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Rezension zu
Charlotte Löwensköld

Portrait der Frau im 19. Jahrhundert

Von: Buecherbriefe
16.12.2022

Selma Lagerlöf dürfte vielen Lesern in erster Linie durch ihren Kinderbuchklassiker Nils Holgersson bekannt sein. In den letzten Jahren erfuhr ihr Werk im deutschsprachigen Raum eine kleine Renaissance, die in Charlotte Löwensköld ihren vorläufigen Höhepunkt findet. Den Ausgangspunkt unserer Erzählung bildet der junge Karl-Artur Ekenstedt, ein hoffnungslos verzogener Zögling einer reichen und adligen Familie. Unter dem Einfluss eines religiös fanatischen Freundes entschließt er sich dazu, Theologie zu studieren und wird schließlich Hilfspfarrer einer kleinen Gemeinde. Während seiner Tätigkeit macht er die Bekanntschaft mit der titelgebenden Charlotte Löwensköld, und verlobt sich letztlich auch mit ihr. Im Laufe der Zeit kommt es immer wieder zu kleineren Konflikten zwischen beiden, da Karl-Artur sich strikt weigert, Karriere in der Kirche zu machen und stattdessen ein einfaches Leben anstrebt - mit der Folge, dass er sich eine Hochzeit schlichtweg nicht leisten kann. Zum Bruch kommt es, als der reiche Bergwerksbesitzer Schlagerström Charlotte einen Heiratsantrag macht. Zwar lehnt Charlotte diesen ab, doch zwischen ihr und ihrem Verlobten kommt es daraufhin infolge zahlreicher Missverständnisse zum Streit. Karl-Artur löst schließlich die Verlobung auf und verlobt sich mit der ersten Frau, der er auf der Straße begegnet. Aus Liebe zu ihm klärt Charlotte die Hintergründe ihrer Trennung nicht auf und wird Opfer von Hass und Abscheu seitens der Gemeinde. Kann sich Charlotte aus dieser Situation befreien? Mit Charlotte Löwensköld endet das KlassikerInnen Jahr 2022 im Manesse Verlag, dass uns so manches in Vergessenheit geratene Werk beschert hat. Dass das Jahr mit einem Werk vom Selma Lagerlöf endet, hat einen gewissen Charme, handelt es sich bei ihr doch um die erste Frau, die jemals den Nobelpreis für Literatur (1909) verliehen bekommen hat. Als 1925 der hier vorliegende Roman erschien, war Selma Lagerlöf also längst unumstößlich im Literaturolymp angelangt. Zu Beachten ist, dass Charlotte Löwensköld den zweiten Teil der Löwensköld-Trilogie darstellt. Bevor sich der geneigte Leser nun abwendet, möchte ich an dieser Stellung Entwarnung geben: Dieser Band kann für sich alleine stehen und erfordert weder die vorherige Lektüre des ersten (Der Ring des Generals) noch die anschließende Lektüre des dritten Teils (Anna, das Mädchen aus Dalamar). Selma Lagerlöf nimmt sich in Charlotte Löwensköld der Rolle der Frau im frühen 19. Jahrhundert an und zeigt auf, wie sehr die wirtschaftliche Existenz und soziale Rolle einer Frau von ihrem Mann abhängig war. Schwerpunktmäßig stellt Lagerlöf diese Zusammenhänge anhand der Beziehung zwischen Charlotte und ihrem (ehemaligen) Verlobten dar, wobei sie sich nicht auf diese beiden Figuren beschränkt, sondern zwischendurch auch kleinere Nebenfiguren zu Wort kommen lässt. Schwache Hauptfigur Bedauerlich ist in meinen Augen insbesondere, dass Lagerlöf die Gelegenheit verpasst hat, mit Charlotte eine wirklich starke Frauenfigur zu etablieren. Charlotte wird durch das Verhalten ihres Verlobten Opfer von einem Phänomen, was wir heutzutage wohl am ehesten als Shitstorm bezeichnen würden. Obwohl sie selbst keine Fehler gemacht hat, trennt sich ihr Verlobter von ihr und stilisiert sich anschließend selbst zum Opfer. Seine Gemeinde liegt ihm zu Füßen und wendet sich empört gegen Charlotte. Jedoch denkt diese gar nicht daran, sich dagegen zu wehren, sondern lässt jede Schmach ungerührt über sich ergehen. Ihr Verhalten ist dabei gerade nicht die Konsequenz einer wirtschaftlichen oder sozialen Abhängigkeit. Das gerade dies nicht die Triebfeder ihres Verhaltens ist, zeigen beispielsweise ihre Szenen mit Schlagerström, in denen sie sich durch Witz, Unabhängigkeit und Selbst-Bewusstsein auszeichnet, obwohl gerade dies dort auf dem Spiel steht. Diese Szenen eignen sich jedoch nicht, um sie als starke Frau zu charakterisieren, bietet Schlagerström selbst als moderne Männerfigur wenig Angriffsfläche in dieser Hinsicht. Stattdessen bleibt es einem Mann, nämlich Karl-Artur selbst, überlassen, die ungerechte Rollenverteilung durch sein eigenes Betragen anzuprangern. Er stellt eine wohl in jeglicher Hinsicht unsympathische Figur dar. Bereits als kleiner Junge wird er von seiner Mutter verwöhnt und entwickelt sich zu einem jungen Mann, der gerne recht hat und seine Meinung allen anderen aufzwingen möchte. Dabei legt er eine Selbstgefälligkeit an den Tag, wie man sie nur selten erblickt. Kar-Artur ist eine Figur, für die die Redewendung „Wasser predigen und Wein trinken“ erfunden zu worden sein scheint: Er gefällt sich dabei in seiner Rolle als zweiter Christus, der selbst asketisch lebt und auf jegliche weltlichen Freuden verzichtet. Dass er dabei bis auf Worte nichts zu bieten hat und die anfallende Arbeit an andere abwälzt (etwa bei den zehn Waisenkindern) ist am Ende nur konsequent. Letztlich bleibt Charlotte in ihrer Beziehung zu Karl-Artur also immer in ihrer Opferrolle und übernimmt an keiner Stelle die Kontrolle. Selbiges ließe sich auch über Karl Artur Mutter sagen, die den ganzen Roman über als starke Frauenfigur beschrieben wird, nur um am Ende dann … an dieser Stelle stoppe ich meine inhaltlichen Ausführungen, um nicht zu viel vom Ende des Romans vorwegzunehmen. Summa summarum verpasst Lagerlöf es, eine starke Frauenfigur zu etablieren, wie sie die Literatur dringend nötig hätte. Andererseits kann ich natürlich nicht ausschließen, dass Lagerlöf genau darauf hinauswollte, jedenfalls konnte ich in dieser Hinsicht nichts herausfinden. Stilistisch handelt es sich um einen hervorragend komponierten und erzählten Roman, der eindrucksvoll aufzeigt, dass der Nobelpreis mehr als nur verdient war. Bezeichnend für den Roman ist, dass jedes Kapitel für sich eine kleine Sinneinheit darstellt, die sich in jeglichen Aspekten deutlich von den anderen Kapiteln unterscheiden kann. Lagerlöf wechselt dabei munter Perspektive, Ton und Tempo, ohne dabei jemals den roten Faden zu verlieren. So erinnern einige Kapitel an eine Komödie (man denke nur an Löwenskölds Kutschfahrt mit Schlagerström), während andere Abschnitte eher einer Tragödie gleichen. Teilweise begleiten wir die Figuren dabei ganz nah, in anderen Abschnitten übernimmt hingegen ein allwissender Erzähler die Führung über das Geschehen. Unabhängig davon, was man als Leser favorisiert, muss man anerkennen, dass sich Lagerlöf auf jedem Gebiet souverän bewegt und zumindest keine Langeweile aufkommen lässt. Charlotte Löwensköld hinterlässt bei mir gemischte Gefühle. Stilistisch handelt es sich um einen abwechslungsreichen Roman, der Lagerlöf klar als Meisterin ihrer Zunft auszeichnet. Inhaltlich ist der Genuss wohl davon abhängig, was man von diesem Roman erwartet. Auf der einen Seite gelingt es Lagerlöf die Rolle der Frau im 19. Jahrhundert plastisch darzustellen. Andererseits handelt es sich bei der titelgebenden Charlotte Löwensköld nicht um die starke Frauenfigur, die ich erwartet habe. Das macht die Lektüre nicht weniger lohnend, sollte aber auf jedem Fall im Hinterkopf behalten werden. Die mir vorliegende Ausgabe ist im Manesse Verlag in der legendären Bibliothek der Weltliteratur erschienen und bietet eine gewohnt hochwertige Ausstattung. Neben der obligatorischen Fadenheftung und den durchgehend hochwertigen Materialien dürfen wir uns dabei insbesondere über ein stimmiges Gesamtkonzept freuen, dass mit einem Auge fürs Detail begeistert. Ob es nun um das Zusammenspiel der verwendeten Farben, die Schriftart oder bedruckte Vorsatz- bzw Nachsatzpapier geht – hier stimmt wirklich alles. Angesichts des günstigen Preises verzeiht man es dem Verlag – gerade in diesen Zeiten – dass man mit einem Leinensurrogat statt einem richtigen Leinenumschlag vorliebnehmen muss. Die Übersetzung stammt von Paul Berf, der sich als Übersetzer zahlreicher skandinavischer Werke einen Namen gemacht hat. Neben einigen Anmerkungen finden wir im Anhang noch ein Nachwort der Schriftstellerin Mareicke Fallwickl, dass mich zwiegespalten zurücklässt. Einerseits bin ich froh, keine Überinterpretation eines Hochschullehrers lesen zu müssen, andererseits ist das Nachwort in meinen Augen ein Stück weit zu lässig und strukturlos geschrieben – aber das ist wie immer reine Geschmackssache. Fazit: Charlotte Löwensköld ist ein stilistisch starker Roman, der auch inhaltlich in weiten Teilen überzeugen kann. Leider trübt eine schwache Hauptfigur den ansonsten guten Gesamteindruck.

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