gärten, die einen Tag voller Sonne hinter sich hatten, es war zwar erst Ende April, aber schon so warm, wie manchmal im Juli nicht, und auf den Serpentinen zur Grundstraße hinunter, wo S. schon stand und eine rauchte, eine Alte Juwel, die er mit dem Daumen und dem Zeigefinger hielt und mit dem Mittelfinger wegschnipsen würde, bevor er mir auf die Schultern haute, da wusste ich: Wenn jetzt das Leben enden müsste, dann von mir aus; besser konnte es gar nicht mehr werden. Wir würden sechszehn werden in diesem Sommer, erst S. und dann ich, und dann wäre der Spaß vorbei, da waren wir uns sicher. Dann entfiele der Kitzel, glaubten wir, die Furcht, einem Lada der Volkspolizei vor die Scheinwerfer zu geraten, wenn wir mit Wein und Whisky und Wermut aus dem Keller vom Vater auf dem Weg waren zu irgendwelchen Mädchen, in deren Zimmer wir einstiegen, weil die auch noch nicht schlafen wollten. Denn wir waren viel zu jung zum Schlafen damals, wir kamen gar nicht dazu, jedenfalls nicht in den Nächten. Dafür drückte uns dann tagsüber die Müdigkeit den Kopf auf die Schulbank." - 89/90, Peter Richter, Luchterhand Es kommt nicht häufig vor, dass ich das Titel-Zitat für meine Besprechung bereits auf Seite 1 finde. Das Buch, welches, hört man den Titel zum ersten mal, eher an eine Konfektionsgröße oder ein Preisschild denken muss. Die Bedeutung des Titels von Peter Richters Roman, einem gebürtigem Dresdner, ist aber wesentlich tiefsinniger und doch so simpel zu erklären. Mit 89/90 sind zwei entscheidende Jahre in der deutschen Geschichte gemeint, der Mauerfall und die Wiedervereinigung. Am heutigem Tage, den 03. Oktober 2015, jährt sich das Ereignis bereits zum 25. mal. Und theoretisch müsste man meinen, es gibt so viele noch immer junge Zeitzeugen, Dokumentationen, Filme und Musik über diese entscheidenden Jahre, da müsste doch mittlerweile jeder über den Fall der DDR bescheid wissen. Zurecht habe ich jedoch nicht die Literatur in meine Aufzählung mit einbezogen. Ich will nicht bestreiten, dass es keine Literatur über die letzten Jahre der DDR gibt, genau so bin ich mir sicher, es gibt umso mehr bierernste Zeitzeugenberichte aus diesen Jahren, aber gibt es auch ein vergleichbares Werk wie 89/90? 89/90 ist nicht die Geschichte von den großen Namen, die mit dem Mauerfall in Verbindung gebracht werden. Es ist auch kein langwieriger historischer Roman der noch einmal die alten Geschichten aufwärmt. Stattdessen ist 89/90 die Geschichte eines fünfzehnjährigen Teenagers, der diese Ereignisse aus seiner Sichtweise noch einmal erzählt. Und Peter Richter, der es mit seinem Roman auf die Longlist des diesjährigen deutschen Buchpreises geschafft hat, tut dies auf eine charmante weise, wie man sie in der Literatur vermutlich all die Jahre vermisst hat, was diese Thematik angeht. Autobiografisches scheint 89/90 nicht zu sein, zumindest nicht komplett. Das Alter des namenlosen Protagonisten deckt sich zwar mit dem des Autors (Peter Richter war 1988 genau fünfzehn Jahre alt), und dennoch wird man viele Inhalte in dem Buch auch mit einem Augenzwinkern sehen müssen. Da ich zur damaligen Zeit aber selber erst zwischen 2-3 Jahre alt war, werde ich gar nicht damit anfangen, irgendetwas anzuzweifeln. Aufgeteilt ist der Roman in zwei Parts. Part 1 kümmert sich um das Jahr 89, Part 2 logischerweise um das Jahr 90. Erzählt wird die Geschichte von einem namenlosen Ich-Erzähler. Und namenlos ist bereits ein gutes Stichwort, denn in bester Franz Kafka Manier bekommt jeder wichtige Charakter, der in der Geschichte vorkommt, lediglich einen Buchstaben als Name spendiert. Aufgebaut ist 89/90 als klassischer Zeitzeugenbericht inklusive Fußnoten des Ich-Erzählers. Dieser macht bereits auf den ersten Seiten klar, zukunftsorientiert waren die Gedanken von ihm und seiner Clique nicht. Man lebte für das Jetzt, für den Moment. Man ahnte zwar etwas, aber im Augenblick waren nächtliche (illegale) Besuche im Freibad wichtiger, Musik war wichtiger, und, am allerwichtigsten, und es gab nichts, was mehr Priorität verdient hatte, waren Mädchen. Da ist sich der Erzähler gemeinsam mit seinem besten Kumpel S. sehr schnell einig. Eines Abends, als mal wieder Nacktbaden im nächtlichen Freibad ansteht, lernt der Protagonist die gleichaltrige L. kennen, die überzeugte Kommunistin ist und vor hat, sobald sie das 18. Lebensjahr gefeiert hat, in die SED eintreten will. In diesem Sommer beginnt für die Clique eine Zeit des Umbruchs, und Peter Richters Protagonist erzählt in seiner Chronik, wie die Wende ein ostdeutscher Teenager erlebt hat. "Hätte man damals schon sagen können, wer dort eines Tages wem einen Baseballschläger über den Kopf hauen würde? Hätte man damals schon herumgehen könne und sagen: Du, mein Freund, wirst mal den Drogen zum Opfer fallen, und du da wirst sie ihm verkaufen; du daneben wirst mit Immobilien viel Geld verdienen, du hier wirst vorher für ihn auf den Strich gehen, du dort drüben wirst in München eine Karriere machen, während der dahinten in zwanzig Jahren Mülltonnen nach Pfandflaschen durchsucht - und du, kleiner D., wirst bald gar nicht mehr unter uns sein? Noch wussten wir nicht, wie alles kommen und was alles verschwinden würde. Noch galten bewaldete Achseln als begehrenswert, Noch wusste keiner, wie schnell sich selbst das ändern würde." - 89/90, Peter Richter, Luchterhand 89/90 haftet ein großes Stück Mono no aware an. Die Vergänglichkeit der Dinge. Das Ende der Jugendjahre, das Ende von Freundschaften, Angst vor einer ungewissen Zukunft (auch wenn man diese ständig abstreitet), Angst, dass die Mädchen aus der Nachbarschaft ihren ersten Sex mit Wessis haben werden. Das Ende einer Ära steht bevor, und während der Protagonist und S. mit dem nostalgischen M. durch ostdeutsche Lande spazieren, die mindestens genau so nostalgisch sind wie dieser ältere Herr selbst, ist den Jugendlichen dieses Ende dieser unbesorgten Zeit bewusst. Auf sehr unterhaltsame, aber auch nachdenkliche weise erzählt Peter Richter die Schicksale dieser Teenager. Resümee Um an 89/90 Gefallen zu finden, wird nicht einmal Vorausgesetzt, in dieser Zeit geboren zu sein oder sie Live miterlebt zu haben. Grundvoraussetzung ist, einmal 15 oder 16 Jahre alt gewesen zu sein. Denn diese Figuren, die man in Peter Richters Buch findet, mit denen haben wir es bestimmt selbst schon einmal zu tun gehabt. Oder, noch besser, bestimmt finden wir uns in einen von ihnen wieder. Auf eine sehr sympathische und kurzweilige art werden wir an zwei entscheidende Jahre erinnert, die uns auch in den kommenden Jahrzehnten weiter begleiten werden. Ohne in Selbstmitleid oder Patriotismus zu versinken, werden wir auf eine kleine Zeitreise mitgenommen, die endlich auch mal auf literarischer Ebene zündet. 89/90 ist ein Titel, der einen Platz auf der Shortlist des deutschen Buchpreises 2015 mehr als verdient gehabt hätte.

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